Weltumspannende Familiensaga
Uwe Johnsons Hörbuch "Jahrestage" ist eine weltumspannende Familiensaga, die unzählige Figuren und verschiedenste Epochen lebendig werden lässt. Es geht um Geschichten von den 30er Jahren an der Ostsee bis zum New York in den 60ern.
Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden. Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen.
So beginnen Uwe Johnsons meerumspülte "Jahrestage", vielleicht das letzte Jahrhundertwerk der deutschen Literatur, erschienen in vier Bänden zwischen 1970 und 1983. "Aus dem Leben von Gesine Cresspahl" lautet der Untertitel. Gesine ist eine gebürtige Mecklenburgerin von Mitte dreißig, seit einigen Jahren angestellt bei einer New Yorker Bank und Mutter der zehnjährigen Tochter Marie. Die Choreographie des Romans wird bestimmt durch den regelmäßigen Wechsel von New-York-Kapiteln, die 1967/68 spielen, und den Abschnitten der minutiösen Jerichow-Chronik, die Gesines Herkunftswelt ins Bewusstsein hebt: provinzielles Leben in den Nöten und Wirren des "Dritten Reichs", der sowjetischen Besatzungszeit und der frühen DDR.
Johnson versucht eine neue Form zu finden; ironischerweise verfällt er dabei auf eine Erzählsituation, die besonders altväterlich anmutet: Die Mutter erzählt dem Kinde von früher. Wie der Großvater die Großmutter nahm. Das ergibt einen innigen, sehr hörbuchtauglichen Erziehungsdialog. Das knirscht bisweilen aber auch im Erzählgetriebe. Warum soll sich ein Mädchen im besten Harry-Potter-Alter derart für alle Details der Nazijahre in Mecklenburg interessieren? Man kann sich an manchen Unwahrscheinlichkeiten der Konstruktion stören.
Die Politik ist das Schicksal – das ist die Arbeitsgrundlage dieses Schriftstellers. In den "Jahrestagen" wird kein Gespräch geführt und keine Ehekrise ausgetragen, ohne dass zeitgeschichtlicher Gehalt dabei herausspränge. Die permanente Bezüglichkeit von Familienleben und politischem Geschehen wirkt manchmal plakativ. Dass dramatische Zentralereignis des zweiten Bandes etwa, die Selbstverbrennung Lisbeth Cresspahls, ist eine direkte Reaktion auf die "Reichskristallnacht" und die Erschießung eines jüdischen Mädchens.
Ungeachtet der Kritik am Realen Sozialismus bleibt ein sozialistisches Prinzip Hoffnung für Johnson und seine Gesine verpflichtend. Es äußert sich als antikapitalistische Ironie, die bei aller New-York-Faszination in der Welthauptstadt des Geldes viele Reibungsflächen findet. Zum dokumentarischen Charakter des Romans gehört, dass viel Aktualität der Jahre 67/68 einmontiert wird, meist in Form von Zitaten aus der New York Times. So erfährt man über Vietnam, die Auschwitzprozesse, die Studentenunruhen oder die Rassenprobleme der USA, was man auch andernorts nachlesen könnte. Mit anderen Worten: der Roman verträgt kräftige Streichungen. Für die Hörbuchfassung wurde er um etwa die Hälfte gekürzt, so dass wir uns mit dem Kondensat von immer noch üppigen 40 Stunden auf vier MP3-CDs begnügen können.
Der unerbittliche Moralist Johnson hat in Max Volkert Martens den idealen Vorleser gefunden. Bei Johnson kommt das Epische aus dem Mündlichen. Martens, in Schleswig-Holstein geboren, ist ein Schauspieler, der sich auf norddeutschen Dialekt und mecklenburgischen Küstenslang versteht.
"Lisbeth ick schla di dot.
Schla mi dot, Hinrich. Mi is kein Helpn mehr."
Die Dialektpassagen klingen bei Martens nicht heimattümelnd, sondern nach plebejischem Stoizismus. In Schnack und Sprüchen macht sich eine trockene Schlagfertigkeit geltend, die keine Miene verzieht. Johnsons eigenwilliger Satzbau, über den der Leser stolpern kann, kommt im Vortrag flüssig und plausibel daher.
Die spröden, wortkargen Figuren bringt Martens, leicht übellaunig wirkend, gut zum Ausdruck. Für Johnsons grimmige politische Ironie findet er den passenden sarkasmusgetränkten Unterton. Überhaupt geht der Reichtum an Unter- und Obertönen und nicht zuletzt an Witz, der Johnsons sprachbewusste Prosa auszeichnet, in der Lesung nicht verloren. Nur manchmal drängt sich bei Martens die schauspielerische Selbstgefälligkeit ein wenig vor den Text.
Die Vorzüge des monomanischen Werkes liegen auf der Hand: Etwa die penible Liebe zum Detail, mit der sich hier ein Epiker eine ganze Welt erarbeitet hat. Für den Hörer gehört die wachsende Vertrautheit der Charaktere zu den Freuden eines solchen Mammutromans, der einen über viele Wochen begleiten kann. Immer wieder faszinieren die "Jahrestage" durch geschliffene Episoden – etwa der Schilderung eines Einbruchs in Gesines New Yorker Wohnung im 4. Band. Es ist ein Buch, das einen beglückt, mit dem man aber auch ausgiebig hadert. Eben ein Jahrhundertwerk. Das dort endet, wo es begonnen hat, an der Ostsee:
"Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann, unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind, das ich war."
Uwe Johnson:
Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl.
