Wenders: Europäisches Kino ist "kleine Utopie von einem anderen Europa"
Das europäische Kino muss sich nach Ansicht von Wim Wenders keine Sorgen um seine Zukunft machen. Der Regisseur sagte, es werde auch in Zukunft ein großes Bedürfnis nach dem europäischen Kino geben.
Andreas Müller: Am 26. November 1988 wurde er zum ersten Mal in diversen Kategorien verliehen: der Europäische Filmpreis, damals noch Felix genannt. Krysztof Kieślowskis "Ein kurzer Film über das Töten" wurde bester Film, Wim Wenders bekam den Felix als bester Regisseur für "Der Himmel über Berlin". Wenders gehört selbst zu den Gründungsvätern des europäischen Filmpreises, mit anderen europäischen Filmschaffenden hat er damals ein Gegengewicht zu den Oscars schaffen wollen. Jetzt ist Wenders bei uns zu Gast, schönen guten Morgen!
Wim Wenders: Schönen guten Morgen, Herr Müller!
Müller: Ja, das klingt auch heute noch, mit Verlaub, ein bisschen irre: Wir machen mal einen europäischen Oscar. Welches Grüppchen von Filmleuten hatte denn damals diese Vision?
Wenders: Das war schon ein kleiner Club, das waren fast 20 Leute, angeführt von niemand anderem als Ingmar Bergman, und das war schon beachtlich, was da zusammengekommen ist in diesem Zimmer im Hotel Kempinski damals. Und wir waren uns vielleicht nicht so ganz bewusst der historischen Stunde, aber wir wussten schon: Das ist schon was Erstaunliches, was wir da machen wollen. Dass wir jetzt – ein Vierteljahrhundert – drüber reden, was daraus geworden ist, das hatten wir uns damals allerdings auch nicht erträumt.
Müller: Ein Zimmer im Kempinski – was für ein Ort für die Gründung dieses Filmpreises, dieser Idee. Seit 1988 gibt es diese europäischen Oscars. Dennoch, wenn man ehrlich ist, strahlen die Oscars mehr und der Europäische Filmpreis deutlich weniger als die goldenen Kollegen aus Hollywood. Woran liegt das?
Wenders: Die haben früher angefangen, haben auch mit ihren Zuschauerzahlen zu kämpfen, während wir offensichtlich jetzt inzwischen fast in 50 Ländern übertragen werden. Aber wir haben halt später angefangen, und da mussten wir erst mal schwer aufholen. Und dann ist es auch leichter, in einem Binnenmarkt wie Amerika einen Preis zu verleihen, wo jeder sich kennt und wo alle Schauspieler bekannt sind, und wo man eine Plattform hat von ein 100 Millionen Leuten, Zuschauern. Europa ist halt ein ganz anderes Territorium, da gibt es jetzt immerhin fast 50 filmproduzierende Nationen, und wir haben es da wesentlich schwerer als die Amerikaner mit ihrem Oscar. Trotzdem haben wir da jetzt in einem Vierteljahrhundert was geschaffen: Dieser Stempel, Europäischer Filmpreis, auf einem Plakat, das bringt was, das wird in der ganzen Welt notiert, das bringt Filmen Publicity, das bringt europäische Filme auch in Länder, wo sie vorher nicht hingekommen wären – also wir sind eigentlich hochzufrieden mit dem, was wir in 25 Jahren erreicht haben.
Müller: Also das ist etwas, was Sie durchaus geschafft haben. Wie viel von Ihren damaligen Ideen, Träumen und Visionen konnten Sie denn tatsächlich noch verwirklichen?
Wenders: Ja, die Idee war: Es war damals nur ein Club von 100 Leuten, begrenzt erst mal, der Ingmar Bergman wollte das eher so als Club organisiert sehen, dann haben wir es doch erweitert zu einer Akademie, die inzwischen innerhalb 2.500 Mitglieder in ganz Europa hat, und wir haben glaube ich unser Ziel, dem europäischen Kino eine andere Plattform zu geben, auch ein anderes Bewusstsein, auch eine andere Zusammengehörigkeit, da haben wir viel für getan.
