Wenig Recht zu niedrig Lohn

Von Mathias Bölinger |
Vietnam hat wie andere Tigerstaaten auch die Wirtschaftskrise stark zu spüren bekommen. Doch vor allem die verarbeitende Industrie spürt die Krise. Die hier auftretenden Probleme sind Sicherheit, Rechtslosigkeit und niedrige Löhne der gering qualifizierten Arbeiter.
Di An. Eine kleine Stadt im Süden Vietnams. Draußen schüttet es wie aus Kübeln. Der 26-jährige Trung sitzt in einem kleinen Zimmer. Eine Strohmatte auf dem Boden, in der Ecke ein Gasherd. Erst vor wenigen Tagen ist er in der Industriezone zwanzig Kilometer nördlich von Saigon angekommen.

Es ist kurz vor Feierabend, und er ist allein in dem Raum in der Barackensiedlung. Er sei erst seit Kurzem hier, sagt der kräftig gebaute junge Mann etwas schüchtern.

Trung: "Mein Vater und ich haben uns gestritten. Ich war so wütend, dass ich beschlossen habe, in den Süden zu gehen und mir Arbeit zu suchen. Es ist etwas Persönliches. Wir kommen nicht gut miteinander aus."

Jetzt will er beweisen, dass er selbständig ist und allein über die Runden kommt. In Di An reiht sich Fabrik an Fabrik. Möbelfirmen aus Taiwan, Textilfabriken mit englischen Namen, dazwischen liegen die Siedlungen der Arbeiter: Reihen von Baracken mit sechs, acht Quadratmeter großen Zimmern.

Ein Wasserhahn vor jeder Tür, eine Toilette hinten, eine Kochecke und eine Empore auf der weitere Personen schlafen können. Meist wohnen drei bis vier Arbeiter in einem Raum. Trung ist bei drei Verwandten untergekommen, die wie er aus der nördlichen Provinz Nghe An stammen, zwei Tage Busfahrt von hier. Der Abend bricht an, die Mitbewohner müssen bald aus der Fabrik kommen. Er selbst suche noch, sagt Trung.

"Die Leute sagen, es sei im Moment sehr schwer, einen Job zu finden. Ich weiß nicht warum. Aber das ist es, was die Leute sagen."

In Binh Duong, Vietnams Industrieprovinz, zu der auch Di An gehört, sitzt die Exportindustrie des Landes. Zwei Drittel der Arbeitskräfte sind hier zugewandert insgesamt leben im Großraum Ho-Chi-Minh-Stadt, wie Saigon offiziell heißt, zwei Millionen Wanderarbeiter. Sie spürten die Wirtschaftskrise zuerst: Fabriken mussten schließen, Arbeiter wurden entlassen. Trungs Cousine Hieu kommt von der Arbeit. Das zierliche Mädchen mit den kantigen Gesichtszügen setzt sich zögernd neben ihn. Sie arbeitet bereits seit einem halben Jahr in Di An.

Hieu: "Als ich angekommen bin, hatte ich eine Cousine, die bereits in der Nudelfabrik gearbeitet hat. Ich bin hier angekommen und habe sofort bei dieser Firma angefangen. Seitdem bin ich dort, woanders habe ich nicht gearbeitet."

Hieus Job: Sie packt kleine Päckchen mit Gewürzen und scharfem Öl in Instant-Nudel-Packungen. Acht Stunden am Tag steht sie in der Fabrik. Sie ist zufrieden, nicht mehr auf dem Bauernhof der Familie zu leben.

Hieu: "Zu Hause musste ich immer arbeiten. Den ganzen Tag. Und hier kann ich nach der Arbeit nach Hause gehen. Dann habe ich frei und kann mit meinen Cousinen rumhängen oder mich mit Freunden treffen."

Überstunden werden in ihrer Firma bezahlt, erzählt sie. Insgesamt 2 Millionen Dong kann sie so im Monat verdienen – das sind 75 Euro. Zum Leben braucht sie nicht viel, einen Teil des Gehalts schickt die 19-Jährige an ihre Familie in Nghe An, den anderen Teil legt sie zur Seite. Wenn sie genug gespart hat, dann will sie zurück in ihre Heimat und eine Schule für Krankenschwestern besuchen.

