Welternährung

Hunger - das Menschheitsproblem

Leiden zumeist ein Leben lang am dem Folgen: Kinder, die mit Mangelernährung aufwachsen.
Leiden zumeist ein Leben lang an den Folgen: Kinder, die mit Mangelernährung aufwachsen. © picture alliance / dpa / Nic Bothma
Von Ulrich Land  · 02.05.2018
Die Bekämpfung von extremer Armut und Hunger: Das stand an erster Stelle der von den Vereinten Nationen im Jahr 2000 formulierten Entwicklungsziele. Aber noch immer verhungern Menschen, während ein Teil der Menschheit im Überfluss lebt.
Pia Eckhart: "Die Aufgabe bestand darin, jeden Tag satt zu werden."
Franz-Josef Brüggemeier: "Die Situation, die wir kennen, dass einfach immer alles da ist, die ist ziemlich neu."
Hunger, gleichzeitig die Geißel der Menschheit. Kein Wunder, dass ihre Eliminierung im Jahr 2000 von den Vereinten Nationen auf die Agenda der Millenniumsziele gesetzt wurde.
Zitat: "By 2015, reduce by half the proportion of people who suffer from hunger!"
"Den Anteil der Menschen, die unter Hunger leiden, bis 2015 um die Hälfte reduzieren!"
Das Existenziellste des Existenziellen. Nichts peinigt denn auch das Gewissen von uns Nichthungernden so sehr, wie ansehen zu müssen, dass Unseresgleichen Hungers darben, ganz real vor unsern Augen oder Fernsehern verhungern. Der moralisch gesellschaftliche Anspruch, dass alle satt werden, ist indes ein relativ junges Phänomen. Ein Anspruch, der überhaupt erst erhoben werden kann, seit ein Großteil der Menschheit genug zu essen hat. Was auch in Mitteleuropa alles andere als lange her ist.

