Wem gehören die Kinder?
Religion oder Ethik? Eigentlich ist es eine seltsame Alternative, die in diesen Wochen in Berlin diskutiert wird. Als philosophische Disziplin ist Ethik eine pluralistische Angelegenheit. Das Fach könnte von der Vielfalt der Menschenbilder leben, von der Vielfalt möglicher Prinzipien, Perspektiven, Haltungen und Begründungen. Darauf bauen jene Vertreter von "Pro Reli", die die staatliche Bildungsaufgabe im Bereich Religion und Weltanschauung bestätigen, um selbst unter dieses Dach zu schlüpfen.
Das Fach Ethik wird aber einseitig und instrumentell ausgerichtet. Der Ethikunterricht hat ein politisches Ziel: "Ethik" steht praktisch gleichbedeutend für Toleranz und staatliche Integration. Der Ethikunterricht soll das Konfliktpotenzial, das die Religionen in sich tragen, nicht einfach abbilden, sondern aus der Welt schaffen. Deshalb ist er gerade nicht neutral oder multikulturell angelegt, wie die Wohlmeinenden hoffen, sondern dem Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligionen feindlich gesonnen.
Der Ethikunterricht muss sich zwangsläufig gegen religiöse Glaubensinhalte wenden, freilich mit Rücksicht gegen den Islam. Darüber hinaus braucht der menschen- und verfassungsrechtliche Humanitarismus, um den es bei Toleranz und Integration geht, eine zivilreligiöse Grundlage. Politisch wirken kann der Ethikunterricht im Sinne seiner politischen Zielsetzung nur dann, wenn er glaubensmäßig zu verinnerlichende Grundsätze aufstellt: Toleranz und Nivellierung herkömmlicher Identitäten; individuelle Selbstbestimmung und Selbstentfaltung mit fließenden Grenzen zum Hedonismus. Die christlichen Kirchen in Berlin wagen es nicht, dieser Ausrichtung zu widersprechen. Das tut nur noch der Papst.
Wie die öffentliche Aufregung über Benedikt XVI. und die katholische Kirche trägt auch der Berliner Streit um Ethik- und Religionsunterricht Züge eines Kulturkampfes. Von den 320.000 Berliner Schülern besuchen zwar nur noch 17.000 den katholischen und 73.000 den evangelischen Religionsunterricht.
Der Blick auf die Jahre nach der Reichsgründung ist trotzdem interessant. Der Jesuit und Militarismuskritiker Michael Georg Pachtler veröffentlichte 1876 unter Pseudonym eine Schrift mit dem kämpferischen Titel "Die geistige Knechtung der Völker durch das Schulmonopol des modernen Staates". Mit einem Zitat von Danton wandte sich Pichtler gegen die Forderung, dass die Kinder zuerst Eigentum des Staates seien, bevor sie den Eltern gehören.
Im liberalstaatlichen Schulmonopol sah die katholische Kirche in den 1870er Jahren eine existentielle Bedrohung. Umso erstaunlicher ist es, dass heute die Kirchen den Staat für den Religionsunterricht in die Pflicht nehmen wollen. Sollte sich die Gefahr von damals erledigt haben?
Wohl kaum. Der Staat von heute, der die Religion zur Privatsache erklärt, stellt nicht nur die traditionellen Glaubensinhalte in Frage, sondern den Status der Kirchen als anerkannte öffentliche Einrichtungen. Man hat den Eindruck, den Gegnern der katholischen Kirche wäre nichts lieber, als diese in unzählige rechtsradikale Sekten zerfallen zu sehen, die man dann um so leichter würde bekämpfen können.
In dem grassierenden Ressentiment gegen den Papst steckt das alte Kulturkampfmotiv, das heute das Christentum insgesamt trifft. Es ist der Verdacht, der Christ sei ein schlechter Staatsbürger, ein Verdacht, der sich in Zukunft noch verschärfen wird, je mehr die politische Pädagogik ihre Ziele zu Staatszielen erhöht.
Wie schwach die Kirchen geworden sind, zeigt sich daran, dass sie für den Religionsunterricht, der ihre ureigene Sache sein könnte und müsste, die schützende Hand des Staates suchen, der ihr Gegner ist und bleibt. Wer das einheitliche Ethos der homogenen Weltgesellschaft als geistig-kulturelle Verarmung fürchtet, wird einen Erfolg der Berliner Initiative "Pro Reli" begrüßen. Der Preis dieses Erfolges aber wäre hoch: die explizite Gleichstellung der einst privilegierten christlichen Konfessionen mit Islam und staatlicher Zivilreligion.
Religion oder Ethik? Es bleibt eine seltsame Alternative, über die in Berlin gestritten wird.