Müller: Morgen werden in Berlin die Europäischen Filmpreise vergeben, bei uns zu Gast ist der Präsident der Europäischen Filmakademie, der Regisseur Wim Wenders. Schauen wir eben noch mal genauer auf diesen Jahrgang, der sieht tatsächlich recht stark aus: Lars von Triers "Melancholia", Aki Kaurismäkis "Le Havre", Tom Hoopers "The King’s Speech" – das zeigt Genrevielfalt und gleichzeitig sehr persönliche Handschriften. Sie selbst wollen wir nicht vergessen, Sie sind mit "Pina" in der Kategorie bester Dokumentarfilm nominiert. Wie steht das europäische Kino im Moment da?
Wenders: Ach, eigentlich ganz stark, wir haben schon mal viel schlechtere Zeiten in Europa gehabt, wo das jeweilige nationale Kino in seinem Land auch nur noch ein, zwei, drei%chen hatte. Wir sind jetzt in vielen Ländern wieder über 20 Prozent Anteil von Europäischen oder sogar noch mehr, in den nordischen Ländern sogar noch mehr. Und da kann man eigentlich nur sagen: Da haben wir erst mal viel geleistet. Wir wollen natürlich noch mehr, weil wir haben da tolle Filme am Start, denen es im Verhältnis zu dem, was sie darstellen, am Weltmarkt noch nicht so gut geht, wie es gehen könnte.
Müller: Dieses europäische Kino, das ist immer noch ein Autorenkino. Ist das auch die Stärke, die dann jetzt auch plötzlich wieder – Sie haben die Zahl gerade genannt – gefragt wird?
Wenders: Ja, Autorenkino, es ist ein Independent-Kino, auf jeden Fall, hin und wieder auch autorengetrieben, aber nicht unbedingt, im Fall von Lars von Trier ja, bestimmt zum Beispiel, aber es ist vor allem spezifisch. Das ist ein Kino, was eine Handschrift hat, was aus einem Kulturkreis kommt, wo die Leute eine Sprache sprechen, wo man merkt, das ist ein wirkliches Problem, das sind wirkliche Orte, das sind nicht nur irgendwelche Unorte oder irgendwelche Nichtorte wie oft im amerikanischen Kino, wo man ja manchmal gar nicht wissen soll, wo es spielt. Das ist ja manchmal auch das Interesse, dass es der größte gemeinsame Nenner ist und eigentlich nirgendwo mehr spielt. Unsere europäischen Filme haben alle einen Nährboden, regionalen oder nationalen, und das macht auch das europäische Kino aus, dass wir wo hingehören und wissen, wovon wir erzählen.
Müller: Wie sieht es nun aber mit dem deutschen Film aus? Sie sind, wie gesagt, nominiert, der Kameramann Fred Kelemen für seine Arbeit bei dem Ungarn Béla Tarr, sonst ist nicht viel. Ja, wo steht der deutsche Film im Vergleich zur europäischen Konkurrenz?
Wenders: Der deutsche Film steht in diesem Jahr, da haben Sie ganz recht, ein bisschen dünne da in der europäischen Auswahl, im vorigen Jahr stärker, dann hatten wir ein paar Jahre, wo es dann fast verdächtig war, dass die deutschen Filme immer gewonnen haben – das geht so auf und ab, da kann man auch nichts dran machen, weil letzten Endes entscheidet ja bei uns auch keine Jury oder kein Gremium, das ist die Gesamtheit der Mitglieder aus ganz Europa, eine ganz demokratische Entscheidung. Und viele Filme sind tatsächlich einfach noch nicht genug rausgekommen oder sind erst gerade so rausgekommen, dass sie eigentlich erst dann wieder ab dem nächsten Jahr wählbar sind.
Müller: Es ist tatsächlich so wie bei den großen amerikanischen Vorbildern: Die Akademiemitglieder bekommen DVDs geschickt, gucken die sich dann zu Hause an und geben dann ihre Stimmen ab.