Hungern im Mittelalter

Noch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war Hunger an der Tagesordnung.
Eckhart: "Getreide ist das Hauptnahrungsmittel. Das heißt, man konnte mit Getreide leichter den Kalorienbedarf decken als mit Fleisch. Und zwar als Brot oder als Brei."
Brüggemeier: "War 'n Päppchen. Haferschleim mit Milch oder Wasser angereichert."
Eckhart: "Getreide ist natürlich sehr klimaanfällig. Schlechte Ernte bedeutet gleich, das Essen wird teurer, und dann, wenn's gar keins mehr gibt, dann geht's richtig ans Hungern."
Die Mittelalterforscherin Pia Eckhart und der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier:
"Hunger heißt ja nicht nur, dass man mal so wie wir heute – irgendwie kommen wir zu spät und kriegt man abends nichts mehr zu essen und am nächsten Morgen grummelt der Magen, das ist es ja nicht, sondern Hunger hieß eben auch, dass man tatsächlich verhungern konnte!"
Nur in guten Erntejahren reichte der Getreideanbau zur Deckung des Grundbedarfs. Bei Missernten war man dem Hunger quasi auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
In der Ur- und Frühgeschichte dagegen suchte man, wenn die Nahrungsmittel knapp wurden, kurzerhand neue Jagdgebiete, Weidegründe, Ackerbauflächen. Ein durchaus nicht immer konfliktfreies Unterfangen. Aber dass man durch die sozialen Strukturen derart festgelegt war wie im europäischen Mittelalter und dem Hunger nicht räumlich ausweichen konnte, das war neu.
Eckhart: "Je nachdem, ob man auf dem Land oder in der Stadt lebt, geht man davon aus, dass 30 bis 60 Prozent der Menschen von Hunger bedroht waren, weil sie nicht vorsorgen konnten. Also die Aufgabe bestand darin, jeden Tag satt zu werden."
Derzeit liegt hierzulande der Lebensmittelanteil am Budget einer durchschnittlichen Familie mit Kindern bei etwa 13 bis 15 Prozent.
Brüggemeier: "Die meisten Teile Deutschlands waren Selbstversorgergebiete, unter anderem weil die Erträge nicht hoch genug waren, um noch groß was zu verkaufen, und auch die Verkehrsanbindung viel zu schlecht, um Nahrungsmittel, die ja eher verderblich sind, über größere Entfernungen zu transportieren. Das heißt aber, wenn die Ernten schlecht ausfielen, waren auch die Möglichkeiten, durch Versorgung aus anderen Gebieten das auszugleichen, relativ gering; selbstverständlich wussten die Leute das, sie lebten ja seit Generationen mit diesen prekären Verhältnissen, Hunger war immer vor der Tür."
Eckhart: "Es ist tatsächlich so, dass man fürs Mittelalter davon ausgehen kann, dass schwerere Hungersnöte, die über mehrere Jahre dauern, so häufig auftreten, dass jeder Mensch zumindest eine abbekommen hat in seiner Lebensspanne."
Und darüber hinaus war man alle vier bis fünf Jahre mit akuten, wenn auch nur einjährigen Mangelphasen konfrontiert.
Brüggemeier: "Damit die Ernte funktionierte, musste man ja immer einen relativ großen Teil des Geernteten zur Seite legen für die Aussaat, und in Hungersituationen – was macht man? Man versucht dann wieder was wegzunehmen, um sich zu ernähren, dann fehlt natürlich ein Teil der Aussaat, das sind so negative Zirkelschlüsse gewissermaßen."
Hunger war im Mittelalter so weit verbreitet, dass er neben Krieg, Pestilenz und Tod als einer der "vier apokalyptischen Reiter" galt.
Eckhart: "Dann muss man eben sehn, dass die Landwirtschaft nie so 'n Überschuss produzieren kann, dass man eben auch Knappheiten ausgleichen könnte. Und so viel einspeichern lässt sich eben auch nicht."
Brüggemeier: "Mäuse, Ratten, Ungeziefer, es kann auch Pilzerkrankungen geben, es kann zu feucht werden, es ist ja gar nicht so einfach; wenn man heute von Lagerung spricht, dann denkt man an gut gebaute, gemauerte Gebäude, vielleicht noch mit Kühlanlagen und Ähnlichem, Fleisch kann man lagern, wenn man's pökelt, auch Fisch, aber wir alle verbinden mit Menschheitsgeschichte die Beherrschung des Feuers. Das ist die große Geschichte. Viel, viel schwieriger ist es, künstlich Kälte zu erzeugen! Das haben Menschen eigentlich erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, dass man tatsächlich etwas bewusst kühlen kann."
Eckhart: "Im 12. bis zum 13. Jahrhundert: sehr gute klimatische Verhältnisse; dadurch ist die Bevölkerung sehr stark gewachsen, und dann gibt es so 'n klimatischen Einbruch."
Die Durchschnittstemperaturen sanken deutlich. In einigen europäischen Gebieten um bis zu 2 Grad Celsius. Bauernhöfe in Risikogebieten, vor allem in höheren Lagen büßten ihre Ertragsfähigkeit ein.
Eckhart: "Es gibt schwere Hungersnöte, und dann kommt auch noch die Pest! Also da bricht ja die Bevölkerungsdichte um fast 30 Prozent ein, wird geschätzt. Also in der Stadt gibt es die eigentlichen Städter, die Bürger, und die Unterschicht. Und die differenziert sich noch mal aus zwischen den geduldeten Armen, also die guten Armen, die, die unverschuldet arm sind, und die, die in die Stadt reinkommen, betteln, die sind ganz am Rand."
Brüggemeier: "Die damaligen Zeitgenossen haben von diesem berühmten 'Jahr ohne Sommer' gesprochen, kannten die Ursache nicht…"
Die Folge: eine flächendeckende, dramatische Hungersnot. Doch insgesamt war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die letzte Epoche, in der es hierzulande naturbedingte Hungerkatastrophen gab.
Brüggemeier: "Danach gibt es dann Hunger etwa im Ersten Weltkrieg. Aufgrund der Blockade, wo vermutlich mehrere hunderttausend Menschen nicht nur drunter gelitten haben, sondern dran verstorben sind."
Woraus die Nationalsozialisten glaubten, gelernt zu haben, und die Devise ausgaben:
Brüggemeier: "Wir müssen im nächsten Weltkrieg als Erstes dafür sorgen, dass wir möglichst viele Gebiete erobern, die die Versorgung der Bevölkerung sichern. Die waren eben im Osten und Südosten Europas. Also Ukraine und die berühmten reichen Kornkammern. Und das Schreckliche ist ja, dass es Planungen gibt, wo gesagt wird, wenn wir uns darüber versorgen, bleibt vermutlich nicht genug für die Bevölkerung, die dort wohnt; das hat man einfach in Kauf genommen und gesagt: Vielleicht werden zwei, drei Millionen sterben."
Für uns Nach-Nachkriegskinder war der Hunger schon nicht mehr wirklich präsent. Der Zweite Weltkrieg und die unmittelbar darauffolgenden Hungerjahre waren in den 50ern, erst recht in den 60ern bereits in die Geschichtsbücher entrückt. Aber in den Kriegs- und Nachkriegsgeschichten der Eltern und Großeltern spielte der Hunger eine entscheidende Rolle. Denn sie hatten ganz real Brennnesselsüppchen gekocht und hinuntergewürgt. Hatten morgens erst mal die Schicht ertrunkener Käfer von den eingeweichten Hülsenfrüchten entfernt, um dann trotzdem mit dem Kochen zu beginnen. Hatten von Amerikanern dargebotene Fischkonserven mit Heißhunger verschlungen, um Jahre später zu erfahren, was die Vokabel "catfood" auf dem Etikett bedeutete.
Brüggemeier: "Muckefuck, Kaffeeersatz, Ersatz für alles Mögliche, man konsumiert oder isst oder trinkt Angebote, die man später freiwillig nicht mehr trinken würde, aber die Grundversorgung ist eigentlich gesichert."
Und der Wohlstandsbauch wuchs. Während hungernde Menschen nur noch auf den Bildschirm ins Wohnzimmer flimmerten.

