Weniger Wissen durch Neue Medien

Stefan Weber im Gespräch mit Britta Bürger · 04.11.2008
Schnell mal einen Begriff bei Google oder Wikipedia nachschlagen, ohne vergleichende kritische Quellen heranzuziehen - nach Meinung des österreichischen Medienwissenschaftlers Stefan Weber beerdigt unser Wissenserwerb im Internet die Bildungskultur der Moderne. So habe sich zum Beispiel das Lesen in ein Stichwort-Absuchen gewandelt.
Britta Bürger: Während in Berlin gerade Top-Manager aus der IT-Branche mit jungen Leuten der sogenannten "Generation Internet" über die Zukunft der digitalen Arbeitswelt debattiert haben, zweifelt der Medienwissenschaftler Stefan Weber daran, dass die Neuen Medien unsere Zivilisation zum Guten verändern. Im Gegenteil. Er beobachtet, wie das Internet die Wissenskultur der Moderne beerdigt, wie es die Idee der Bildung zerstört. Ganz konkret erlebt er das in seinem Arbeitsalltag als Dozent für Medientheorie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Schönen guten Tag, Herr Weber!

Stefan Weber: Guten Tag!

Bürger: Waren Sie heute schon im Internet?

Weber: Ja, selbstverständlich. Ich stehe in der Frühe auf und rufe meine E-Mails ab, so wie mittlerweile der Großteil der Bevölkerung.

Bürger: Das heißt auch, der Medienkritiker ist nicht davor gefeit, dass die E-Mails seinen Biorhythmus stören?

Weber: Das ist der performative Widerspruch, den allerdings alle Medienkritiker erleben. Sie werden nicht einen erleben, auch in Amerika. Die Leute, die die Bücher geschrieben haben zum Thema Medienkritik, Netzkritik, die schreiben alle: Ich bin selbst Tag und Nacht im Internet und leide eigentlich darunter. Und dieses Leiden ist ja auch Grund dafür, dann die Bücher zu schreiben.

Bürger: Das ist ja ein Beispiel dafür, dieses ständige im Internet sein, ständig seine E-Mails checken, wie wir permanent in die Medialisierungsfalle tappen. So heißt ja Ihr neues Buch, "Die Medialisierungsfalle", mit dem E-Mail-Checken, dem Googlen und dem Chatten, da kann man sich ständig ablenken lassen. Aber wozu führt dieser permanente schnelle Wechsel zwischen den verschiedenen Medien, damit ja auch zwischen den verschiedenen Inhalten, mit denen wir uns eigentlich beschäftigen wollen?

Weber: Das Interessante ist, dass die meisten Menschen, so unterstelle ich einmal, nicht darüber nachdenken oder nicht ausreichend darüber nachdenken, und das war die Motivation für das Buch. Wenn man das einmal reflektiert, kommt man vielleicht zu dem Schluss für sich ganz persönlich, dass sich die Lebensqualität und auch die Qualität des Zugangs zur Information in vielen Bereichen eher verschlechtert hat. Das heißt, wir nehmen etwas als selbstverständlich wahr, dass wir diese neuen Technologien haben, dass das Handy sozusagen permanent auf Erreichbarkeit gestellt ist, dass der Chef oder Mitarbeiter Tag und Nacht mehr oder weniger anrufen kann, dass wir mit dem Gedanken an das letzte E-Mail ins Bett gehen und mit dem Gedanken an das nächste E-Mail in der Frühe wieder aufstehen.

Aber wenn wir das reflektieren, kommen wir vielleicht drauf, dass sich hier etwas verschlechtert hat. Und ich habe schon erwähnt, eben sowohl die Lebensqualitäten als auch der Zugang zur Information, die Informationsrezeption. Wir sind eigentlich nicht mehr in der Lage, konzentriert zu arbeiten, wir überfliegen die Inhalte, das Lesen hat sich gewandelt in ein Scannen, in ein Stichwort-Absuchen. Ich glaube, es kann jeder aus seiner Erfahrung berichten, dass es immer wieder vorkommt, dass Leute E-Mails nicht mehr genau lesen, dass man sich dann fragt, wozu habe ich das eigentlich geschrieben, der Empfänger liest es ja gar nicht usw. usf. Das heißt, Kommunikationsparadoxien, Kommunikationsprobleme haben eigentlich in den vergangenen Jahren zugenommen.

Bürger: Es gibt ja bislang noch keine wissenschaftlichen Langzeituntersuchungen über diese Auswirkungen, zum Beispiel auf unser Gehirn. Aber was beobachten Sie zum Beispiel an Ihren Studenten? Welche Auswirkungen haben die Neuen Medien etwa auf die Qualität der schriftlichen Arbeiten?

Weber: Ja, das ist eines meiner Lieblingssteckenpferde. Auch dazu gibt es, wie Sie ganz richtig gesagt haben, noch keine Langzeitstudien, leider. Das heißt, ich kann nur Hypothesen aufstellen. Ich würde mich freuen, wenn ich in der Lage wäre zu sagen, ich kann ganz genau empirisch festmachen, dass sich die Qualität zum Beispiel der akademischen Abschlussarbeiten in den vergangenen 15 Jahren durch die Zitation von Internetquellen und natürlich auch durch die unbelegte Übernahme von Internetversatzstücken verschlechtert hat. Aber es weist einiges darauf hin, dass es so ist.

