Welttheater auf engstem Raum
Judith lebt mit ihrem Ehemann und den nach Waldorfpädagogik erzogenen Kindern in einem bürgerlichen Viertel Stuttgarts, der zum Pfuhl wird von allerlei Sünden. „Kürzere Tage“ heißt der rasant und liebevoll erzählte Roman der 1970 geborenen Autorin Anna Katharina Hahn. Er fängt an wie ein Familienkammerspiel und weitet sich zum Welttheater auf engstem Raum.
Wie einen Psalm leiert der Typ im schwarzen Jogginganzug die Namen der Psychopharmaka herunter, die er am Stuttgarter Hauptbahnhof vertickt. In akuter Notlage hat sich Judith, die weibliche Hauptfigur des Romans „Kürzere Tage“ von Anna Katharina Hahn, früher manchmal dort eingedeckt.
Inzwischen hat sie die Magisterarbeit über Otto Dix abgebrochen, und auch aus der demütigenden Beziehung mit einem Medizinstudenten ist sie ausgestiegen. Sie hat die Flucht nach vorn ergriffen, in die offenen Arme eines früheren Nachbarn, der sie hartnäckig umworben hatte.
Klaus hat zwar keinen „Hintern in der Hose“, aber das Herz am rechten Fleck. Als der Roman beginnt, haben die beiden bereits zwei Kinder und leben in Stuttgarts bürgerlich-alternativem Lehenviertel. Ihre „Tavor tabs“ versteckt Judith in einem Gläschen mit der Aufschrift „Biotin“.
Mit anschaulicher Intensität erzählt Anna Katharina Hahn von jener Lebensphase, die vielen als die beste gilt: die Jahre zwischen 30 und 40, wenn man noch jung und doch schon einigermaßen etabliert ist. Es sind aber auch die Jahre der Doppelbelastung. Anna Katharina Hahn, die 1970 geboren wurde und in Stuttgart lebt, hat eine überzeugende Form gefunden, vom ganz speziellen Wahnsinn zu erzählen, dem vor allem Frauen ausgesetzt sind.
Der in der dritten Person erzählte Roman wechselt den Fokus von Kapitel zu Kapitel. Er beleuchtet die Innenwelten verschiedener Figuren aus einer Art Nahdistanz. Man spürt die Sympathie der Autorin und zugleich ihren strengen Blick. Sie sieht alles, kann es formulieren und treibt es treffend ins Sarkastische.
„Kürzere Tage“ fängt an wie ein Familienkammerspiel und weitet sich zum Welttheater auf engstem Raum. Judith und Klaus führen eine Ehe nach überholtem Muster. Als Professor des Maschinenbaus ernährt er die Familie, sie ist Hausfrau und hat in den kruden Regeln der Waldorfpädagogik ein Stützkorsett gefunden.
Leonie und Simon wohnen im Nachbarhaus. Wenn Leonie, abgehetzt zwischen ihrem Job bei einer Bank und dem Kindergarten ihrer beiden Töchter, einen Blick ins Fenster von Judith wirft, kann sie sehen, dass die Mutter dort Zeit für ihre Kinder hat. Eines Tages lernen sich die beiden Frauen kennen. Sie könnten Freundinnen werden, doch die Konkurrenz ihrer Lebensmodelle ist zu groß.
Anna Katharina Hahn gelingt nicht nur das Porträt dieser beiden Familien, sondern auch die einfühlsame Beschreibung einer alten Frau, die mit dem Tod ihres Mannes fertig werden muss – und damit, dass sie nun für den Rest ihres Lebens eine alte Frau sein wird, die kein Mann mehr anfassen will.
Ghettokids komplettieren das Bild. Der vergleichsweise noble Stuttgarter Süden wird zum Pfuhl von allerlei Sünden: vom Ehebruch bis zum Mordversuch, von mütterlicher Überprotektion bis hin zur Beinahe-Vergiftung eines Kindes.