Die Milch macht's in der Mongolei

Jeden Tag ein Glas Milch! Lautete die Quintessenz meiner Großmutter. Meine Großmutter wusste warum. Milch war eines der ersten und wirksamsten Mittel, um die Ernährungssituation des Menschen zu stabilisieren.
Janina Duerr: "Die erste Haustierhaltung, das kann man so grob ab 10.000 v. Chr. eigentlich ansetzen. In Mesopotamien und auch in Anatolien, da kommen die Rinder vor allem her. Wenn man Milchvieh hält, lässt sich der Ertrag verdoppeln oder verdreifachen im Vergleich zu Mastvieh."
Ohne Milch wäre das Rad nicht erfunden worden. Archäologische Funde von Milchfetten an Gefäßscherben zeigen, dass die erste Milch allemal 2000 Jahre, bevor das erste Rad durch die Steppe rollte, gemolken wurde! Gut möglich, dass der Mensch nur deshalb Muße genug hatte, das Rad zu erfinden, weil er Milch als stets greifbares Nahrungsmittel zur Verfügung hatte. Ein entscheidender Überlebensvorteil! Denn bei Ernteausfällen konnte man auf Milch als kalorien- und eiweißreiche, zudem wenig keimbelastete Nahrungsquelle zurückgreifen. Erstmals in der Menschheitsgeschichte war es möglich, dass dauerhaft alle satt werden konnten.

