Wenn Bilder Symbole werden

Johan Holten im Gespräch mit Frank Meyer · 19.10.2012
Immer wieder gibt es Kunstwerke, die zu einem Symbol für eine bestimmte gesellschaftliche Phase werden, sagt der Kurator Johan Holten. In der Ausstellung "Bilderbedarf: Braucht Gesellschaft Kunst?" in Baden-Baden stellt er solche Werke vor. Ausgewählt hat er Arbeiten von Christo, Beuys oder Schlingensief.
Frank Meyer: Braucht die bundesdeutsche Gesellschaft Kunstwerke von Gerhard Richter, von Joseph Beuys, von Christoph Schlingensief. Und wenn ja, wie zeigt sich das, dass diese Kunst tatsächlich gebraucht wird? Darum soll es in einer neuen Ausstellung der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden gehen, heute wird diese Ausstellung eröffnet. Johan Holten ist der Direktor der Kunsthalle und jetzt in Baden-Baden für uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen, Herr Holten!

Johan Holten: Guten Tag!

Meyer: Ein Beispiel, mit dem Sie auch argumentieren: Der Künstler Christo und seine Reichstagsverhüllung im Jahr 1995 – warum hat denn die noch relativ frisch wiedervereinigte Bundesrepublik diese Kunstaktion gebraucht?

Holten: Ja, diese Frage ist vielleicht so ein bisschen schwierig zu beantworten, weil damals waren ja auch viele Experten eigentlich der Meinung, dass das eher mit der Eventkultur und war das nun überhaupt nötig, und es wurde sogar ein bisschen darauf herabgeschaut.

Ich selbst war vielleicht auch damals als junger Mann auch nicht so wahnsinnig davon begeistert, ich meine, es gibt sehr viel interessantere Kunstwerke, die irgendwie am Puls der Zeit und so weiter. Aber wenn man jetzt auch mit Publikum durch die Ausstellung oder Vorabführungen macht, stellt man fest, dass es vermutlich in diesem Land 60 Millionen Menschen gibt, die irgendwo dieses Bild in ihrem kollektiven Bildgedächtnis gespeichert haben.

Da komme ich so auf den Schluss, wenn ich sage, dass jeder, der damals zehn Jahre alt war, wird vermutlich mehr oder weniger eine Erinnerung mit diesem Bild verknüpfen. Und das ist wahnsinnig interessant, viele Kunstwerke schaffen es tatsächlich, zu so einem Symbol zu werden für einen gesellschaftspolitischen Moment, und da erübrigt sich dann eigentlich die Frage nach typischen Relevanzkriterien in Ausstellungen, Feintuning, die ästhetischen sozusagen Aussagen.

Meyer: Aber sagen Sie bitte, der Fakt, dass sich, wie Sie sagen, wahrscheinlich 60 Millionen Deutsche an dieses Bild erinnern oder dieses Bild im Kopf haben, das wird Ihnen ja noch nicht ausreichen dafür, zu sagen, diese Kunst wurde gebraucht?

Holten: Das würde dafür ausreichen, um zu behaupten, dass es in dem Moment offensichtlich einen Bedarf an Symbolen gab, die es nirgendwo sonst in der Gesellschaft waren. Es war eine Gesellschaft im Umbruch, das war eine – will so sagen – eine Republik, die sich entscheiden sollte, von Bonn nach Berlin zu ziehen. Die Reichstagsverhüllung wurde ja seit 1971 geplant oder versucht umzusetzen, und hatte aber die Konjunktur nach oben und nach unten, und wurde fast aufgegeben, kam dann wieder hoch, und der Politiker wollte das gerne und dann nicht – und plötzlich verdichtet sich irgendein gesellschaftlicher Konsens über Jahrzehnte hinweg: Ja, jetzt ist es ein historischer Moment, in dem dieses Bild oder dieser Prozess, der lange davor in einem vollkommen anderen Kontext gestartet wurde, einen Sinn ergibt, und an diesem zentralen Platz vielleicht einen vereinenden Moment, eine Symbolisierung, einen Übergangsstatus machen kann, und dann auch erlaubt. Und es gab eine Hoffnung auf ein Symbol, mit dem man diesen Moment verknüpfen konnte.

Meyer: Das ist sicherlich – Sie sagen es selbst – das Kunstereignis mit der größten Ausstrahlungskraft, rein mengenmäßig jetzt gesehen. Wenn Sie etwas daneben stellen könnten, ein Ereignis, von dem Sie sagen, das hat vielleicht eine ähnliche Bedeutung für die Geschichte von Kunst und Gesellschaft, für dieses Brauchen von Kunst in der Bundesrepublik – was kann man da danebenstellen?