Höchst erstaunlich, dass das Ganze nicht aufgesetzt und schematisch wirkt. „Kürzere Tage“ spielt nicht umsonst an Halloween. Der rasant und liebevoll erzählte Roman ist eine Art Teufelsaustreibung weiblicher Ängste: Fratzenhaft an die Wand gemalt, sollen sie sich als Trugbilder zu erkennen geben.
Rezensiert von Meike Feßmann
Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009,
222 Seiten, 19,80 Euro
Inzwischen hat sie die Magisterarbeit über Otto Dix abgebrochen, und auch aus der demütigenden Beziehung mit einem Medizinstudenten ist sie ausgestiegen. Sie hat die Flucht nach vorn ergriffen, in die offenen Arme eines früheren Nachbarn, der sie hartnäckig umworben hatte.
Klaus hat zwar keinen „Hintern in der Hose“, aber das Herz am rechten Fleck. Als der Roman beginnt, haben die beiden bereits zwei Kinder und leben in Stuttgarts bürgerlich-alternativem Lehenviertel. Ihre „Tavor tabs“ versteckt Judith in einem Gläschen mit der Aufschrift „Biotin“.
Mit anschaulicher Intensität erzählt Anna Katharina Hahn von jener Lebensphase, die vielen als die beste gilt: die Jahre zwischen 30 und 40, wenn man noch jung und doch schon einigermaßen etabliert ist. Es sind aber auch die Jahre der Doppelbelastung. Anna Katharina Hahn, die 1970 geboren wurde und in Stuttgart lebt, hat eine überzeugende Form gefunden, vom ganz speziellen Wahnsinn zu erzählen, dem vor allem Frauen ausgesetzt sind.
Der in der dritten Person erzählte Roman wechselt den Fokus von Kapitel zu Kapitel. Er beleuchtet die Innenwelten verschiedener Figuren aus einer Art Nahdistanz. Man spürt die Sympathie der Autorin und zugleich ihren strengen Blick. Sie sieht alles, kann es formulieren und treibt es treffend ins Sarkastische.
„Kürzere Tage“ fängt an wie ein Familienkammerspiel und weitet sich zum Welttheater auf engstem Raum. Judith und Klaus führen eine Ehe nach überholtem Muster. Als Professor des Maschinenbaus ernährt er die Familie, sie ist Hausfrau und hat in den kruden Regeln der Waldorfpädagogik ein Stützkorsett gefunden.
Leonie und Simon wohnen im Nachbarhaus. Wenn Leonie, abgehetzt zwischen ihrem Job bei einer Bank und dem Kindergarten ihrer beiden Töchter, einen Blick ins Fenster von Judith wirft, kann sie sehen, dass die Mutter dort Zeit für ihre Kinder hat. Eines Tages lernen sich die beiden Frauen kennen. Sie könnten Freundinnen werden, doch die Konkurrenz ihrer Lebensmodelle ist zu groß.
Anna Katharina Hahn gelingt nicht nur das Porträt dieser beiden Familien, sondern auch die einfühlsame Beschreibung einer alten Frau, die mit dem Tod ihres Mannes fertig werden muss – und damit, dass sie nun für den Rest ihres Lebens eine alte Frau sein wird, die kein Mann mehr anfassen will.
Ghettokids komplettieren das Bild. Der vergleichsweise noble Stuttgarter Süden wird zum Pfuhl von allerlei Sünden: vom Ehebruch bis zum Mordversuch, von mütterlicher Überprotektion bis hin zur Beinahe-Vergiftung eines Kindes.
Höchst erstaunlich, dass das Ganze nicht aufgesetzt und schematisch wirkt. „Kürzere Tage“ spielt nicht umsonst an Halloween. Der rasant und liebevoll erzählte Roman ist eine Art Teufelsaustreibung weiblicher Ängste: Fratzenhaft an die Wand gemalt, sollen sie sich als Trugbilder zu erkennen geben.
Rezensiert von Meike Feßmann
Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009,
222 Seiten, 19,80 Euro