Nomadin in der Mongolei
Ein Glas mit Rentiermilch hält eine Nomadin in der Mongolei in der Hand. © imago stock&people
Das machen uns noch heute die neuzeitlichen Abgeordneten der Frühgeschichte vor: die Nomaden. In einem der ärmsten Länder der Erde, in der Mongolei, wo mit einer Million Menschen etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung als Vollnomaden lebt, hungert niemand. "Hunger" gilt als eins der meist geächteten Wörter.
Baadma: "In der Mongolei spielt die Milch große Rolle…"
Eine Tasse Milchtee in der Hand, der nach einem seit Jahrtausenden tradierten Rezept zubereitet wird. Extrem gehaltvoll. Und für uns Europäer extrem gewöhnungsbedürftig.
Baadma: "Mit Reis oder mit Butter, ein bisschen Salz, oder manchmal mit trockene Fleisch, das ist super gesund, nach dem Tee fühlt man sehr stark. Das ist Energietank."
Nomadin: "Die Mongolen ab klein Kinder essen alle das Essen, hier das aus Milch gemacht wurde, und die Milch ist für uns einfach Leben, deswegen sind wir sehr glücklich... Milchtee und Arol. Brettharter, auf dem Jurtendach getrockneter Käse, der monate-, wenn nicht jahrelang haltbar ist… aus Joghurt kann man auch Milchwodka machen. Und dann Stutenmilch…vergoren. Als Festtagsgetränk und Medizin verwendet."
Im ersten Jahrtausend vor Christus kam es mit der geographischen Verschiebung der dominierenden Kulturen Richtung Westen zu einem bemerkenswerten Bruch.
Duerr: "Also es ist so, dass grade so von den Griechen oder den Römern, dass die das als ein barbarisches Zeichen ansehen, dass die als Nomaden lebenden Völker, dass die eben Milch trinken. Und da äußern sich die antiken Autoren dann: ´Sie tun das so wie bei uns die Kinder!` Also, das ist dann schon ein Zeichen der Abgrenzung auch."
Die Mongolen hingegen pflegen bis heute ihre fleisch- und milch-basierte Kultur, die sie – trotz der extrem kalten Winter und heißen Sommer – ohne Hunger über die Jahrtausende gebracht hat und den Aufbau ihres zweihundert Jahre währenden Weltreichs unter Dschingis Khan und seinen Nachfahren ermöglichte. Der große Vorteil der nomadischen Wirtschaft: Man hat die wandelnden Fleischpakete und Milchvorräte immer bei sich. Mobil und ausgesprochen flexibel. Was man, wie wir hörten, von der Nahrungsversorgung im – klimatisch ungleich günstigeren – Abendland wahrlich nicht sagen kann.

Versorgung der Armen im Mittelalter

Eckhart: "Im Mittelalter gibt es Armenspeisungen, also Stiftungen oder auch Hospitäler, die dazu da sind, Essen auszugeben. Dann gibt es in den Städten z.B. auch Kornhäuser, wo Getreide eingelagert wird, und dann gibt es eben auch die Möglichkeit, Importe zu organisieren, also wenn Ernteausfälle nur sehr lokal begrenzt sind, dann kann man von anderswo noch Getreide herholen, und man kann natürlich sozusagen den Zulauf stoppen. Man kann den armen Menschen verbieten, in die Stadt reinzukommen, und sich nur um die eigenen Armen kümmern."
Deren Speisung war ein Akt der Barmherzigkeit, zu der man als anständiger Christenmensch verpflichtet war.
Eckhart: "Es kommt ja niemand sündenfrei durchs Leben, das Ziel ist, möglichst die Sünden auszugleichen. Und meistens passiert das, indem man eben Stiftungen fördert, und aus dem Ertrag dieser Stiftungen werden dann die Armen gespeist."
Ein durchaus wirksamer Deal: Hilfst du anderen, kommst du selbst unkomplizierter in den Himmel, musst nicht so lange im Fegefeuer schmoren. Der Zugang zum paradiesischen Elysium erfolgte über genauestens definierte Leitersprossen, über ein gestaffeltes System, das den Umfang des Sündenkontos und der Finanzschatulle in Beziehung setzte. Wer viel Geld in die Waagschale werfen konnte, dem war es gegeben, sich einen Platz im Jenseits erkaufen zu können. Für die Armen eine Art Hungerversicherung. Eine ideell begründete, genau austarierte, finanziell definierte Solidargemeinschaft. Wenn auch nicht für alle.
Eckhart: "Wenn ich schon die Armen teile in die guten Armen und in die schlechten Armen, dann ist ja klar, dass ich mich nur um die eine Hälfte kümmere. Also alle gleich zu behandeln oder alle zu ernähren, ist eh kein Ideal, weil es diesen Gleichheitsgedanken gar nicht gibt. Menschen sind nicht gleich im Mittelalter. Es müssen gar nicht alle gleich satt sein. Eigentlich. Und was auch ganz wichtig ist, sind z.B. Prozessionen, Bittprozessionen, irgendwelche Bußehandlungen, wo die Armen und die Reichen sich an die Heiligen wenden und Gott bitten, den Hunger abzuwenden. Aber das ist dann natürlich sehr kleinteilig. Richtig übergeordnete Organisationen, wo man sagt, wir werden jetzt im ganzen Oberrheingebiet den Hunger bekämpfen, so was gibt es nicht."