Wenders: Richtig, kriegen ein heißes Päckchen.
Müller: Ihr Film "Pina" geht ja auch für ja gleich zwei Oscars ins Rennen dieses beziehungsweise nächstes Jahr, als bester nicht-englischsprachiger Film und als bester Dokumentarfilm. Was würden Sie denn lieber gewinnen, den Europäischen Filmpreis oder den Oscar?
Wenders: Machen wir das doch mal chronologisch: Machen wir doch erst mal den Europäischen Filmpreis an diesem Wochenende, und dann reden wir mal weiter. Mit den Oscars ist das auch immer noch eine weite Reise. Wir sind ja nicht mal nominiert, wir sind jetzt also auf der Shortlist, wie das so schön heißt, bei den Dokumentarfilmen, und bei den besten foreign films wissen wir erst im Januar, ob wir die Kurve da kriegen. Also das ist noch ein bisschen weit weg. Ich freue mich jetzt erst mal auf unseren Europäischen Filmpreis.
Müller: Colin Firth hat bereits einen Oscar für seine Rolle in "The King’s Speech" bekommen, jetzt, ein Dreivierteljahr später, ist er für den Europäischen Filmpreis nominiert. Wird das nicht so ein bisschen überschattet eigentlich?
Wenders: Ja, das ist so ein Fall, wo der Film gerade rausgekommen ist, dass der voriges Jahr nicht mehr wählbar war, und jetzt eigentlich so ein bisschen schon lange her ist. Aber irgendwie muss man ja so ein Jahr, für das man Preise vergibt, definieren, und "King’s Speech" war groß auch überall im Kino Anfang des Jahres, im Frühling, und da kann man nichts dran ändern, dass der jetzt auch noch als ein bisschen älterer Film bei uns hängt.
Manchmal ist es halt umgekehrt: Dann kommen die Filme halt gerade raus und dann haben sie ein besseres Timing sozusagen für den Preis. Aber gleichzeitig ist das eine tolle Leistung gewesen, das ist einer der schönsten europäischen Filme in vielen Jahren, und das tut dem Film bestimmt auch noch mal so einen Schub geben, wenn er jetzt rauskommt, und vielleicht ist das dann letzten Endes auch nur noch der Schub für die DVDs, aber irgendwie können wir ihn ja deswegen nicht untern Teppich kehren, weil er gerade um die Kurve rausgekommen ist, wo wir dicht machen mussten.
Müller: Ein Vierteljahrhundert ist nun vergangen seit den ersten Ideen, den ersten Treffen sozusagen. Jetzt kann man nach vorne gucken: Was wünschen Sie denn dem europäischen Kino für seine Zukunft, ja insbesondere vor dem Hindergrund der Krise, die große Teile Europas derzeit ja erschüttert?
Wenders: Ja, wir liefern ja ein richtiges Gegenbild dazu: Also Europa des Kinos ist ein anderes Europa als das zerstrittene Europa der Finanzmärkte. Wir haben ja eine ganz andere Art von Europa, wir haben Europa im weitesten Sinne gefasst, bei uns sind auch Palästinenser und Israelis Mitglieder und die Türken sowieso. Also unsere Idee von Europa ist sehr großzügig und auch viel weniger auf Konkurrenz aufgebaut. Das ist eher eine große europäische Filmfamilie, die sich gerade durch Solidarität auszeichnet, weil: Nur so gibt es all unsere vielen kleinen Nationalkinos, dadurch, dass es dieses Dach des europäischen Films oben drüber gibt. Und insofern sind wir schon eine kleine Utopie von einem anderen Europa, was ein Europa der Kulturen ist und ein Europa der Menschen und der Regionen, und nicht ein Europa der Märkte.
Müller: Also muss man sich auch um diesen europäischen Film derzeit keine Sorgen machen?
Wenders: Nein. Das Bedürfnis danach ist groß, glaube ich, und gerade, wo das Mainstream-Kino ja so viel abdriftet und immer mehr in Fantasy, glaube ich, das europäische Kino ist ja doch in großem Maße wirklich auch eingewurzelt in die Geschichten und den Ländern und den Regionen. Ich glaube, es wird auch in Zukunft ein großes Bedürfnis dafür geben.
