"Wenig Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung"

Swetlana Alexijewitsch im Gespräch mit Frank Meyer · 21.09.2010
Als eine Gesellschaft der Angst beschreibt Swetlana Alexijewitsch das Leben in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die weißrussische Autorin ist zu Gast auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin. Ihr neues Buch "Secondhand-Zeit" erscheint 2011.
Frank Meyer: Früher hatten die Menschen Angst vorm KGB, heute vorm Leben. So beschreibt die Autorin Swetlana Alexijewitsch die Prägung vieler Menschen in der ehemaligen Sowjetunion. Den Sowjetmenschen in sich sind viele von ihnen noch nicht los geworden, und ihre Kinder und Enkel wünschen sich häufig wieder einen starken Mann an der Spitze des Staates – so wie Stalin das war. Bald wird ein Buch von Swetlana Alexijewitsch erscheinen unter dem Titel "Das Ende des roten Menschen". Ein Buch, in dem die Autorin von ihren Gesprächen mit Menschen aus der früheren Sowjetunion erzählt.

Zurzeit ist Swetlana Alexijewitsch in Berlin als Gast des Internationalen Literaturfestivals. Ich habe vor der Sendung mit ihr gesprochen und sie zuerst gefragt: Was ist denn das, ein roter Mensch oder ein Sowjetmensch aus heutiger Sicht?

Swetlana Alexijewitsch: Heute, 20 Jahre nach der Perestroika kann man, glaube ich, sagen, dass wir ein Land hatten, das ein ganz besonderes Phänomen war, eine rote Zivilisation sozusagen und damit auch eine besondere Art von Menschen, die es bis dahin nicht gegeben hat und jetzt auch nicht mehr gibt, nämlich den roten Menschen, der in dieser Zivilisation gelebt hat.

Und das Verhältnis zu diesen roten Menschen hat sich in diesen zwei Jahrzehnten auch stark geändert. Gab es in den ersten Jahren vor allem eine Abscheu, eine Abgrenzung von diesen roten Menschen und von den Erfahrungen, die damals gemacht wurden, so kann man heute beobachten, dass es ein Zurücksehnen danach gibt. In dem heutigen Russland herrscht eine fast revolutionäre Stimmung, die versucht zu begreifen, was ist da mit uns passiert, was waren wir und welche Erfahrungen haben wir gemacht.

Meyer: Das würde ich mir gern an einem Beispiel anschauen. Es gibt aus Ihrem geplanten Buch schon einige Teile, die es auf Deutsch gibt, und in einer Geschichte, die Sie aufgeschrieben haben, geht es um die damals 59-jährige Architektin Anna. Zum Zeitpunkt Ihres Gesprächs war sie so alt. Diese Frau ist als vier Monate altes Baby in ein Straflager gekommen, gemeinsam mit ihrer Mutter in ein sowjetisches Straflager, mit fünf Jahren kam sie dann weg von der Mutter und aus dem Lager in ein Kinderheim. Und dort hat sie immer wieder gehört, in diesem Kinderheim: Euch darf man totschlagen, weil eure Mütter Feinde sind.

Und wenn man jetzt bei einem Menschen verstehen könnte, dass er voller Hass zurückblickt auf diese Sowjetunion, die für Sie vor allem ein System der Lager war, der Straflager, dann würde man das bei dieser Anna eben verstehen, aber selbst diese Frau hat so eine Art Sehnsucht zurück in die Sowjetunion. Wie kann man das erklären?

Alexijewitsch: Gerade in dieser Generation gibt es sehr viele Menschen, die sich danach zurücksehnen, aber interessant ist auch das Phänomen, dass auch sehr viele junge Menschen sich nach dieser Zeit zurücksehnen. Ich habe ein ähnliches Beispiel einer Frau, etwa im selben Alter wie diese Anna, die Sie erwähnen, diese Architektin, die sagt: Früher hatte ich Angst vorm KGB, heute habe ich Angst vorm Leben. Das heißt, diese Menschen, die durch all diese schlimmen Erfahrungen gegangen sind, durch Gefängnisse, durch Lager, durch all das, was sie erlebt haben in diesem System, haben das Gefühl, heute mit dem Leben nicht zurechtzukommen und haben Angst davor, weil sie das nicht kennen, weil sie nicht wissen, wie sie das bewältigen sollen.