Revolten gegen den Hunger

Eckhart: "Bei den Bauernaufständen sind ganz oft die Bauern aktiv, denen es eigentlich gut geht. Also nur, wenn man einen gewissen Reichtum hat, kann man überhaupt darüber nachdenken, wie man so die eigenen Lebensumstände verbessern kann. Wenn man wirklich nur damit beschäftigt ist, das täglich Brot auf den Tisch zu bekommen, dann ist es ja schwierig, sich politisch irgendwie zu engagieren."
Brüggemeier: "Wie 'ne Revolte eben ist: ziemlich spontan, also keine große Vorbereitung, eruptiv, und eben die Hoffnung, möglichst sofort durch unmittelbaren Zugriff etwa auf die Kornkammer oder auf irgendeine Bäckerei die Not zu lindern."
Paradebeispiel und zugleich die einstweilen letzte große Revolte dieser Art: Der schlesische Weberaufstand von 1844.
Sowohl die städtischen Zunfthandwerker als auch die ländlichen Hausgewerbetreibenden waren teilweise so verarmt, dass sie um ihr täglich Brot auf die Barrikaden gingen. Trotzdem: Die Ernährungslage stabilisierte sich, als sich in der Frühphase der Industrialisierung die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden veränderten.
Brüggemeier: "Die Vorgeschichte der Industrialisierung, das ist eine funktionierende Landwirtschaft. Zum einen um die Ernährung zu sichern, zweitens ist die Land-wirtschaft dann so effektiv, dass auch immer mehr Personen nicht mehr dort benötigt werden, sondern in die Industrie abwandern können."
Ganz erheblich trug dazu im 17., vor allem aber im 18. Jahrhundert die Einführung der Kartoffel und die Verbesserung des Wiesenbaus durch den gezielten Einsatz von Klee bei.
Brüggemeier: "Ab den 1870er-Jahren ist es so, dass Getreide, das aus den USA importiert wird, in Frankfurt am Main billiger ist als Getreide, das aus Ostpreußen kommt; wenn es über den Landweg transportiert wird."

