Wendland in Hannovers Innenstadt

Von Volkhard App · 23.09.2010
"Republik Freies Wendland - reaktiviert - das Staatstheater Hannover baut vor einer historischen Spielstätte ein Hüttendorf à la Gorleben auf. Dort werden Jugendliche, nur ein paar Meter vom Landtag entfernt, über Atomkraft debattieren - und Theater spielen.
"Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen”, riet Aufklärer Immanuel Kant den Mitmenschen - die Veranstalter des hannoverschen Kultur- und Politspektakels haben diesen Ratschlag leicht abgewandelt: "Habe Mut, Dich Deines eigenen Hammers zu bedienen.” Ein Spruch mit Realitätsgehalt, denn tagelang wurde an dem Hüttendorf und an der provisorischen Bühne gebaut, an diesem "Widerstandsnest" gegen AKWs, Zwischen- und Endlager und die Berliner Politik. Mit Theater, Filmprojektionen, Konzerten, Informationen und Diskussionen wartet das vielfältige Programm vor dem "Ballhof"-Theater auf, viel Wind macht es und produziert gelegentlich laute Töne.

Der gestrige dumme Joghurtanschlag eines maskierten Fundis auf den zum Gespräch angereisten Politiker Jürgen Trittin ist zwar schlagzeilenträchtig, aber nicht typisch für das Klima in dieser "Republik Freies Wendland” anno 2010 . Leider ist das Streitgespräch über die richtige Strategie gegen Kernkraft auf diese Weise verhindert worden - zum Bedauern des Staatsschauspiels und der jungen Leute, die das Projekt vor dem Ballhof tagein tagaus beleben und mit Ruck- und Schlafsäcken das Theaterfoyer in Beschlag genommen haben:

"Wir waren gespannt auf eine interessante Diskussion und hätten die Möglichkeit gehabt, mit einem Politiker zu sprechen, der nicht alle Tage bei uns ist. Und diese Diskussion wurde einfach zunichtegemacht, von wem auch immer."

Ansonsten ist hier reichlich Raum für Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Aktivisten der ersten Stunde erinnerten an das historische Dorf im Wendland vor 30 Jahren, das sich nach wenigen Wochen alternativen Lebens mit einem massiven Polizeiaufgebot konfrontiert sah. Rebecca Harms, die heute der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament vorsteht, zur Räumung im Juni 1980:

"All das, was man falsch machen kann an Eskalation gegenüber gewaltfrei Protestierenden, all das wurde falsch gemacht. Der Polizeieinsatz war einer der größten und härtesten in der Geschichte der Bundesrepublik, er war völlig unverhältnismäßig. Ich weiß von beteiligten Polizisten, dass sie sich gewundert haben über dieses bürgerkriegsähnliche Szenario, um friedlich Protestierende abzuräumen. Ich glaube, dass man damals auf Seiten des Staates unterschätzt hat, dass dies zusammenschweißt und mehr Sympathien bringt für unsere junge Bewegung. Ich weiß aber auch, dass bis heute dieser Fehler fortgesetzt worden ist. Gerade in Lüchow-Dannenberg wird ja konsequent mit überzogenen und unangemessenen Polizeieinsätzen gewaltfreier Protest abgeräumt."

Die Kunst kam in Hannover bei soviel Erinnerung nicht zu kurz. Ibsens Drama "Ein Volksfeind”, in dem es ja um einen Umweltskandal geht, um Öffentlichkeit und um Demokratie, wurde nach draußen verlegt - die Inszenierung Florian Fiedlers passte mit den kräftigen Zutaten in diese "Open Air”-Atmosphäre.

Etwas schmaler fiel der Auftritt des international bekannten "Bread & Puppet”-Theaters aus, aber der Aufwand reichte noch für einen kurzen Zug durch die hannoversche Innenstadt: mit Masken, Stabfiguren und furchterregenden Tafeln, auf denen Namen wie "Eon” und "Vattenfall” gepinselt waren.

Einen "Staat nach Deinen Vorstellungen” stellt das Staatsschauspiel den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Aussicht und damit ein Stück Utopie. Intendant Lars-Ole Walburg:

"Mich interessiert vor allem, wie man aus der Idee ‚Freie Republik Wendland‘ heraus jetzt 30 Jahre später mit Jugendlichen ins Gespräch kommt, um sie nach ihren Zukunftsvorstellungen zu fragen."

"Republik Freies Wendland - reaktiviert”: dieser Name, der über allem steht, hat aber zeitig Kritiker auf den Plan gerufen. Von konservativer Seite wird mit Sorge angefragt, ob ein öffentlich subventioniertes Theater ein solch politisches Projekt überhaupt veranstalten dürfe. Regisseur Fiedler, einer der Initiatoren:

"Ich freue mich, wenn Leute, die uns Politik verbieten wollen, anfangen, sich für Theater zu interessieren und auf diese Weise in die Debatte einsteigen wollen. Was Theater kann oder nicht kann bzw. darf, das interessiert mich wirklich gar nicht. Das Theater hat sich so verändert in den letzten 200 Jahren. Politisch war es auch schon vor 2000 Jahren. Dass das Theater andere Orte aufsucht und die Grenze zur Realität überschreitet und Vermischungen mit Video, Performance und Musik stattfinden, das gibt es schon länger, das haben wir nicht erfunden. Und wenn jemand jetzt das erste Mal von Theater hört und sich dazu äußert, interessiert mich das nicht so sehr."

Wann darf in den Augen der Theaterleute dieses Projekt denn als gelungen angesehen werden? Dramaturg Aljoscha Begrich, der andere Hüttendorf-Initiator:

"Gelungen ist es jetzt schon, weil es stattfindet. Was ich mir wünsche, ist zum einen überrascht zu werden von dem Zusammenleben hier, wie wir mit den Jugendlichen über utopische Lebensformen diskutieren, über das Verständnis von Demokratie und das sich-Einmischen in die Gesellschaft. Und zum anderen hoffe ich, dass wir die Themen Atomkraft und Endlagerung in die breite Mitte der Gesellschaft tragen und unser bürgerliches Theaterpublikum damit erreichen."

Es ist viel diskutiert worden in den letzten Stunden: einig ist man sich darin, dieses Projekt fortzusetzen, das bislang offenbar auch viele positive Erfahrungen beschert hat. Noch.

Link:
Staatsschauspiel Hannover: "Republik Freies Wendland - Reaktiviert"
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