Und dann gibt es noch etwas: Bei allem Blutvergießen, was die Sowjetzeit mit sich gebracht hat und allem Schrecken, das die Menschen auch erlebt haben, ist es so, dass doch der kleine Mensch in diesem Sowjetsystem sich aufgehoben fühlte, weil er immer wusste, er wird immer versorgt sein – auf einem niedrigen Niveau, aber alle sind gleich. Und er hatte das Gefühl, er ist der Wichtigste, er steht im Mittelpunkt und für ihn ist gesorgt.

Während heute in der Zeit, wo die Gesellschaft in Arme und Reiche geteilt ist und sehr stark geteilt ist, keiner sich eigentlich mit dieser Tatsache abfinden möchte. Weil diese Gleichmacherei, die es gab in der Sowjetunion, entsprach nicht nur der sowjetischen Mentalität, sondern auch der slawischen Mentalität insgesamt, also der russischen, der ukrainischen, der weißrussischen. Und dass die Gesellschaft heute so geteilt ist in Arm und Reich, möchte eigentlich niemand akzeptieren. Und deswegen gibt es ein Zurücksehnen nach dem, als wir alle gleich waren, weil der Reichtum von vielen als auch nicht rechtmäßig erworben gesehen wird.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, die Autorin Swetlana Alexijewitsch ist bei uns zu Gast. Sie arbeitet an einem neuen Buchprojekt, "Das Ende des roten Menschen" in der früheren Sowjetunion, und dafür führt sie Gespräche mit Menschen, die in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben, über ihre Wahrnehmung des Lebens heute. Und wir haben jetzt vor allem über die ältere Generation gesprochen, die den Sozialismus sowjetischer Prägung vor allem erlebt hat.

Aber Sie sagen, auch bei den Jüngeren gibt es so eine Sehnsucht zurück nach einer Art Sowjetunion, nach einem Leben im Sozialismus. Woher kommt das bei den jüngeren Menschen, mit denen Sie gesprochen haben?

Alexijewitsch: Das war eine der größten Erschütterungen, die ich erlebt habe, als ich bei meinen Reisen durch Weißrussland, Russland und die Ukraine mit jüngeren Menschen auch gesprochen habe, dass sich herausstellte, dass die Hoffnungen, die man in der Perestroikazeit hatte – also da wurde gesagt, wir werden in 20 Jahren eine ganz andere Generation haben, es werden ganz neue Menschen sein, ein ganz anderer Charakter und niemand wird mehr an diese Sowjetzeit zurückdenken und sich danach zurücksehnen. So hat sich gezeigt, dass sehr viele dieser jungen Menschen sehr anti Putin, anti Jelzin eingestellt sind, weil sie das Gefühl haben, dass sie überhaupt nichts bewirken und überhaupt nichts erreichen können.

Konnte man in der Anfangszeit noch durch Proteste, durch Demonstrationen, durch Kundgebungen, durch Proteste in den Betrieben irgendwas verändern und bewirken, so ist das heute alles vollkommen zwecklos. Das heißt, man kann auf die Straße gehen und seine Meinung sagen, aber es ändert sich nichts. Und deswegen fühlen sich diese jungen Menschen auch betrogen und rechtlos und sind eben sehr gegen das System eingestellt.

Meyer: Aber ich muss gerade daran denken, auch weil Sie die Ukraine erwähnten, dort sind Sie ja geboren. Wir haben alle noch die Bilder vor Augen von der orangenen Revolution in der Ukraine. Heißt das nicht auch, es gibt zumindest historische Momente, in denen diese Angst, von der Sie auch ständig sprechen, auch überwunden werden kann?

Alexijewitsch: Man könnte diese orange Revolution ein bisschen vergleichen mit dem Putsch 1991 in Russland. Bei dem Putschversuch haben wir, die demokratischen liberalen Kräfte gesiegt, der Putsch wurde niedergeschlagen, aber wenn wir das heute betrachten aus der Rückschau, können wir sagen, leider hat der Putsch gesiegt, denn die Generale, die Militärs, die damals versucht haben, diesen Putsch durchzuführen, das sind heute eigentlich die Sieger und wir, die liberale Intelligenz, hat verloren.