Müller: Morgen werden in Berlin die Europäischen Filmpreise vergeben. Das war dazu der Regisseur und Präsident der Europäischen Filmakademie Wim Wenders. Haben Sie vielen Dank!
Wenders: Ganz vielen Dank, Herr Müller! Tschüss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wim Wenders: Schönen guten Morgen, Herr Müller!
Müller: Ja, das klingt auch heute noch, mit Verlaub, ein bisschen irre: Wir machen mal einen europäischen Oscar. Welches Grüppchen von Filmleuten hatte denn damals diese Vision?
Wenders: Das war schon ein kleiner Club, das waren fast 20 Leute, angeführt von niemand anderem als Ingmar Bergman, und das war schon beachtlich, was da zusammengekommen ist in diesem Zimmer im Hotel Kempinski damals. Und wir waren uns vielleicht nicht so ganz bewusst der historischen Stunde, aber wir wussten schon: Das ist schon was Erstaunliches, was wir da machen wollen. Dass wir jetzt – ein Vierteljahrhundert – drüber reden, was daraus geworden ist, das hatten wir uns damals allerdings auch nicht erträumt.
Müller: Ein Zimmer im Kempinski – was für ein Ort für die Gründung dieses Filmpreises, dieser Idee. Seit 1988 gibt es diese europäischen Oscars. Dennoch, wenn man ehrlich ist, strahlen die Oscars mehr und der Europäische Filmpreis deutlich weniger als die goldenen Kollegen aus Hollywood. Woran liegt das?
Wenders: Die haben früher angefangen, haben auch mit ihren Zuschauerzahlen zu kämpfen, während wir offensichtlich jetzt inzwischen fast in 50 Ländern übertragen werden. Aber wir haben halt später angefangen, und da mussten wir erst mal schwer aufholen. Und dann ist es auch leichter, in einem Binnenmarkt wie Amerika einen Preis zu verleihen, wo jeder sich kennt und wo alle Schauspieler bekannt sind, und wo man eine Plattform hat von ein 100 Millionen Leuten, Zuschauern. Europa ist halt ein ganz anderes Territorium, da gibt es jetzt immerhin fast 50 filmproduzierende Nationen, und wir haben es da wesentlich schwerer als die Amerikaner mit ihrem Oscar. Trotzdem haben wir da jetzt in einem Vierteljahrhundert was geschaffen: Dieser Stempel, Europäischer Filmpreis, auf einem Plakat, das bringt was, das wird in der ganzen Welt notiert, das bringt Filmen Publicity, das bringt europäische Filme auch in Länder, wo sie vorher nicht hingekommen wären – also wir sind eigentlich hochzufrieden mit dem, was wir in 25 Jahren erreicht haben.
Müller: Also das ist etwas, was Sie durchaus geschafft haben. Wie viel von Ihren damaligen Ideen, Träumen und Visionen konnten Sie denn tatsächlich noch verwirklichen?
Wenders: Ja, die Idee war: Es war damals nur ein Club von 100 Leuten, begrenzt erst mal, der Ingmar Bergman wollte das eher so als Club organisiert sehen, dann haben wir es doch erweitert zu einer Akademie, die inzwischen innerhalb 2.500 Mitglieder in ganz Europa hat, und wir haben glaube ich unser Ziel, dem europäischen Kino eine andere Plattform zu geben, auch ein anderes Bewusstsein, auch eine andere Zusammengehörigkeit, da haben wir viel für getan.
Müller: Morgen werden in Berlin die Europäischen Filmpreise vergeben, bei uns zu Gast ist der Präsident der Europäischen Filmakademie, der Regisseur Wim Wenders. Schauen wir eben noch mal genauer auf diesen Jahrgang, der sieht tatsächlich recht stark aus: Lars von Triers "Melancholia", Aki Kaurismäkis "Le Havre", Tom Hoopers "The King’s Speech" – das zeigt Genrevielfalt und gleichzeitig sehr persönliche Handschriften. Sie selbst wollen wir nicht vergessen, Sie sind mit "Pina" in der Kategorie bester Dokumentarfilm nominiert. Wie steht das europäische Kino im Moment da?