Beginnende Globalisierung des Lebensmittelmarktes

Brüggemeier: "Wie kann man die Versorgung sichern? Indem man Handel treibt."
Darüber hinaus griffen erste überregionale Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung von Hungersnöten. Was beispielsweise die Bekämpfung von Ernteschädlingen, den Ausbau der Transportwege für den Nahrungsmittelhandel, die Verbesserung der Vorratshaltung anging. Und allmählich – im Grunde durch das über die Jahrhunderte angehäufte Erfahrungswissen – war die Produktivität der Landwirtschaft seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gestiegen.
Brüggemeier: "Sensen, Pflüge, keine große Investition, keine großen Erfindungen, sondern viele kleine – incremental Change – also viele kleine Verbesserungen addieren sich."
Die Landwirtschaft war nach wie vor Hand- und Knochenarbeit, aber die Bauern waren endlich in der Lage, nicht mehr nur für ihre Selbstversorgung, sondern auch für den Markt zu produzieren. Überschüsse, mit denen die Versorgung immer größerer Städte gewährleistet werden konnte. Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert noch einmal verstärkt durch die einsetzende Mechanisierung der Landwirtschaft: Heuwender, Traktoren, Dreschmaschinen. Letztere beispielsweise führten dazu, dass der Getreidedrusch in wenigen Wochen erledigt war, während man mit dem traditionellen Dreschflegel etwa 30 Wochen von Ende September bis Anfang Mai brauchte. Die Dreschmaschine machte die Gutstagelöhner im Winter also arbeitslos, und sie wanderten in die wachsende Industrie ab.
Auch die Technisierung der Landwirtschaft war allerdings ein schleichender Prozess, keine industrielle Revolution auf dem Acker! Bis der Traktoren- und Maschineneinsatz im kleinbäuerlichen Bereich ankam, sollte noch bis nach dem zweiten Weltkrieg, in manchen abgelegeneren Regionen bis in die 1960er-Jahre dauern.
Die verbesserte Produktivität der Landwirtschaft hat also zunächst die Industrialisierung möglich gemacht – und diese wiederum hat ein paar Jahrzehnte später die Mechanisierung der Landwirtschaft und damit weitere Ertragssteigerungen ermöglicht. – Und das hat das politische Denken tiefgreifend verändert. Da die Bereitstellung von Nahrungsmitteln nicht mehr so sehr von den Launen der Natur abhängig war, meldeten die Menschen ihren Anspruch an, satt zu werden.

Mögliches Leben ohne Hunger

Brüggemeier: "Ist ja alles da. Im Prinzip müsste es gelingen!"
War es bis dato ein Mythos, alle satt zu bekommen, wird es nun zur Gewissensfrage.
Brüggemeier: "Und die Pflicht zu versorgen. Gehört dann selbstverständlich zu diesen Aufgaben der neuen Nationalstaaten, also etwa Baden oder Württemberg oder Preußen, die ja im 19. Jahrhundert nach den napoleonischen Kriegen neue Gebiete bekommen und neue Bevölkerung bekommen, ist schon klar, dass die die Loyalität schon sichern möchten der neuen Einwohner. Und dazu gehört eben auch, dass man denen gewisse Angebote machen muss."
Dass sich staatliche Einrichtungen der Grundversorgung annahmen, geschah also keineswegs aus hehrer Menschenfreundlichkeit, sondern aus der wachsenden Abhängigkeit der Regierenden von der Zustimmung der Regierten. – Nahrungsmittelversorgung als Befriedungsstrategie und als Machtdemonstration. Paradebeispiel sind die Getreideexporte der USA in die UdSSR zu Zeiten des Kalten Krieges.
Brüggemeier: "Wer jetzt den anderen überlegen ist oder unterlegen ist und wer dann eher den berühmten Kampf der Systeme gewinnt oder nicht, spielte ja überall eine Rolle. Also der große Schock war eben der Sputnik-Schock, weil man den Russen ja alles zutraute, aber nicht in der modernen Technologie die Amerikaner abzuhängen. Andererseits war's sicher eine Genugtuung, dass nun in einem Bereich, wo man wiederum dachte, die Natur hat Russland so reichhaltig beschenkt, das müssten die eigentlich geregelt kriegen, wenn die dann ausgerechnet von den Amerikanern noch Getreide –, das wird in Russland selbstverständlich peinlich gewesen sein. Ist klar, wenn eine Weltmacht nicht in der Lage ist, Grundnahrungsmittel zu sichern, ist es einfach 'ne Schande."

