Weltkriegs-Gedenken in Belgien

30.000 Mal "Last Post"

"Last Post Ceremony" in Belgien
"Last Post Ceremony" am Menen-Tor in Ypern/Belgien (West Flandern) am 23.04.2014. © picture alliance / dpa / Foto: Uwe Zucchi
Von Susanne Schenk  · 08.07.2015
Am Menen-Tor im belgischen Ypern findet jeden Abend eine Zeremonie für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs statt: der Last Post. Seit 1928 blasen Feuerwehrmänner in ihr Horn - nur während der deutschen Besatzung blieb es still. Jetzt steht das 30.000. Mal bevor.
"Wir sind aus London nach Ypern gekommen, morgen fahren wir nach Paris, von da in die Normandie und dann zurück nach London. Wir packen alles in eine Reise."
Wie viele seiner Landsleute steht auch dieser Brite erwartungsvoll am Menen-Tor im belgischen Ypern. Täglich rollen Reisebusse aus dem Vereinigten Königreich zu den flandrischen Schlachtfeldern, zum britischen Soldatenfriedhof Tyne Cot – und nach Ypern, zum Last Post am Menen-Tor.
Ypern, heute ein hübsches, altertümlich wirkendes Städtchen, war einer der blutigsten Schauplätze des Ersten Weltkriegs – und 1918 ein Trümmerfeld. Die Stadt sah aus wie die bombardierten deutschen Städte am Ende des Zweiten Weltkrieges.
"Ich möchte, dass wir die Ruinen von Ypern erwerben… Es gibt auf der ganzen Welt keine heiligere Stätte für die britische Rasse."
Befand Winston Churchill 1919, damals britischer Kriegsminister. Bei den Einwohnern kam das nicht gut an.
"Ypern spürte, dass es wieder aufgebaut werden musste. Einmal wegen Churchills Idee. Er wollte die Stadt als Erinnerung für die Briten so zerstört lassen – ohne die Einwohner auch nur zu fragen. Die waren total geschockt von dieser Idee. Aber auch, weil sie auch auf psychologische Weise den Krieg aus ihrer Erinnerung bannen wollten. Die einzige Möglichkeit, das zu tun, war so zu tun als hätte es nie einen Krieg gegeben und die Stadt wieder so aufzubauen, wie sie war."
Sagt Piet Chilens, Leiter des "Flanders Fields" Museums, das heute in den wiederaufgebauten Tuchhallen der Stadt untergebracht ist. Von dort sind es nur wenige Schritte zum Menen-Tor, zu dem allabendlich Touristen, Schaulustige, Schulklassen strömen. Menschenmassen, die sich zum einem "Zapfenstreich" für die Gefallenen des Krieges zusammenfinden – in Deutschland ein undenkbares Bild.
"Wir sind zu siebzig‘ aus Kanada gekommen und total berührt. Es gefällt uns sehr, wie in Europa an die gefallenen Alliierten erinnert wird."
Ein mächtiges Bauwerk aus hellem Stein
Auf den Treppenstufen liegen Kränze mit Inschriften: The Royal British Legion, American Legion, The people and Goverment of Australia. Überall rote Mohnblumen aus Plastik. "Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn", schrieb der kanadische Oberstleutnant John McCrae im Mai 1915 – der Klatschmohn wurde zum Symbol des Weltkriegsgedenkens.
Das Menen-Tor, ein mächtiges Bauwerk aus hellem Stein, wurde 1927 eingeweiht. Die Namen von knapp 55.000 Briten, Australiern, Kanadiern, Südafrikanern und Indern sind dort eingraviert – Soldaten, die bis heute vermisst werden. Für ihre Nachfahren ist das Tor der zentrale Ort der Trauer – sie haben keine Grabstätte.
"Hier sieht man den Beginn der Bauarbeiten des Menen-Tors im Jahre 1922. Die Steine kamen aus Portland in England und wurden mit der Bahn und auf Schiffen hierher gebracht."
Ein paar Straßen vom Menen-Tor entfernt wohnt Steven Vonckx. Er blättert in seinem Familienalbum: kleine schwarz-weiß-Fotos mit gezacktem Rand zeigen seinen Urgroßvater. Als Steinmetz arbeitete er mit am Bau des imposanten Triumphbogens, unter dem heute der Last Post geblasen wird.
"Hier sieht man den Architekten Blomfield, einen Engländer. Er arbeitete damals mit über hundert Leuten. Sie hatten sehr viel Arbeit, und weil es hier nicht genug Steinmetze gab, holten sie Hilfe aus Italien."
Die Polizei sperrt jeden Abend ab 19.30 Uhr für eine Stunde die Durchfahrt durch das Menen-Tor.
"Für uns ist es eine Ehre, jeden Abend zu blasen. Als der Last Post 1928 anfing, hatte nur die Feuerwehr Hörner. Seitdem ist es zu einer Tradition der Freiwilligen Feuerwehr geworden."
Ritual mit internationalen Gästen
Raf Decombel, einer der vier Bläser des Last Post, hat in dunkelblauer Uniform und mit der Schirmmütze der Feuerwehr Aufstellung genommen. Auf ein Zeichen hin erklingen die Hörner, Bugels genannt. Die Zeremonie dauert nur wenige Minuten und verläuft immer nach gleichem Plan: Eine kurze Ansprache, das Blasen des Last Post, eine Schweigeminute, Kranzniederlegungen, ein Wecksignal, und wenn offizielle Gäste da sind, die jeweilige Nationalhymne.
"Es gab Zeiten, wo der Last Post nur mit zwei Bläsern, zwei Polizisten vor ein paar Leuten gespielt wurde. Das war der Fall in den 50er-, 60er-Jahren."
Benoît Mottrie ist Vorsitzender der Last Post Association, die die Zeremonie allabendlich organisiert.
"Aber als 1966 die englische Königin zum ersten Mal kam, hatte das eine große Wirkung auf die Medien. 1983 kam der Papst Johannes Paul II., und das steigerte das Interesse noch mehr. Jetzt, wo der Lebensstandard gestiegen und das Reisen einfacher geworden ist, kommen Leute aus der ganzen Welt, viele aus Großbritannien, aber auch aus Neuseeland und Kanada, von überall."
Der Urgroßvater von Benoît Mottrie war Gründungsmitglied des Last Post. Dass aus dem kleinen Zapfenstreich von 1928 inzwischen eine weltweit bekannte Parade geworden ist, das hätte er sich vermutlich nicht träumen lassen.
Dasselbe Ritual – Abend für Abend – seit Jahrzehnten. Nur während der deutschen Besatzung vom Mai 1940 bis September 1944 wurde der Last Post in Ypern nicht gespielt.
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