Wenders: Ach, eigentlich ganz stark, wir haben schon mal viel schlechtere Zeiten in Europa gehabt, wo das jeweilige nationale Kino in seinem Land auch nur noch ein, zwei, drei%chen hatte. Wir sind jetzt in vielen Ländern wieder über 20 Prozent Anteil von Europäischen oder sogar noch mehr, in den nordischen Ländern sogar noch mehr. Und da kann man eigentlich nur sagen: Da haben wir erst mal viel geleistet. Wir wollen natürlich noch mehr, weil wir haben da tolle Filme am Start, denen es im Verhältnis zu dem, was sie darstellen, am Weltmarkt noch nicht so gut geht, wie es gehen könnte.
Müller: Dieses europäische Kino, das ist immer noch ein Autorenkino. Ist das auch die Stärke, die dann jetzt auch plötzlich wieder – Sie haben die Zahl gerade genannt – gefragt wird?
Wenders: Ja, Autorenkino, es ist ein Independent-Kino, auf jeden Fall, hin und wieder auch autorengetrieben, aber nicht unbedingt, im Fall von Lars von Trier ja, bestimmt zum Beispiel, aber es ist vor allem spezifisch. Das ist ein Kino, was eine Handschrift hat, was aus einem Kulturkreis kommt, wo die Leute eine Sprache sprechen, wo man merkt, das ist ein wirkliches Problem, das sind wirkliche Orte, das sind nicht nur irgendwelche Unorte oder irgendwelche Nichtorte wie oft im amerikanischen Kino, wo man ja manchmal gar nicht wissen soll, wo es spielt. Das ist ja manchmal auch das Interesse, dass es der größte gemeinsame Nenner ist und eigentlich nirgendwo mehr spielt. Unsere europäischen Filme haben alle einen Nährboden, regionalen oder nationalen, und das macht auch das europäische Kino aus, dass wir wo hingehören und wissen, wovon wir erzählen.
Müller: Wie sieht es nun aber mit dem deutschen Film aus? Sie sind, wie gesagt, nominiert, der Kameramann Fred Kelemen für seine Arbeit bei dem Ungarn Béla Tarr, sonst ist nicht viel. Ja, wo steht der deutsche Film im Vergleich zur europäischen Konkurrenz?
Wenders: Der deutsche Film steht in diesem Jahr, da haben Sie ganz recht, ein bisschen dünne da in der europäischen Auswahl, im vorigen Jahr stärker, dann hatten wir ein paar Jahre, wo es dann fast verdächtig war, dass die deutschen Filme immer gewonnen haben – das geht so auf und ab, da kann man auch nichts dran machen, weil letzten Endes entscheidet ja bei uns auch keine Jury oder kein Gremium, das ist die Gesamtheit der Mitglieder aus ganz Europa, eine ganz demokratische Entscheidung. Und viele Filme sind tatsächlich einfach noch nicht genug rausgekommen oder sind erst gerade so rausgekommen, dass sie eigentlich erst dann wieder ab dem nächsten Jahr wählbar sind.
Müller: Es ist tatsächlich so wie bei den großen amerikanischen Vorbildern: Die Akademiemitglieder bekommen DVDs geschickt, gucken die sich dann zu Hause an und geben dann ihre Stimmen ab.
Wenders: Richtig, kriegen ein heißes Päckchen.
Müller: Ihr Film "Pina" geht ja auch für ja gleich zwei Oscars ins Rennen dieses beziehungsweise nächstes Jahr, als bester nicht-englischsprachiger Film und als bester Dokumentarfilm. Was würden Sie denn lieber gewinnen, den Europäischen Filmpreis oder den Oscar?
