Wenn aus Mädchen Schlampen werden

Von Elske Brault |
Zwei junge Türken erstechen ein Mädchen, weil sie sich von ihr provoziert fühlen. Das andere Mädchen überlebt schwer verletzt. Auf diesem tatsächlichen Fall in der Kleinstadt Hagen beruht Lutz Hübners Theaterstück "Ehrensache". Es greift das viel diskutierte Thema traditioneller Geschlechterbilder auf, bei dem kulturelle Werte scheinbar unversöhnlich aufeinander prallen. Die Premiere am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg hat Elske Brault mit zwei türkischen Jugendlichen besucht.
"Hallo, bringt's du mir 'ne Cola mit?"
"Leck mich am Arsch!"
"Was?"
"Nichts bekommst du von mir, gar nichts, 'nen Arschtritt könntest du haben, aber ich will mir nicht die Schuhe schmutzig machen."
"Sag mal, geht's noch?"

So eskaliert auf der Bühne ein Streit, der den ganzen Tag über zwischen dem Türken Cem und der Deutsch-Türkin Ellena geschwelt hat, auf einem Ausflug nach Kassel mit Cems Freund Sinan und Ellenas deutscher Freundin Ulli. Ulli und Sinan merken, wie die Stimmung zwischen Ellena und Cem immer gereizter wird. Doch sie wissen nicht, dass Ellena und Cem in der Nacht zuvor miteinander geschlafen haben: er leitet daraus Ansprüche ab, sie weist ihn zurück. Im Zuschauerraum kann der 16-jährige Göktürk gut nachvollziehen, was in Cem vorgeht.

"Bei uns, bei den Türken, ist die Ehre sehr wichtig. Die Familie und die Ehre sind sehr wichtig. Und was das Mädchen so gemacht hat: Sie hat seine Ehre so beleidigt. Weil Cem hat ja richtig auf Großen gemacht, er meinte, dass er groß ist, dass er Chef ist, dies das ist. Und das Mädchen hat das begriffen und sie wollte ihn runtermachen sozusagen. Also zeigen, dass er nicht der Größte ist."

Göktürk und sein 20-jähriger Kumpel Gökhan erkennen sich in den beiden Jungs auf der Bühne hundertprozentig wieder: Auch wenn die von deutschen Schauspielern dargestellt werden. Autor Lutz Hübner und Regisseur Klaus Schumacher wollen im Jungen Schauspielhaus, bei den Schulvorstellungen, für die "Ehrensache" in erster Linie produziert ist, eine Diskussion anstoßen zum Beispiel über den Begriff "Schlampe". Denn in dem Stück sagt Cem einerseits:

"Frauen muss man ehren. Ja, das kapieren viele nicht. Die ham 'ne große Fresse und belästigen Frauen. Aber Frauen muss man ehren."

Andererseits muss er Ellena offenbar nicht ehren:

"Die war 'ne Schlampe. Wenn wir über Frauen sprechen, dann sprechen wir über Frauen, die Ehre haben. Die deine Freundin sein können. Die man heiraten kann. Ja, das muss ein sauberes Mädchen sein! Wenn ich mal heirate, dann darf das kein Mädchen sein, das mit allen im Bett war. Ich will kein benutztes Mädchen, das ist was völlig anderes."

Gökhan: "Es gibt Mädchen, die sind zu offen, als sie normalerweise sein sollten. Die werden in die Kategorie Schlampe eingeworfen sozusagen."
Göktürk: "Mein Ex-Freundin, wir waren anderthalb Jahre zusammen, sie war auch keine Jungfrau, das war o.k. für mich. Jeder hat zu mir gesagt, das sie 'ne Schlampe ist, ich hab gesagt, seid alle ruhig, das ist meine Freundin, ich liebe sie. Wir bleiben auch zusammen. Ich würde niemals denken, sie ist 'ne Schlampe, weil sie mit irgendjemand anders geschlafen hat. Das ist so was albern für mich. Aber was sie vor meinen Augen klein gemacht hat: Wir hatten Schluss, und nach zwei drei Tagen hatte sie einen andern Jungen gefunden."

"Ehrensache" macht deutlich, wie sehr die türkische Kultur sich von der deutschen bis in die Gesten hinein unterscheidet. Ein deutscher Junge würde es womöglich ganz nett finden, wenn das Mädchen ihm über den Kopf streichelt, Cem hingegen fühlt sich provoziert.

"Als wär ich ein Kind oder ein Köter - nicht bei mir!"
"Wie hätte sie dich denn berühren sollen?"
"Ich fasse die Frau an, nicht sie mich!"

Flirten ist unter solchen Umständen schwierig. Auch der 20-jährige Gökhan dürfte an diesem Punkt mit deutschen Mädchen Probleme kriegen:

"Wenn sie mich schon geil macht: Also entweder man hat Sex, oder man sollte gar nicht erst so einen auf Anmache machen."

Merkwürdigerweise kommt kein jugendlicher Zuschauer des Stücks auf die Idee, für Ellena Ehrerbietung einzufordern. Cem demütigt sie auf jede erdenkliche Weise. Er beschimpft sie als Hure, bietet ihr Geld an, damit sie noch einmal mit ihm Sex hat. Doch selbst die 19-jährige Polin Milena findet:

"Mit Ellena kann man nicht wirklich Mitleid haben. Sie hat sich schon selber benommen wie so 'n männlicher Türke. Also hat die Leute einfach nicht gut behandelt. Respektlos."

Gökhan: "Ich hätte auf das Mädchen echt gespuckt, ne. Also ich würd mir so was gar nicht gefallen lassen. Ich würd einfach meine Sachen nehmen und Tschüss sagen und weiterziehen."

Mit dem Weiterziehen ist das allerdings im Stück nicht so einfach. Die vier jungen Leute sind auf der Rückfahrt von Kassel nach Hagen, mitten auf der Autobahn. Ellena möchte keinesfalls mit Freundin Ulli an einer Tankstelle zurückgelassen werden. So setzt sie Cem an seiner verwundbarsten Stelle unter Druck: Behauptet, von ihm schwanger zu sein. Und das würde bedeuten: Er muss die Schlampe heiraten. Eigentlich verteidigt Ellena mit diesem Horrorszenario nur ihre eigene Ehre.

"Jetzt hältst du die Klappe, was? Und sag nie wieder Schlampe oder Hure zu mir. Und du wirst alles klar stellen, was du an Scheiße über mich erzählt hast. Sonst fang ich an zu erzählen, und dann kannst du einpacken, ist das klar?"

An diesem Punkt rastet Cem aus, er zieht das Messer und sticht auf Ellena ein. Eine Szene, die Gökhan Gänsehaut verursacht. Er und Göktürk werden sich überlegen müssen, ob sie nicht einen neuen Ehrenkodex brauchen, der auch für Schlampen gilt. Zum Beispiel: Du bist als Junge für die körperliche Unversehrtheit jedes Mädchens verantwortlich. Du kannst sie nicht an einer Raststätte aus dem Auto werfen. "Ehrensache" hat die beiden jungen Türken begeistert und zum Nachdenken gebracht: Gerade weil das Stück sich den Vorwurf gefallen lassen muss, die Kategorien von Täter und Opfer zu verwischen.

"Also in dem Stück hat irgendwie jeder Schuld, und irgendwie hat jeder mir so ein bisschen Leid getan."