Weltdeutung

Früher Zeus, heute Pippi Langstrumpf

Stephanie Wodianka im Gespräch mit Ulrike Timm · 31.12.2013
Mythen, das sind Geschichten, die den Menschen helfen, ihre Welt besser zu verstehen, sagt Literaturwissenschaftlerin Stephanie Wodianka. Zu den Mythen unserer Zeit zählt sie etwa "68er-Revolution", "American Dream" oder "Pippi Langstrumpf".
Ulrike Timm: Die griechische Mythologie mit ihrer Unzahl ziemlich menschlicher Götter, mit all ihren Zwisten, Intrigen und auch ihrer Lebenstüchtigkeit, ist bis heute im kulturellen Gedächtnis verankert, weil diese Geschichten so anschaulich, so sinnbildlich von der Welt und vom Selbstverständnis der Menschen erzählen.
Doktor Faustus, der das Leben ganz auskosten will und doch nie zufrieden ist, Don Juan, der jede Frau flachlegt oder Batman, der alle brenzligen Situationen letztlich doch wieder hinbiegt, das sind Mythen neuerer Zeit. Aber das Wort, der Begriff an sich hat gelitten – wenn es heißt, das ist doch ein Mythos, dann meint man meist, da spinnt doch jemand. Und wer am Silvesterabend den ganz großen Neuanfang plant, der merkt oft genug eine Woche später, dieser Mythos hat nicht hingehauen.
Mit all dem hat sich Stephanie Wodianka beschäftigt, um ein ganz großes Unternehmen in Angriff zu nehmen, ein "Lexikon der modernen Mythen", der Mythen unserer Zeit. Schönen guten Tag, Frau Wodianka!
Stephanie Wodianka: Guten Tag!
Timm: Erst einmal: Wie halten Sie es denn mit dem Mythos des Neuanfangs fürs kommende Jahr?
Wodianka: Ja, eigentlich ist der Silvestertag ja ein Moment, in dem Erzählungen vom Schluss und Erzählungen vom Anfang ineinander fallen und bei dem wir ganz rituell gewohnt sind, in Bezug auf uns selbst, aber vielleicht auch in Bezug auf Kollektive uns auch neu zu definieren und neu zu überlegen, woher wir kommen und wohin wir wollen.
Timm: Und sie definieren sich heute neu?
Wodianka: Na ja, irgendwie zeigt ja die Erfahrung, dass eine ganz gründliche Neudefinition nicht sinnvoll und nicht möglich wäre, aber so ein Moment, um zurückzuschauen, was im letzten Jahr war und was man fürs nächste erwartet, das finde ich schon, ist ein guter Moment an Sylvester.
Timm: Ein paar klassische Mythen habe ich eben genannt, von den alten Griechen bis hin zu Don Juan. Aber was genau macht Mythen aus, wozu brauchen Menschen Mythen?
Die Menschen in ihrem Verhältnis zu den Göttern
Wodianka: Ich glaube, Menschen brauchen Mythen, weil sie Erzählungen sind, mit denen man sich in der Welt besser zurechtfindet. Sie dienen einfach dazu, die Welt begreifbarer zu machen und die Komplexität der Welt und vielleicht auch unsere eigene besser in den Griff zu bekommen. Dazu dienen Mythen noch heute, und dazu haben sie auch schon immer gedient. Sie sind die eigentlichen Erzählungen, mit denen sich die Menschen in ihrem Verhältnis zu den Göttern beschrieben haben. Und vielleicht sind es heute nicht unbedingt die Götter, aber auf jeden Fall geht es immer noch um das Verhältnis des Eigenen und der Welt.
Timm: Welche Rolle spielen denn reale Erfahrungen von Menschen bei der Mythenbildung? Es ist doch erstaunlich, dass die Mythen immer voller Götter, und wenn Menschen, dann irgendwie Übermenschen stecken.
Wodianka: Auch bei antiken Mythen ist es ja so, dass diese Götter und diese mythischen Figuren durchaus sehr menschliche Züge haben, auch wenn sie Götter sind. Und ich glaube, diesen Anknüpfungsmoment, den brauchen die Menschen schon, auch bei modernen Mythen. Die Erfahrungen, die wir machen, werden einerseits selber gedeutet über Mythen, seien es alte Mythen, seien es neue Mythen, und ich glaube, wenn die Weltdeutungsbrille, die uns die Mythen aufsetzen, wenn die dieses Ereignis vollkommen aus dem Blick geraten ließen und nicht mehr anschließbar wären, dann würden auch die Mythen ihre Wirkmächtigkeit verlieren oder für uns einfach nicht mehr relevant sein.