Wenders: Machen wir das doch mal chronologisch: Machen wir doch erst mal den Europäischen Filmpreis an diesem Wochenende, und dann reden wir mal weiter. Mit den Oscars ist das auch immer noch eine weite Reise. Wir sind ja nicht mal nominiert, wir sind jetzt also auf der Shortlist, wie das so schön heißt, bei den Dokumentarfilmen, und bei den besten foreign films wissen wir erst im Januar, ob wir die Kurve da kriegen. Also das ist noch ein bisschen weit weg. Ich freue mich jetzt erst mal auf unseren Europäischen Filmpreis.
Müller: Colin Firth hat bereits einen Oscar für seine Rolle in "The King’s Speech" bekommen, jetzt, ein Dreivierteljahr später, ist er für den Europäischen Filmpreis nominiert. Wird das nicht so ein bisschen überschattet eigentlich?
Wenders: Ja, das ist so ein Fall, wo der Film gerade rausgekommen ist, dass der voriges Jahr nicht mehr wählbar war, und jetzt eigentlich so ein bisschen schon lange her ist. Aber irgendwie muss man ja so ein Jahr, für das man Preise vergibt, definieren, und "King’s Speech" war groß auch überall im Kino Anfang des Jahres, im Frühling, und da kann man nichts dran ändern, dass der jetzt auch noch als ein bisschen älterer Film bei uns hängt.
Manchmal ist es halt umgekehrt: Dann kommen die Filme halt gerade raus und dann haben sie ein besseres Timing sozusagen für den Preis. Aber gleichzeitig ist das eine tolle Leistung gewesen, das ist einer der schönsten europäischen Filme in vielen Jahren, und das tut dem Film bestimmt auch noch mal so einen Schub geben, wenn er jetzt rauskommt, und vielleicht ist das dann letzten Endes auch nur noch der Schub für die DVDs, aber irgendwie können wir ihn ja deswegen nicht untern Teppich kehren, weil er gerade um die Kurve rausgekommen ist, wo wir dicht machen mussten.
Müller: Ein Vierteljahrhundert ist nun vergangen seit den ersten Ideen, den ersten Treffen sozusagen. Jetzt kann man nach vorne gucken: Was wünschen Sie denn dem europäischen Kino für seine Zukunft, ja insbesondere vor dem Hindergrund der Krise, die große Teile Europas derzeit ja erschüttert?
Wenders: Ja, wir liefern ja ein richtiges Gegenbild dazu: Also Europa des Kinos ist ein anderes Europa als das zerstrittene Europa der Finanzmärkte. Wir haben ja eine ganz andere Art von Europa, wir haben Europa im weitesten Sinne gefasst, bei uns sind auch Palästinenser und Israelis Mitglieder und die Türken sowieso. Also unsere Idee von Europa ist sehr großzügig und auch viel weniger auf Konkurrenz aufgebaut. Das ist eher eine große europäische Filmfamilie, die sich gerade durch Solidarität auszeichnet, weil: Nur so gibt es all unsere vielen kleinen Nationalkinos, dadurch, dass es dieses Dach des europäischen Films oben drüber gibt. Und insofern sind wir schon eine kleine Utopie von einem anderen Europa, was ein Europa der Kulturen ist und ein Europa der Menschen und der Regionen, und nicht ein Europa der Märkte.
Müller: Also muss man sich auch um diesen europäischen Film derzeit keine Sorgen machen?
Wenders: Nein. Das Bedürfnis danach ist groß, glaube ich, und gerade, wo das Mainstream-Kino ja so viel abdriftet und immer mehr in Fantasy, glaube ich, das europäische Kino ist ja doch in großem Maße wirklich auch eingewurzelt in die Geschichten und den Ländern und den Regionen. Ich glaube, es wird auch in Zukunft ein großes Bedürfnis dafür geben.
Müller: Morgen werden in Berlin die Europäischen Filmpreise vergeben. Das war dazu der Regisseur und Präsident der Europäischen Filmakademie Wim Wenders. Haben Sie vielen Dank!
Wenders: Ganz vielen Dank, Herr Müller! Tschüss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.