Hieu: "Ich glaube, dass ich dann eine bessere Arbeit finden kann. Meine Tante arbeitet als Krankenschwester, sie kann mir helfen. Das ist eine sicherere Arbeitsstelle. Arbeiterin in der Fabrik zu sein, ist nur gut, so lange man jung ist. Aber wenn man älter wird, kann man mit den Jungen nicht mehr mithalten. Und ich will nicht zurückgehen müssen in mein Dorf und auf den Feldern arbeiten."

Le Thi Bai möchte zurück in ihr Dorf. Bald. Doch von der Feldarbeit leben will auch sie nicht mehr.

Bai: "Ich lerne hier mit der Nähmaschine umzugehen. Das hier wird eine Knopfleiste für ein Hemd."

Die 40-jährige Bai besucht einen Kurs für Näherinnen in Tam Ky knapp 1000 Kilometer nördlich von Di An. Der Verband der Kooperativen, in dem ländliche Kleinbetriebe zusammengeschlossen sind, hat hier ein Schulungszentrum eröffnet. Tam Ky ist die Hauptstadt der Provinz Quang Nam in Zentralvietnam. Breite Boulevards aus frischem Asphalt ziehen sich durch die Landschaft.
Akkurat gestutzte Grünstreifen in der Mitte, neben den Straßen allerdings klaffen noch einige Lücken.

Die Stadt ist erst vor ein paar Jahren durch eine Verwaltungsreform zur Provinzhauptstadt geworden. Noch ist sie etwas überdimensioniert. Doch wenn es nach der Regierung geht, dann wird sie in ihre Rolle hineinwachsen. Langsam kommt die Entwicklung der letzten 20 Jahre auch in den Provinzen an.

Bai: "Wenn ich mit diesem Kurs fertig bin, gehe ich zurück und suche mir eine Arbeit. Ich glaube mit dieser Ausbildung kann ich leicht eine Arbeit als Näherin finden. Es gibt jetzt mehrere Textilfabriken in unserer Gegend."

An Arbeitswilligen fehlt es in Vietnam nicht. Doch den meisten Arbeitern fehlen die grundlegendsten Qualifikationen. Sie kommen als Bauern in die Unternehmen, dann wird ihnen in möglichst kurzer Zeit das nötigste beigebracht. Ihre Arbeit muss sich schnell rechnen. Das Kooperativen-Zentrum bildet deshalb Arbeiter weiter. Damit sollen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe gestärkt werden. Nguyen Cuu Quoc leitet das Zentrum.

Quoc: "Wir bilden die Leute für die lokale Wirtschaft aus. Wenn sie qualifiziert sind, können sie auch hier Arbeit finden und müssen nicht in die Metropolen und in die Industriezonen im Süden abwandern."

In der Provinz Quang Nam haben sich in den vergangenen Jahren vor allem auf dem Land Kleinbetriebe etabliert, die Textilien oder Rattanmöbel herstellen. Das Schulungszentrum wird auch mit deutscher Entwicklungshilfe unterstützt. Ralph Timmler ist für den Deutschen Entwicklungsdienst in Tam Ky.

Timmler: "Meine Idee ist dabei, dass die Unternehmen das Training bezahlen. Das Zentrum hier hat natürlich die Aufgabe, diese Trainings durchzuführen und sie haben auch ein öffentliches Budget dafür. Aber dass die Firmen etwas dazuzahlen. Das ist allerdings schwer durchzusetzen. Traditionell ist es ja in Vietnam so, dass Leute dafür bezahlen, irgendwo anfangen zu dürfen."

Ausbildung ist in der Sozialistischen Republik, wie sich Vietnam noch immer nennt, vor allem Sache des Staates. Medienwirksam fordert der als Wirtschaftsreformer bekannte Regierungschef Nguyen Tan Dung gelegentlich die Provinzen auf, die Berufsbildung zu verbessern. Es gibt große Berufsschulen, aber oft klagen Unternehmen, dass diese am Bedarf vorbei ausbilden. Eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Schulbehörden gibt es kaum.

Zurück in Di An im Süden des Landes. Eine reihe weiß gestrichener Baracken neben einer Möbelfabrik. Die Tür zu Nams Zimmer steht offen. Der Familienvater ist mit Frau und Sohn aus der Provinz Dong Thap im Mekong-Delta südwestlich von Saigon gekommen. Eine ärmliche Region, die vom Reisanbau lebt. Drei bis vier hunderttausend Dong verdient er in der Woche. Das sind weniger als 20 Euro, seine Frau arbeitet in einer Fabrik in der Nähe.

Nam: "Meistens kommen wir irgendwie über die Runden, aber genug ist es nicht. Es bleibt nichts übrig."