Ich habe zum Beispiel in Österreich im vergangenen Jahr, jetzt nicht in Wien, sondern an der Universität Salzburg, eine Studie durchgeführt und hier habe ich schon festgestellt, dass von 125 Diplomarbeiten 30 diese Web-Versatzstücke enthalten, dass bei 30 Arbeiten nicht mehr selbst getextet wurde, sondern dass sie eigentlich eine Collage aus Internetfundstücken sind und hier nimmt natürlich die Recherchier-, die Schreibkompetenz der Studierenden ab. Und ich denke, wenn mir mehr Studien zu diesem Thema machen würden und wenn mehr Studien zu diesem Thema finanziert werden würden, dann würden wir auch diese Probleme viel klarer sehen.

Im Moment verschwinden ja alle Abschlussarbeiten von Fachhochschulen, von Universitäten irgendwo im Niemandsland, die liest ja kaum jemand. Aber wenn man sich das einmal genauer anschauen würde und eben die Content-Qualität untersuchen würde, dann würde man vielleicht feststellen, wie gesagt, einige Indikatoren weisen darauf hin, dass sich hier etwas zum Negativen verändert hat.

Ich bin auch nicht der Einzige, der das sagt. Es gibt in Berlin eine Kollegin, die das sagt, es gibt in Linz einen Kollegen, der das sagt. Nur, wie gesagt, das ist im Moment nicht der Mainstream der Medienwissenschaften und das ist auch nicht der Mainstream von dem, was im Moment gefördert wird. Aber wir arbeiten natürlich daran, dass Studien zu diesem Thema endlich gefördert werden und dass man hier einmal sehr genau hinschaut, aber wir arbeiten natürlich auch, das muss ich schon offen sagen, gegen eine Medienwissenschaft an, die sich zunehmend als PR, als Dienstleistungslieferant für die Medienindustrie versteht und hier wird natürlich Medienkritik immer schwieriger.

Bürger: Deutschlandradio Kultur, Sie hören das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Stefan Weber. Die Technik des Kopierens und Einfügens, das ist der eine Fluch. Darüber hinaus kritisieren Sie aber eben ja auch vor allen Dingen die Veränderung der Qualität der Inhalte im Internet. Inhalte, von denen man nicht mehr weiß, wer sie eigentlich geschrieben hat. Früher galt ja, was irgendwo gedruckt wurde, wurde erst mal überprüft. Hat sich diese Regel im Internet umgekehrt?

Weber: Genau, das ist das ganz große Problem, dass auch wieder Schüler und Studenten primär, aber natürlich auch jetzt Erwachsene zunehmend dazu übergehen, Informationen aus dem Internet so rezipieren, als wären sie gedrucktes Wissen. Das ist ein Riesenproblem. Sie erleben das tagtäglich, ich sage immer das Beispiel der Bindehautentzündung. Wenn Sie Bindehautentzündung haben oder ihr Sohn oder wer auch immer und Sie googlen diesen Begriff, kommen Sie auf Webforen, und wenn Sie diese Informationen für bare Münze nehmen, dann haben Sie eigentlich Todesangst. Da haben Sie Angst zu sterben, weil Sie Bindehautentzündung haben, weil Sie die Informationen falsch verknüpfen.

Das heißt, ich sage jetzt natürlich nicht, die Bevölkerung ist generell so ungebildet, dass sie das nicht netz- oder quellenkritisch wahrnehmen kann. Aber ich habe das eben in der Vergangenheit festgestellt, dass das Schüler und Studenten zunehmend nicht mehr können. Wir haben dieses große Problem, dass früher gesichertes Wissen dadurch entstanden ist, dass es von Experten geprüft wurde. Und dann ist es irgendwann einmal in ein Lexikon gewandelt.

Jetzt ist es so, dass jeder ja auch in der Wikipedia sekündlich irgendwelche Veränderungen vornehmen kann und natürlich auch überall bei allen Web-2.0-Anwendungen, bei allen Webforen sich verewigen kann usw. und die Leute zunehmend nicht mehr mit einem quellenkritischen Bewusstsein diese Informationen lesen, und das damit für bare Münze nehmen.

Bürger: Sie haben ja nachgewiesen, dass die Suchmaschine Google die deutschen Wikipedia-Seiten immer sehr weit oben platziert. Würden Sie soweit gehen zu sagen, Google verhindert, dass man die beste Information schnell findet?

Weber: Soweit würde ich nicht gehen. Aber ich habe Beispiele in meinem Buch, nicht nur dieses Beispiel, auch andere Beispiele, wo ich schon zeige, dass der Google-Algorithmus den Zugang zu der richtigen Information auch verhindern kann. Das heißt, wenn Google zum Beispiel, was mich im Moment eher bewegt, dazu übergeht, zunehmend eben Einträge aus Webforen, Web-2.0-Inhalte nach vorne zu reihen und der Google-Algorithmus die gleich behandelt oder sogar favorisiert, weil eben zum Beispiel Blogs zunehmend sich untereinander verlinken und so plötzlich Blogeinträge und Blogkommentare in den ersten Fundstellen von Google erscheinen, ist das natürlich erneut ein Riesenproblem.