Holten: Wir haben in der Ausstellung nach Bildern gesucht oder nach Werken gesucht, Symbolen, im überführten Sinne, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise in die Gesellschaft eingewirkt haben. Ein auch sehr breitenwirksames Bild – ich führte eine kleine Gruppe von deutsch-russischen Managern, die vielleicht nicht die aller-kunstaffinsten waren, obwohl aufgeschlossen, interessiert, und die gingen in einen Raum, und da lief ein Schwarzweiß-Film von einem merkwürdigen Mann mit einem Hut in einem abgeschlossenen Raum, der mit einem Kojoten zusammen da herum hockte, und drei von denen sagten sofort: Ach ja, der Joseph Beuys.

Das ist ein Phänomen, dass Joseph Beuys nicht nur ein Künstler war, der respektiert war unter Kollegen, auch gehasst war von anderen und auch von großen Zeitungen als Scharlatan abgetan wurde, aber sich so tief eingeprägt hat in das kollektive Gedächtnis und Selbstverständnis einer ganzen Generation, dass er weit hinaus über nur eine künstlerische Position eigentlich eine Erinnerung an eine Epoche, und ja auch gegen Ende seines Lebens ja tatsächlich auch mitwirkte an der Gründung der Grünen, und damit auch sozusagen den Sprung genommen hat von dem ästhetischen in das realpolitische Leben hinein.

Meyer: Sie haben gerade über Joseph Beuys gesprochen, das ist natürlich ein extremes Beispiel, ein Künstler engagiert sich so auch gesellschaftlich, dass er sogar an einer Parteigründung mitwirkte, eben im Fall von Joseph Beuys bei der Gründung der Grünen. Ist das die Spur, auf die Sie vor allem gehen mit Ihrer Ausstellung? Kunstwerke, die dann ganz real in gesellschaftspolitische Prozesse hineinwirken?

Holten: Nicht nur, das ist eigentlich eher das Interesse auch, die unterschiedlichsten Prozesse nachzuspüren, mit denen Werke auch wirken können. Ein anderes Beispiel, ein Prominentes, aber nicht real wirkendes, sondern eher symbolisch wirkende, ist das Gemälde "Onkel Rudi" von Gerhard Richter, das heute Teil der Sammlung der Gedenkstätte in Lidice ist, das ist also ein physisch übereignetes – eigentlich als persönliche Geste Gerhard Richters in 1967 zusammen mit anderen Künstlern übereignete Kunstwerke, die dann 1968 in Prag ausgestellt waren, und jetzt in Lidice noch aufbewahrt sind, und heute zu einem Symbol für die Gesellschaft dort auch geworden sind, für den Hass und sozusagen für den schwierigen Umgang mit der Vergangenheit und mit der Erinnerung an das nationalsozialistische Massaker in dem Dorf Lidice. Und so ist es nicht eine real wirkende, im Sinne von Parteigründung, sondern als sehr komprimierte, symbolische, gehaltvolle gesellschaftliche Erinnerung, die sie darüber austragen lassen, was aber ebenso eine sehr interessante Wirkung oder Funktion von Kunst in der Gesellschaft sein kann.

Meyer: Deutschlandradio Kultur – braucht unsere Gesellschaft Kunst? Um diese Frage geht es in einer neuen Ausstellung der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. Wir reden darüber mit Johan Holten, dem Direktor der Kunsthalle. Wenn man auf Ihre Ausstellung schaut, jetzt im vornherein, man sieht, dass Sie sich doch eher konzentrieren auf die ferner liegende Vergangenheit. Warum sind weniger Kunstwerke aus den gerade zurückliegenden Jahren zu sehen? Weil Kunstwerke heute weniger gebraucht werden?

Holten: Absolut nicht. Die Ausstellung ist eigentlich eher aus der Überzeugung entstanden, dass es auch weiterhin in den nächsten 60 Jahren ebenso einen Bilderbedarf geben wird.

Meyer: Ich frage das auch, Herr Holten, weil es ja gerade in diesem Jahr zu sehen war, wie stark sich Kuratoren bemühen – bei der documenta war das ganz stark zu sehen, bei der Berlin-Biennale war das ungemein stark zu sehen, dass sich Kuratoren bemühen, Kunst anzuknüpfen an Gesellschaft, zu zeigen, wie Kunst relevant ist, aber das gesellschaftliche Echo darauf ist sehr, sehr klein. Bei der documenta hat das kaum funktioniert, deswegen noch mal die Frage: Ist das heute schwieriger geworden für Künstler, tatsächlich gehört zu werden, auch in diesem riesigen Kampf um Aufmerksamkeit, den wir hier haben in unserer vielfältiger gewordenen Mediengesellschaft?

Holten: Mit Ihren zwei Beispielen will ich durchaus Recht geben, dass die Berlin-Biennale ein deutlich gescheiterter Versuch war, real auf das wirkliche Leben einzuwirken. Ob documenta wirklich so gescheitert ist, wenn umgerechnet ein Prozent der deutschen Bevölkerung zu einer Kunstausstellung gegangen sind – Okay, ein paar Ausländer waren auch dabei, aber so um den einen Prozent, wenn man 800.000 hochrechnet –, da hingegangen sind, um sich irgendwie zu versuchen zu vergewissern über die Gegenwart, dann bin ich nicht so sicher, dass es …

Meyer: Aber wir reden ja über Debatten, die ausgelöst werden von Kunstwerken, und die habe ich nicht gesehen nach der documenta.