Sechs Männer sitzen im Kreis, einige unterhalten sich, einer hat sich in der Ecke ausgestreckt und macht ein Nickerchen. Sie hätten alle bis vor kurzem auf einer Baustelle gearbeitet, sagt einer.

Bauarbeiter: "Ich möchte nicht verraten, welches Projekt es war. Aber wir haben uns gemeinsam entschlossen, der Arbeit fern zu bleiben. Kein Streik, das nicht. Nur dass wir alle gleichzeitig gesagt haben, dass wir dort nicht arbeiten wollen."

Er trägt noch das blaue Arbeiterhemd mit dem Firmenaufdruck. Stolz zeigt er den Schriftzug auf dem Rücken. Sie arbeiten als Tagelöhner. So lange sie gebraucht werden, sind sie auf der Baustelle. Wenn ein Projekt fertig gestellt ist, dann müssen sie sich etwas Neues suchen. Eigentlich klang die letzte Stelle, die Nam und seine Kollegen hatten, nicht schlecht.

Bauarbeiter: "Der Lohn war in Ordnung. Aber dann stellte sich heraus, dass sie sehr spät zahlen, ständig vertrösten sie uns."

Arbeiter in Vietnam werden oft übers Ohr gehauen – und haben kaum Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Dabei sind die Arbeitsgesetze nicht schlecht. Die Arbeitszeit ist per Gesetz auf acht Stunden am Tag begrenzt. Überstunden müssen bezahlt werden, die einzelnen Kommunen müssen einen Mindestlohn festlegen.

Der ist zwar mit 40 Euro im Monat etwa halb so hoch wie die meisten Arbeiter verdienen, aber es gibt ihn. Doch Nam und den anderen nutzt das wenig, wenn ein Arbeitgeber nicht zahlt, dann haben sie Pech.

Dialog Arbeiter
"Wir können uns an niemanden wenden. Auch die Polizei kann nichts machen.

Die Firma gibt das Geld an den Vermittler, der gibt es an den Vorarbeiter und wenn der dann durchbrennt, dann ist die Polizei auch machtlos. Sie können uns auch nicht helfen.

Nein. Ich glaube, dafür ist die Polizei gar nicht zuständig."

Oft ist für die Arbeiter gar nicht klar, für wen sie eigentlich arbeiten. Die Firmen wickeln ihre Geschäfte mit Arbeitsvermittlern ab, die dann die Arbeiter anheuern. Immer wieder kommt es vor, dass die Vermittler mit dem Lohn durchbrennen. Wenn die Arbeiter dann ihren Lohn fordern, erklärt der Auftraggeber, er habe ja bereits gezahlt.

Nam: "Manchmal können wir die Vermittler ausfindig machen, manchmal sind sie noch da. Aber dann vertrösten sie uns trotzdem immer wieder auf später. Und wir sehen das Geld nie."

Weil solche Fälle in Vietnam nicht selten sind, kam es in den letzten Jahren häufig zu Streiks. Gerade in den Industriezonen des Südens legten Beschäftigte die Arbeit nieder. Anders als zum Beispiel im Nachbarland China sind in Vietnam Streiks erlaubt – allerdings nur unter strengen Bedingungen. Sie müssen von einer offiziellen Gewerkschaft angemeldet werden, und diese muss vorher alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.

Die meisten Streiks allerdings waren spontan und damit illegal, Noch vor fünf Jahren meldeten Zeitungen jeweils mehrere Hundert Arbeitsniederlegungen im Jahr. Die Regierung duldete sie – ebenso wie die Tatsache, dass Arbeiter begannen, sich außerhalb der offiziellen kommunistischen Gewerkschaften zu organisieren. 2006 gründeten Demokratieaktivisten sogar einen unabhängigen Gewerkschaftsbund. Das allerdings ist vorbei.

Die Anführer sitzen inzwischen alle im Gefängnis. Und auch Nachrichten von spontanen Streiks dringen immer seltener aus dem Land.

Vietnams Regierung greift massiv durch und die Arbeiter fürchten in der Wirtschaftskrise immer öfter um ihren Job. Für die meisten bleibt nur eins: Den Ärger hinunterschlucken und sich irgendwie durchschlagen.