Und so ähnlich sieht das in der Ukraine aus. Daran sind zum großen Teil natürlich auch die Anführer dieser orangenen Revolution selber schuld. Also Janukowitsch kam an die Macht und damit ist eigentlich alles wieder zurückgeschraubt worden. Und man kann am Ende sagen, wir sind die Verlierer geblieben.

Meyer: Wenn ich Ihnen so zuhöre, Swetlana Alexijewitsch, wenn Sie beschreiben, was Sie erfahren haben durch Ihre Gespräche mit älteren und jüngeren Menschen, in Russland, in anderen Ländern der früheren Sowjetunion, dann habe ich den Eindruck, als ob es gar keine Alternative geben könnte zu der totalitären Regierungsform, die Putin eingerichtet hat und von Medwedew jetzt weitergeführt wird, als ob das den Sehnsüchten der Menschen dort auch entgegenkäme?

Alexijewitsch: Man kann im Grunde genommen sagen, die einzigen Länder, die es wirklich geschafft haben, die ehemals zur Sowjetunion gehörten, sind die baltischen Staaten. Dort hat sich wirklich eine demokratische Veränderung vollzogen. In allen anderen Staaten hat eigentlich mehr oder weniger ein totalitäres System gesiegt. Das ist in der Ukraine mehr oder weniger der Fall, also Janukowitsch geht in diese Richtung, in Weißrussland ist es ganz eindeutig so, auch in Russland mit Putin, Medwedew ist nicht anders. Und wir, die liberale Intelligenz, müssen heute anerkennen, wir waren Romantiker damals. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass es unmöglich ist, im Laufe von 20 Jahren Demokratie zu verwirklichen und durchzusetzen. Und so sind wir die eigentlichen Verlierer.

Meyer: Das ist Ihr Schlusswort: Es gibt die Voraussetzung nicht, was ja auch hieße, auch für die nächsten Jahrzehnte gibt es diese Hoffnung nicht. Sie haben diese Hoffnung nicht?

Alexijewitsch: Ja, es ist eigentlich so, dass - ich habe jetzt auch bei Gesprächen mit den Schriftstellern, die hier zum Literaturfestival in Berlin waren, das auch immer wieder gehört - dass bei allen eigentlich die Meinung so vorherrscht, dass im Grunde genommen es wenig Hoffnung gibt auf irgendeine demokratische Entwicklung in den nächsten Jahren. Dass aber eine große Angst herrscht vor einer Totalisierung und vor allem vor einem nationalistischen Putsch oder einem Umsturz in diese Richtung, also dass sich das alles noch sehr viel verschärfen wird in diese nationalistisch-faschistische Richtung.

Diese Gefahr gibt es durchaus, solche Kräfte gibt es überall, und es herrscht bei allen relativ wenig Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung. Allerdings gibt es immer noch die Hoffnung auf die Vernunft des Volkes, dass sie diese wirkliche Faschisierung der Gesellschaft nicht zulassen wird. Aber einen großen Optimismus findet man heute in der liberalen Intelligenz eigentlich nicht.

Man muss leider sogar noch weiter gehen: Es ist so, dass heute die liberale Intelligenz als die eigentlich Schuldigen betrachtet werden. Der russische Patriarch zum Beispiel hat vor Kurzem gesagt, wenn es um Reue ginge, dann müsse vor allem die Intelligenz Reue zeigen, denn sie sei es gewesen, die damals das russische Volk in diese Katastrophe geführt habe.

Meyer: Swetlana Alexijewitsch war hier bei uns zu Gast. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Alexijewitsch: Spasiba (Dankeschön).

Meyer: Und Ganna-Maria Braungardt hat dieses Gespräch für uns übersetzt. Sie wird auch das Buch von Swetlana Alexijewitsch ins Deutsche übersetzen. Der Titel wird sein: "Secondhand-Zeit. Das Ende des roten Menschen". Im kommenden Jahr soll dieses Buch im Berlin Verlag erscheinen. Also Ganna-Maria Braungardt, vielen Dank auch an Sie!

Ganna-Maria Braungardt: Danke Ihnen auch!
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