Holten: Nein, aber auf eine längerfristige Art und Weise kann man ja auch zurückschauen und eigentlich auf den Gründungsmythos der documenta, nämlich den der ersten und zweiten, die wir in der Ausstellung auch behandeln in Baden-Baden, und da auch die hitzigen Debatten, die eigentlich darüber entstanden an diesem Ort, der nicht nur eine Kunstausstellung, sondern vielmehr, eigentlich ein gesellschaftspolitisches Ereignis war, und ein Wiederanschluss an ein freiheitliches, westliches, amerikanisches Wertesystem oder Wertekanon war, nach erst mal sozusagen dem Wiederanschluss an die eigene Vergangenheit in der ersten und die verfemten Künstler, die wieder ausgestellt waren. Und so glaube ich tatsächlich, dass es Ausstellungen gibt, zu gewissen Zeitpunkten, die deutlich mehr sind, nur eben kann man das nicht auf eine Formel bringen und sagen: So muss sie sein, und so wirkt sie dann gesellschaftlich, und so wird dann auch die Wirkung daraus. Nein, man muss da immer wieder suchen, deswegen schauen wir ja gerade in der Ausstellung, in der ersten sozusagen Ausgabe hier in Baden-Baden zurück auf die letzten 60 Jahre, weil in der Retrospektive können wir durchaus sagen, schau mal, da gab es die Wirkung, da gab es die Wirkung und da gab es auch eine Wirkung.

Meyer: Was ist denn das jüngste Beispiel in Ihrer Ausstellung?

Holten: Das jüngste Beispiel: Wir schließen mit einer Arbeit von Christoph Schlingensief aus Wien, die Aktion "Ausländer raus", die er unter großem Tumult gerade vor der Wiener Staatsoper veranstaltet hat, Container standen, Ausländer waren da eingeschlossen und wurden in einem "Big Brother"-ähnlichem Verfahren ein- und ausgewählt, und nur der Gewinner durfte dann in Österreich bleiben und wurde dann mit einer Österreicherin verheiratet. Und die Aufregung, die Wut der Menschen da auf dem Platz und auch in öffentlichen Debatten und so weiter ist erstaunlich aus heutiger Sicht. Man sieht da wirklich, wie da Gesellschaftsschichten aufeinanderprallen und offenkundig irgendeinen Bedarf haben, ein tabuisiertes sozusagen gesellschaftliches Thema auch anzusprechen oder auch sich einfach davon provoziert zu fühlen, und deswegen muss es angesprochen werden, das ist sehr erstaunlich.

Meyer: Christoph Schlingensief war ja gerade ein Künstler der Provokation. Glauben Sie, dass, wenn Kunst heute gehört werden will, dass sie in diese Richtung gehen muss, dass sie provozieren muss, dass sie laut, grell, schmerzlich sein muss, um noch gehört zu werden?

Holten: Nein, das glaube ich nicht, ich glaube nicht, dass das die einzige Art ist, wie es geht. Es geht manchmal, aber die Provokation kann natürlich genau so abgleiten in das Banale, weil nur die Provokation gesucht wird. Die Lehre ist, dass man ständig auf der Suche sein muss nach neuen Bildern, nach anderen Formen, sozusagen nach Wegen, die noch nicht bekannt sind, und das kann auch manchmal ganz leise Töne, die dann erst zehn Jahre später plötzlich auf einem ganz anderen verschlungenen Wege zu einem verdichteten Symbol geworden sind.

Meyer: Sie sind ja Direktor der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, wie gesagt. Vor Ihrer Berufung hatte diese Kunsthalle zu kämpfen mit geringen Besucherzahlen. ist jetzt diese Ausstellung auch so eine Art Beweisführung in eigener Sache, Leute, was wir hier machen, das hat mit eurem Leben zu tun?

Holten: Das ist absolut ein Versuch zu zeigen, dass wir meinen, dass ein öffentlicher Auftrag auf im 21. Jahrhundert wichtig ist. Und deswegen stelle ich mir auch immer die Frage: Ja, aber wie kann ich auch – nicht negativ, sondern positiv – formulieren, warum ich meine, dass es auch weiterhin einen sehr großen Bedarf geben wird an einer staatlichen Kunsthalle. Das muss man auch laut und deutlich sagen können und auch sich nicht scheuen, da auch das anzusprechen, das natürlich müssen wir, genau so wie andere Gesellschaftsträger, erklären, was wir machen und warum wir es machen und warum wir es auch für wichtig erachten.

Meyer: Bilderbedarf – braucht Gesellschaft Kunst? Diese Ausstellung wird heute in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden eröffnet. Wir haben darüber mit Johan Holten, dem Direktor der Kunsthalle gesprochen. Herr Holten, vielen Dank für das Gespräch!

Holten: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.