Hanoi. Eine kleine Gasse mit einstöckigen Häusern in der vietnamesischen Hauptstadt. Don sägt gerade Holz für eine Tür zurecht. Es ist Sonntag, die Tür zu seiner Werkstatt steht offen. Hier arbeitet er abends und an freien Tagen. Ein Zusatzverdienst für den 46-jährigen Fabrikarbeiter.

Don: "Mein Sohn geht auf die Universität. Das kostet 300.000 Dong im Monat und dann noch Geld für die Fahrten und das Essen. Zum Glück kann ich schreinern, so kann ich mir etwas dazu verdienen. Ich habe auch eine Tochter. Sie geht in die sechste Klasse. Wenn sie erwachsen ist, muss ich ihre Aussteuer bezahlen."

Don ist vor 26 Jahren ist er aus der Provinz Bac Giang im Nordosten des Landes nach Hanoi gekommen.

Don: "Ich bin nach der Schule zur Armee gekommen. Danach konnte ich in der Fabrik anfangen. Damals herrschte ja noch richtiger Kommunismus. Vom Land in die Stadt zu kommen war sehr schwierig. Nur wer in der Armee gedient hatte, hatte eine Chance, in der Stadt Arbeit zu finden."

Er fing als Arbeiter in einer Streichholzfabrik an – bis heute arbeiten er und seine Frau sechs Tage die Woche dort.

Don: "Ich bin der letzte in meiner Firma, der schon so lange dabei ist. In vier Jahren gehe ich in Rente."

In der Fabrik verdient er 1,6 Millionen Dong im Monat - 60 Euro. Ein durchschnittlicher Lohn für Fabrikarbeiter. In guten Monaten können er und sein Mitarbeiter Phu mit der Feierabend-Schreinerei zwei Millionen Dong dazu verdienen. Auch Phu hat Arbeit in der Streichholzfabrik gefunden. Er stammt aus dem gleichen Ort wie Don.

Phu: "Zu Hause gibt es nur Reisfelder. Das Einzige, was man dort machen kann, ist als Bauer zu arbeiten. Hanoi ist besser. Hier kann man mehr verdienen."

Um die Ecke ist ein kleiner Markt, auf dem Bäuerinnen Gemüse und alltäglichen Kleinkram verkaufen. Das Viertel ist in den siebziger Jahren gebaut worden, als die Tschechoslowakei ihren sozialistischen Brüdern in Nordvietnam ein Sägewerk errichtet hat. In der Dens Schreinerei steht Phu in kurzer Hose und einem lilafarbenen Hemd, dass vom Sägemehl ein wenig bräunlich geworden ist an der Werkbank. Er ist noch kein Jahr in der Stadt.

Phu: "Ich habe nicht viel gelernt. Deshalb gibt es für mich nur eins: hart arbeiten. Ich bin gerade frisch verheiratet. Wir versuchen jetzt so viel Geld wie möglich zu verdienen. Damit es später etwas leichter für uns ist, wenn wir Kinder haben."

Doch auf ein abgesichertes Arbeitsleben wie Don kann Phu nicht hoffen. Dass Arbeiter noch in den vollen Genuss von Sozialleistungen kommen, ist auch in Staatsbetrieben nicht mehr selbstverständlich. Auch wenn die staatlichen Unternehmen als zuverlässiger gelten als Privatunternehmen.

Die Arbeitsgesetze werden eher eingehalten, es gibt weniger Proteste. Dennoch, für die Jungen seien auch in seiner Fabrik die Regeln härter geworden, sagt Don, der sich neben seinen Holzstapeln auf einem niedrigen Hocker niedergelassen hat.

Don: "Die Firma gibt ihnen nur Verträge für sechs Monate. Dann muss man ihnen nämlich keine Krankenversicherung bezahlen. Und wenn sie gut arbeiten, bekommen sie nach den sechs Monaten den nächsten befristeten Vertrag."

Natürlich habe sich auch vieles in Vietnam verbessert, sagt er. Besonders für junge und gebildete Vietnamesen gebe es heute viel mehr Möglichkeiten als zu seiner Zeit. Aber für einfache Arbeiter sei der Alltag hart geblieben.

Don: "Das Leben ist so in Vietnam. Ich muss das akzeptieren. Meine Frau und ich arbeiten. Zusammen reicht es gerade so, damit unser Sohn studieren kann. Es reicht gerade so zum Leben. Solange ich arbeiten kann, kommen wir über die Runden."

Dann zieht er ein weiteres Holzstück zu sich und beginnt, Brett für Brett eine weitere Tür zurechtzusägen für die Zukunft seines Sohnes.