Weltsicht in Passau

Rezensiert von Peter Urban-Halle · 12.09.2006
Aufgrund einiger Krankenhausbesuche kehrt Klaus Bödl nach Passau zurück. Bei seinen langen Spaziergängen durch die Stadt findet er zurück zu sich selbst. Aus diesem Anlass schreibt der wissenschaftlicher Assistent für Skandinavistik in "Drei Flüsse" über die Geschichte der Stadt an Inn, Donau und Ilz.
Klaus Böldls neues Buch, mit dem er in seine Geburtsstadt Passau, er ist Jahrgang 1964, und in die eigene Geschichte hinabtaucht, kann verblüffend konkret sein und im selben Atemzug eine Weltsicht bekommen, in der dann Einzelperson und Geschichte und Menschheit praktisch synchron im Blick sind. Was Böldl vorschwebt, sind die "Gleichzeitigkeiten der Einzelheiten, die aus den spätmittelalterlichen Altarbildern gelassene Erzählungen von der Welt machen", Erzählungen "ohne Anfang und ohne Ende".

Wie Adalbert Stifter oder Peter Handke durchstreift er seine Landschaften auf ausgedehnten Wanderungen und verschwindet regelrecht in ihnen: "Wenn ich meinte, gar nichts zu denken, war die leere, in der Augusthitze flimmernde Straße mit dem Ölfleck auf dem Asphalt, (...) die Wiese mit den Wäschestangen hinter dem Haus: eins mit mir selbst." Ort, Historie und Poesie gehen ineinander über. Geschichte, Natur und Kunst hängen mit dem eigenen Leben zusammen. Im Grunde skizziert Böldl damit die Utopie vom allumfassenden Gedächtnis.

Klaus Böldl ist mit einer solchen Denkweise von Haus aus vertraut. Er ist wissenschaftlicher Assistent für Skandinavistik an der Universität München, sein Forschungsgebiet ist die altisländische Literatur, die er auch ins Deutsche übersetzt. Die isländischen Sagen und Mythen sind mit dem alltäglichen Leben aufs Engste verbunden; vor drei Jahren schrieb er das schöne Island-Buch "Die fernen Inseln".

Seine Prosa erschöpft sich keinesfalls in der Freude am schönen Klang. Er will dem eigenen Ich nachstellen, er will aber vor allem das Nachstellen an sich ergründen. Daraus ergeben sich prinzipielle Fragen: Woraus besteht das Leben? Was prägt es? Woraus schöpft Erinnerung? Wird sie durch die allgegenwärtige "Tatsächlichkeit" beeinflußt? Was verbindet persönliche und allgemeine Geschichte? Fragen, die von Passau nur deshalb heraufbeschworen wurden, weil er in der Stadt an Ilz, Inn und Donau, den "drei Flüssen", seine ersten Jahre verbrachte. Dieser "frühesten Wirklichkeit" bescheinigt er eine "unheimliche Beharrungskraft".

Das Buch ist eine Folge regelmäßiger Krankenbesuche, die den Autor ein ganzes Jahr lang nach Passau führten. Wer der oder die Kranke ist, erfahren wir nicht, vielleicht ein naher Verwandter, der, müssen wir vermuten, verstirbt, da setzt sich nämlich der Erzähler auf eine Bank am Innkai und legt den "überflüssig gewordenen Blumenstrauß neben sich". Ein Mensch stirbt, ein anderer entdeckt sich und seine Geschichte und kommt noch einmal neu auf die Welt. Ein schwermütiges, geistreiches, sehr schönes Buch.

Klaus Böldl: Drei Flüsse
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
110 Seiten, 16,90 Euro