Wenn alle mit dem Finger zeigen
So peinlich eine Blamage für den Blamierten, so entlastend ist sie für die Zuschauer, stellt Christian Saehrendt fest. Peinlichkeit ist ein hochinteressantes Gefühl, mit dem der Mensch um seinen sozialen Status bangt.
Als kürzlich drei Journalisten der "Süddeutschen Zeitung" den Henri-Nannen-Preis ablehnten, war der Grund dafür Peinlichkeit. Die Auszeichung für die Berichterstattung in der Causa Wulff mussten sich die Reporter nämlich mit zwei Kollegen der "Bild"-Zeitung teilen: für die sich in Sachen Kompetenz und Redlichkeit ranghöher einstufenden Kollegen von der "Süddeutschen" nichts weniger als eine Blamage. Kurioserweise entpuppte sich dann aber gerade die Rückgabe des Preises als eigentlich peinlich. Das Manöver wurde den SZ-Journalisten als Arroganz, wenn nicht gar als Fehleinschätzung der eigenen Rolle angekreidet.
Peinlichkeit ist ein hochinteressantes und komplexes Gefühl. Auch wenn es subjektiv empfunden wird, dient es letztlich der Regulierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, indem es auf die geltenden Normverstöße verweist. Wer sich also die wandelbaren Blamagen in Geschichte und Gegenwart anschaut, kann eine Menge lernen über die Kulturen, in denen sie stattgefunden haben. Der Publizist Christian Saehrendt versucht genau dies mit seiner "Geschichte der Peinlichkeit": Er nähert sich dem Phänomen soziologisch, historisch, interkulturell und, was die Gegenwart betrifft, geradezu enzyklopädisch.
Peinlichkeit kommt von "Pein", dem alten Wort für Schmerz und Qual. Sie schließt, im Unterschied zur innerlich empfundenen Scham, den bewertenden Blick der Öffentlichkeit mit ein. In peinlichen Situationen, schreibt Saehrendt, "empfindet der Betroffene starke Isolationsfurcht und glaubt, sein sozialer Status (…) sei in Gefahr". Diese verinnerlichte Furcht sei eine Errungenschaft der Zivilisation, so der Autor weiter.
Doch Blamagen können nicht nur – schlimmstenfalls – zum sozialen Abstieg oder Ausschluss führen. Sie haben unter Umständen auch eine entlastende Funktion: Wer andere sich Blamieren sieht, empfindet oft schlichte Erleichterung, dass ihm das nicht passiert ist. Mit politischen Skandalen, so Saehrendt, reinigen sich Gesellschaften selbst: Indem Politik und Medien den Übeltäter aus ihren Reihen verstoßen, stiften sie neues Vertrauen. Allerdings sieht der Verfasser in der jüngeren deutschen Geschichte auch peinliche Protagonisten wie Wilhelm II. oder Helmut Kohl, denen Skandale zu Regierungszeiten zwar schadeten, aber letztlich wenig anhaben konnten.
Zwischen die einzelnen Pflichtkapitel hat Christian Saehrendt gestreut, was Kür sein sollte: In den sogenannten "Panoramen der Peinlichkeiten" sammelt und katalogisiert er peinliche Episoden aus den Bereichen Körper-, Kompetenz- und Misserfolgsscham. Doch obwohl Saehrendt sich fleißig durch etliche Promi-Biografien und "Gala"-Ausgaben gearbeitet hat, obwohl er auch vor trendigen Blamageoptionen wie "sich selber googeln" oder "sich vertwittern" nicht zurückschreckt: Vielen Sahnehäubchenabschnitten fehlt es an Witz, Esprit, erzählerischer Verve. Und noch etwas ist schade: Auch das "Ich" sagen war dem Autor offenbar – peinlich.
Von Eva Behrendt
Christian Saehrendt: Blamage. Geschichte der Peinlichkeit
Bloomsbury Verlag, Berlin 2012
200 Seiten, 14,90 Euro
Peinlichkeit ist ein hochinteressantes und komplexes Gefühl. Auch wenn es subjektiv empfunden wird, dient es letztlich der Regulierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, indem es auf die geltenden Normverstöße verweist. Wer sich also die wandelbaren Blamagen in Geschichte und Gegenwart anschaut, kann eine Menge lernen über die Kulturen, in denen sie stattgefunden haben. Der Publizist Christian Saehrendt versucht genau dies mit seiner "Geschichte der Peinlichkeit": Er nähert sich dem Phänomen soziologisch, historisch, interkulturell und, was die Gegenwart betrifft, geradezu enzyklopädisch.
Peinlichkeit kommt von "Pein", dem alten Wort für Schmerz und Qual. Sie schließt, im Unterschied zur innerlich empfundenen Scham, den bewertenden Blick der Öffentlichkeit mit ein. In peinlichen Situationen, schreibt Saehrendt, "empfindet der Betroffene starke Isolationsfurcht und glaubt, sein sozialer Status (…) sei in Gefahr". Diese verinnerlichte Furcht sei eine Errungenschaft der Zivilisation, so der Autor weiter.
Doch Blamagen können nicht nur – schlimmstenfalls – zum sozialen Abstieg oder Ausschluss führen. Sie haben unter Umständen auch eine entlastende Funktion: Wer andere sich Blamieren sieht, empfindet oft schlichte Erleichterung, dass ihm das nicht passiert ist. Mit politischen Skandalen, so Saehrendt, reinigen sich Gesellschaften selbst: Indem Politik und Medien den Übeltäter aus ihren Reihen verstoßen, stiften sie neues Vertrauen. Allerdings sieht der Verfasser in der jüngeren deutschen Geschichte auch peinliche Protagonisten wie Wilhelm II. oder Helmut Kohl, denen Skandale zu Regierungszeiten zwar schadeten, aber letztlich wenig anhaben konnten.
Zwischen die einzelnen Pflichtkapitel hat Christian Saehrendt gestreut, was Kür sein sollte: In den sogenannten "Panoramen der Peinlichkeiten" sammelt und katalogisiert er peinliche Episoden aus den Bereichen Körper-, Kompetenz- und Misserfolgsscham. Doch obwohl Saehrendt sich fleißig durch etliche Promi-Biografien und "Gala"-Ausgaben gearbeitet hat, obwohl er auch vor trendigen Blamageoptionen wie "sich selber googeln" oder "sich vertwittern" nicht zurückschreckt: Vielen Sahnehäubchenabschnitten fehlt es an Witz, Esprit, erzählerischer Verve. Und noch etwas ist schade: Auch das "Ich" sagen war dem Autor offenbar – peinlich.
Von Eva Behrendt
Christian Saehrendt: Blamage. Geschichte der Peinlichkeit
Bloomsbury Verlag, Berlin 2012
200 Seiten, 14,90 Euro