Verfehlte Ziele der UNO

In archaischen Kulturen führte die überlebenswichtige Suche nach ertragreichen Jagd-, Acker-, Weidegebieten zu Kämpfen und Kriegen, bei denen es um die Verdrängung oder Unterwerfung von Konkurrenten ging. In der Welt des globalisierten Kapitalismus ist daraus ein Kampf um Wirtschafts- und Handelsmacht geworden. Die Position im Welthandel bestimmt den Lebensstandard von Staaten und Gesellschaften. Bestimmt letztlich, ob sie sich ausreichend ernähren können. Auch darin stecken Existenzkämpfe mit enormem kriegerischen Potential. Die Mächtigen, die Industriestaaten mit ihren Konzernen, die Global Players sehen sich nunmehr mit der politischen Erwartungshaltung konfrontiert, dass die Weltwirtschaft rund um den Globus für eine sichere Ernährung zu sorgen hat.
Brüggemeier: "Die UNO ist ja so ähnlich wie die Regierung im 19. Jahrhundert, will Loyalität sichern und auch ihre Anerkennung sichern, ihre Autorität und verkündet da manchmal Ziele, die jetzt erst mal sehr gut klingen, aber sie sind ja nicht sehr erfolgreich gewesen."
Jedenfalls nicht was den Hunger in der Welt betrifft. Zunächst mal war ein derber Rückschlag zu verzeichnen:
Als im Jahr 2008 bei Nahrungsmitteln die Weltmarktpreise drastisch anzogen, teilweise um mehrere hundert Prozent, kam es in zahlreichen Dritt-Welt-Ländern zu Hungerrevolten. Nur durch massive Intervention des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, das über 100 Millionen Menschen entsprechende Ernährungshilfe zukommen ließ, konnte das Schlimmste verhindert werden.
Bis auf den heutigen Tag macht der chronische Hunger armer Bevölkerungsschichten den Löwenanteil des Welthungerproblems aus. Nicht etwa kurzfristig auftretende Hungersnöte, die man durch punktuelle Hilfen ausgleichen könnte. Die UNO jedenfalls ist bei der Umsetzung des ersten Millenniumsziels, was den Hunger in der Welt betrifft, nicht sehr weit gekommen.
Immer noch ist jeder Zehnte von akutem Hunger betroffen.
"Um den Hunger bis zum Jahr 2030 auszurotten, müssten nach UN-Berechnungen zusätzlich 135 Milliarden Euro pro Jahr in ländliche Entwicklung und Ernährungssysteme investiert werden." (zitiert nach Badische Zeitung, 11.7.2015)
Brüggemeier: "Ist ja alles da. Im Prinzip müsste es gelingen."
Es kann indes auch ganz anders kommen.
Zitat: "Soeben ist auf Deutsch ein Buch des amerikanischen Kulturanthropologen Eric H. Cline erschienen: '1177 v. Chr. – Der erste Untergang der Zivilisation'."
Beschrieben wird die blühende Zivilisation rund ums Mittelmeer in der Zeit der ägyptischen Pharaonen. Ein hochkomplexes Wirtschafts- und Handelssystem innerhalb des damals bekannten Erdkreises. Plötzlich jedoch brach diese Zivilisation zusammen. Naturkatastrophen, politische Krisen, Überfälle der sogenannten Seevölker zeigten, wie verwundbar Großmächte sind und wie instabil ein weit verzweigtes Wirtschaftssystem sein kann. Die Zivilisation versank in den dunklen Jahrhunderten. Was das für die Menschen bedeutete, kann man nur ahnen.
Eric H. Cline sieht Parallelen zur heutigen Situation. So sicher unsere Ernährung scheint: Was stünde in den Regalen der Lebensmittelläden, wenn der Welthandel zusammenbräche? Wirklich zusammenbräche. Wie das Ägypten der Pharaonen.
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