Wenn ich als Leser zuerst die Diskussion über ein Thema habe, aber dann das Thema an sich erst auf der dritten oder vierten Seite der Ergebnisliste von Google finde, dann habe ich ein Problem, ich sage erneut, wenn ich nicht mit einem quellenkritischen Bewusstsein an diese Sache rangehe. Und dass das nicht passiert, habe ich eben in meinem Buch und auch aufgrund meiner Erfahrungen in den vergangenen Jahren bewiesen. Und das ist ein Problem.

Das, was Sie ansprechen, diese Google-Wikipedia-Connection ist natürlich auch problematisch, weil das der neue Recherchepfad in unserer Wissensgesellschaft ist. Sie googlen einen Begriff und Sie landen bei der Wikipedia. Und wenn Sie dann noch viel Zeit haben, klicken Sie irgendetwas, einen Verweis in der Wikipedia an. Aber in den meisten Fällen wird Google und Wikipedia konsultiert, und das ist auch wieder der Abschluss der Recherche. Und damit würde auch ein enormer Wissensschatz ausgeblendet. Nicht nur das, was Sie alles in den Datenbanken der Bibliotheken finden, auch das, was eben nicht in den Datenbanken der Bibliotheken ist, was nur in gedruckten Büchern aufzufinden ist, wird damit ausgeblendet.

Bürger: Sie haben es schon angedeutet, Sie liegen mir Ihrer Kritik am digitalen Zeitgeist so gar nicht im Mainstream. Und doch, die IT-Manager, die erhoffen sich sehr viel von den jungen Leuten der "Generation Internet", die künftig die globalen Geschäfte richten sollen. Wen wollen Sie mit diesem Buch erreichen?

Weber: Ja, eigentlich genau diese Leute. Das heißt, ich will natürlich ein Umdenken bei der Mehrheit der Menschen, so unterstelle ich jetzt einmal, eben auch bei den IT-Managern und natürlich auch bei allen, die Public Relations für neue Informations- und Kommunikationstechnologien machen. Ich denke, die Medien- und Computerindustrie bekommt ja zunehmend ein schlechtes Gewissen. Sonst würde es ja nicht diese Information-Overload-Research-Gruppe zum Beispiel geben. Das sind natürlich nur Alibi-Aktionen. Aber wenn jetzt einmal die großen Medienproduzenten und Computerproduzenten schon hergehen und sagen: Wir haben offensichtlich ein Problem mit der Informationsverschmutzung durch die Neuen Medien, mit der Informationsüberlastung, wir müssen was dagegen tun, dann ist das schon ein Indikator dafür, dass ich so falsch nicht liegen kann.

Bürger: Sie beschließen Ihr Buch mit der Befürchtung, dass es wahrscheinlich schon zu spät ist, die Weichen in eine andere Richtung zu stellen. Heißt das, Sie selbst haben keine Alternative anzubieten?

Weber: Natürlich. Ich habe die Alternative anzubieten, zurück zu den alten Kulturtechniken. Nur, damit meine ich jetzt nicht, dass ich mein Handy abschaffe und mir wieder ein Analogtelefon mit Wählscheibe bestelle, was natürlich auch originell wäre. Mit zurück meine ich jetzt keinen Apparate-Anachronismus, dass ich sage, wir müssen eben zurück zu allen alten Technologien. Ich sage nur, dass gewisse Kulturtechniken mit den sogenannten alten Technologien verknüpft waren, zum Beispiel die Idee des Exzerpts. Wenn ich eben mit dem Google-Notizblock arbeite und Texte aus dem Internet hineinkopiere in mein Notizfeld, ist das ein grundlegend anderer Vorgang, wie wenn ich in einer Bibliothek mir ein Buch nehme und aus diesem mit Handschrift exzerpiere.

Die Informationstiefe leidet unter diesem neuen Vorgang. Das ist ein Faktum. Und das müssen wir uns überlegen, was hier passiert, weil wir leben ein Paradigma der Beschleunigung und der Schnelligkeit. Wir freuen uns alle, dass alles immer schneller geht, dass wir nicht mehr mühsam in Büchern blättern müssen und, und, mühsam was herausschreiben und Zitate abschreiben usw. usf. Aber vielleicht hat sich dadurch eben die Informationsrezeptionstiefe verschlechtert. Und das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Aber wer stellt sich denn hier mal die Frage: Okay, was passiert mit unseren Hirnen und was passiert mit unserer Textkultur? Und das ist die Frage, die ich in meinem Buch stelle.

Bürger: "Die Medialisierungsfalle – Kritik des digitalen Zeitgeists", so heißt das neue Buch von Stefan Weber, erschienen ist es in der österreichischen Edition Va Bene für 21,90 Euro. Ich danke Ihnen für das Gespräch!