Andreas Krause Landt: Verleger und Journalist, geb. 1963 in Hamburg. Studierte in Heidelberg und Berlin Germanistik, Philosophie und Geschichte. Seit 1997 Mitarbeiter der "Berliner Zeitung". 1999 erschien sein Buch "Scapa Flow. Die Selbstversenkung der wilhelminischen Flotte", 2005 "Holocaust und deutsche Frage. Ein Volk will verschwinden" in der Zeitschrift Merkur (Heft 680), 2007 "Mechanik der Mächte. Über die politischen Schriften von Panajotis Kondylis" in "Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission" (hrsg. von Falk Horst). 2005 Gründung des Landt Verlags in Berlin.
Der Ethikunterricht muss sich zwangsläufig gegen religiöse Glaubensinhalte wenden, freilich mit Rücksicht gegen den Islam. Darüber hinaus braucht der menschen- und verfassungsrechtliche Humanitarismus, um den es bei Toleranz und Integration geht, eine zivilreligiöse Grundlage. Politisch wirken kann der Ethikunterricht im Sinne seiner politischen Zielsetzung nur dann, wenn er glaubensmäßig zu verinnerlichende Grundsätze aufstellt: Toleranz und Nivellierung herkömmlicher Identitäten; individuelle Selbstbestimmung und Selbstentfaltung mit fließenden Grenzen zum Hedonismus. Die christlichen Kirchen in Berlin wagen es nicht, dieser Ausrichtung zu widersprechen. Das tut nur noch der Papst.
Wie die öffentliche Aufregung über Benedikt XVI. und die katholische Kirche trägt auch der Berliner Streit um Ethik- und Religionsunterricht Züge eines Kulturkampfes. Von den 320.000 Berliner Schülern besuchen zwar nur noch 17.000 den katholischen und 73.000 den evangelischen Religionsunterricht.
Der Blick auf die Jahre nach der Reichsgründung ist trotzdem interessant. Der Jesuit und Militarismuskritiker Michael Georg Pachtler veröffentlichte 1876 unter Pseudonym eine Schrift mit dem kämpferischen Titel "Die geistige Knechtung der Völker durch das Schulmonopol des modernen Staates". Mit einem Zitat von Danton wandte sich Pichtler gegen die Forderung, dass die Kinder zuerst Eigentum des Staates seien, bevor sie den Eltern gehören.
Im liberalstaatlichen Schulmonopol sah die katholische Kirche in den 1870er Jahren eine existentielle Bedrohung. Umso erstaunlicher ist es, dass heute die Kirchen den Staat für den Religionsunterricht in die Pflicht nehmen wollen. Sollte sich die Gefahr von damals erledigt haben?
Wohl kaum. Der Staat von heute, der die Religion zur Privatsache erklärt, stellt nicht nur die traditionellen Glaubensinhalte in Frage, sondern den Status der Kirchen als anerkannte öffentliche Einrichtungen. Man hat den Eindruck, den Gegnern der katholischen Kirche wäre nichts lieber, als diese in unzählige rechtsradikale Sekten zerfallen zu sehen, die man dann um so leichter würde bekämpfen können.
In dem grassierenden Ressentiment gegen den Papst steckt das alte Kulturkampfmotiv, das heute das Christentum insgesamt trifft. Es ist der Verdacht, der Christ sei ein schlechter Staatsbürger, ein Verdacht, der sich in Zukunft noch verschärfen wird, je mehr die politische Pädagogik ihre Ziele zu Staatszielen erhöht.
Wie schwach die Kirchen geworden sind, zeigt sich daran, dass sie für den Religionsunterricht, der ihre ureigene Sache sein könnte und müsste, die schützende Hand des Staates suchen, der ihr Gegner ist und bleibt. Wer das einheitliche Ethos der homogenen Weltgesellschaft als geistig-kulturelle Verarmung fürchtet, wird einen Erfolg der Berliner Initiative "Pro Reli" begrüßen. Der Preis dieses Erfolges aber wäre hoch: die explizite Gleichstellung der einst privilegierten christlichen Konfessionen mit Islam und staatlicher Zivilreligion.
Religion oder Ethik? Es bleibt eine seltsame Alternative, über die in Berlin gestritten wird.
Andreas Krause Landt: Verleger und Journalist, geb. 1963 in Hamburg. Studierte in Heidelberg und Berlin Germanistik, Philosophie und Geschichte. Seit 1997 Mitarbeiter der "Berliner Zeitung". 1999 erschien sein Buch "Scapa Flow. Die Selbstversenkung der wilhelminischen Flotte", 2005 "Holocaust und deutsche Frage. Ein Volk will verschwinden" in der Zeitschrift Merkur (Heft 680), 2007 "Mechanik der Mächte. Über die politischen Schriften von Panajotis Kondylis" in "Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission" (hrsg. von Falk Horst). 2005 Gründung des Landt Verlags in Berlin.