Gelesen von Max Volkert Martens. 4 CDs im MP3-Format. Ca. 40 Stunden.
Der Hoerverlag 2005,
49,90 Euro.
So beginnen Uwe Johnsons meerumspülte "Jahrestage", vielleicht das letzte Jahrhundertwerk der deutschen Literatur, erschienen in vier Bänden zwischen 1970 und 1983. "Aus dem Leben von Gesine Cresspahl" lautet der Untertitel. Gesine ist eine gebürtige Mecklenburgerin von Mitte dreißig, seit einigen Jahren angestellt bei einer New Yorker Bank und Mutter der zehnjährigen Tochter Marie. Die Choreographie des Romans wird bestimmt durch den regelmäßigen Wechsel von New-York-Kapiteln, die 1967/68 spielen, und den Abschnitten der minutiösen Jerichow-Chronik, die Gesines Herkunftswelt ins Bewusstsein hebt: provinzielles Leben in den Nöten und Wirren des "Dritten Reichs", der sowjetischen Besatzungszeit und der frühen DDR.
Johnson versucht eine neue Form zu finden; ironischerweise verfällt er dabei auf eine Erzählsituation, die besonders altväterlich anmutet: Die Mutter erzählt dem Kinde von früher. Wie der Großvater die Großmutter nahm. Das ergibt einen innigen, sehr hörbuchtauglichen Erziehungsdialog. Das knirscht bisweilen aber auch im Erzählgetriebe. Warum soll sich ein Mädchen im besten Harry-Potter-Alter derart für alle Details der Nazijahre in Mecklenburg interessieren? Man kann sich an manchen Unwahrscheinlichkeiten der Konstruktion stören.
Die Politik ist das Schicksal – das ist die Arbeitsgrundlage dieses Schriftstellers. In den "Jahrestagen" wird kein Gespräch geführt und keine Ehekrise ausgetragen, ohne dass zeitgeschichtlicher Gehalt dabei herausspränge. Die permanente Bezüglichkeit von Familienleben und politischem Geschehen wirkt manchmal plakativ. Dass dramatische Zentralereignis des zweiten Bandes etwa, die Selbstverbrennung Lisbeth Cresspahls, ist eine direkte Reaktion auf die "Reichskristallnacht" und die Erschießung eines jüdischen Mädchens.
Ungeachtet der Kritik am Realen Sozialismus bleibt ein sozialistisches Prinzip Hoffnung für Johnson und seine Gesine verpflichtend. Es äußert sich als antikapitalistische Ironie, die bei aller New-York-Faszination in der Welthauptstadt des Geldes viele Reibungsflächen findet. Zum dokumentarischen Charakter des Romans gehört, dass viel Aktualität der Jahre 67/68 einmontiert wird, meist in Form von Zitaten aus der New York Times. So erfährt man über Vietnam, die Auschwitzprozesse, die Studentenunruhen oder die Rassenprobleme der USA, was man auch andernorts nachlesen könnte. Mit anderen Worten: der Roman verträgt kräftige Streichungen. Für die Hörbuchfassung wurde er um etwa die Hälfte gekürzt, so dass wir uns mit dem Kondensat von immer noch üppigen 40 Stunden auf vier MP3-CDs begnügen können.
Der unerbittliche Moralist Johnson hat in Max Volkert Martens den idealen Vorleser gefunden. Bei Johnson kommt das Epische aus dem Mündlichen. Martens, in Schleswig-Holstein geboren, ist ein Schauspieler, der sich auf norddeutschen Dialekt und mecklenburgischen Küstenslang versteht.
"Lisbeth ick schla di dot.
Schla mi dot, Hinrich. Mi is kein Helpn mehr."
Die Dialektpassagen klingen bei Martens nicht heimattümelnd, sondern nach plebejischem Stoizismus. In Schnack und Sprüchen macht sich eine trockene Schlagfertigkeit geltend, die keine Miene verzieht. Johnsons eigenwilliger Satzbau, über den der Leser stolpern kann, kommt im Vortrag flüssig und plausibel daher.
Die spröden, wortkargen Figuren bringt Martens, leicht übellaunig wirkend, gut zum Ausdruck. Für Johnsons grimmige politische Ironie findet er den passenden sarkasmusgetränkten Unterton. Überhaupt geht der Reichtum an Unter- und Obertönen und nicht zuletzt an Witz, der Johnsons sprachbewusste Prosa auszeichnet, in der Lesung nicht verloren. Nur manchmal drängt sich bei Martens die schauspielerische Selbstgefälligkeit ein wenig vor den Text.
Die Vorzüge des monomanischen Werkes liegen auf der Hand: Etwa die penible Liebe zum Detail, mit der sich hier ein Epiker eine ganze Welt erarbeitet hat. Für den Hörer gehört die wachsende Vertrautheit der Charaktere zu den Freuden eines solchen Mammutromans, der einen über viele Wochen begleiten kann. Immer wieder faszinieren die "Jahrestage" durch geschliffene Episoden – etwa der Schilderung eines Einbruchs in Gesines New Yorker Wohnung im 4. Band. Es ist ein Buch, das einen beglückt, mit dem man aber auch ausgiebig hadert. Eben ein Jahrhundertwerk. Das dort endet, wo es begonnen hat, an der Ostsee:
"Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann, unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind, das ich war."
Uwe Johnson:
Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl.
Gelesen von Max Volkert Martens. 4 CDs im MP3-Format. Ca. 40 Stunden.
Der Hoerverlag 2005,
49,90 Euro.