Timm: Wir sprechen mit der Kulturwissenschaftlerin Stephanie Wodianka über Mythen, und Frau Wodianka arbeitet derzeit an einem Lexikon der modernen Mythen, und sie hat da erstaunlich viel gefunden. 150 Mytheneinträge sollen es werden, von '68er-Revolution' über 'American Dream' bis 'Zeitzeuge' – taugt denn heute alles und jedes zum Mythos?
Wodianka: In der Moderne kann wahrscheinlich alles zum Mythos werden, aber es wird eben nicht alles zum Mythos, und das ist ja auch die Herausforderung, der wir uns mit dem Lexikon stellen, dass wir ja vor der Frage stehen, was sind denn Phänomene, die wir als moderne Mythen bezeichnen würden, ohne jetzt gleich von einer Inflation des Mythischen sprechen zu wollen. Wir meinen ja nicht Mythos im Sinne von das ist nur ein Mythos, sondern wir meinen nach wie vor Erzählungen, die praktisch eine Weltdeutungsbrille für die Menschen sind. Und die Frage, welche Erzählungen es denn sind, die die Moderne geprägt haben und die eine solche kulturelle Bedeutung bekommen haben, so wie sie die antiken Mythen für uns noch heute haben, bloß dass den modernen Mythen eben dieser lange Kanonisierungsprozess fehlt und sie erst beweisen müssen, ob sie dauerhaft sind. Denn das gehört ja zu Mythen auch dazu, diese zeitliche Dimension und gewisse Prognose über das Haltbarkeitsdatum.
Timm: Warum langt es bei '68er-Revolution' und 'American Dream' und 'Zeitzeuge' zum Mythos, und für, sagen wir, 'Bundestagswahl' oder 'Verkehrsverbund' eben nicht?
Wodianka: Das Spezifische am Mythos ist eben nicht nur, dass sie Welt deuten und Komplexität für uns reduzieren, sondern sie vermitteln auch Normen und Werte. Außerdem ist das Signifikante bei Mythen, dass sie eigentlich eine erzählerlose Erzählung sind, selbst wenn es einen Erzähler gab vielleicht oder wenn es ein historisches Ereignis ist, aus dem der Mythos entspringt, ist es nicht so, dass wir diesen Erzähler mit erinnern. Es ist praktisch so, als würde die Natur erzählen.
Timm: Können Sie das an einem Beispiel aus Ihrem Mythenlexikon festmachen?
Wodianka: Ein Beispiel ist die Erzählung vom 'Kampf der Kulturen' für die Moderne. Das ist eine Erzählung, die davon ausgeht, dass es Kulturen gibt, die aufeinander treffen, die miteinander kämpfen, die im Streit stehen, und die aber gleichzeitig etwas voraussetzen, was sie eigentlich erst zu erklären scheinen. Und wer das eigentlich erzählt hat oder wer zum ersten Mal diese Geschichte vom Kampf der Kulturen und welche das sein könnten, ob Christentum und Islam oder wer auch immer, wer das gewesen ist, das ist eigentlich unerheblich.
Und diese Erzählung gewinnt ihre Autorität eigentlich nicht dadurch, dass man weiß, wer das erzählt hat, sondern sie gewinnt ihre Autorität dadurch, dass man in vielen Situationen das Gefühl haben kann, das stimmt, und für die anderen ist das ganz evidentermaßen so, dass das nicht stimmen kann und dass es in Frage steht, ob diese Deutung der Welt in zwei oder mehrere Kulturen, die aufeinanderprallen - und die überhaupt selbst wissen, inwiefern sie selbst eine solche Einheit sein können, inwiefern das stimmen kann.
Timm: Da hat der Huntington einen Begriff mit dem Kampf der Kulturen geschaffen, mit dem man ihn gar nicht mehr verbindet, aber der Begriff ist in der Welt. Sie haben ganz wertfrei alphabetisch geordnet. Es sind schöne Mythen drin, "Alice im Wunderland", "Batman". Vielleicht ist das selektive Wahrnehmung von mir angesichts von 150 Mythen, aber auffällig viele sind mit Angst, mit Gewalt, mit dem 11. September verknüpft. 'Ground Zero', 'Twin Towers', 'Terrorismus' – haben wir den neuralgischen Knotenpunkt unseres Jahrtausends gleich zu Anfang erlebt?
Wodianka: Also ich glaube schon, dass Mythen dann eine ganz besonders große Rolle spielen, wenn es um menschliche Ängste geht – dafür sind sie ja da. Also, Komplexitätsreduktion meint doch eher oft Angstreduktion, weil das, was komplex ist, überschauen wir nicht, und dafür brauchen wir gerade solche mythischen Erzählungen. Das ist vielleicht ein Indiz dafür, nicht, dass wir glauben, dass das alles Einzelmythen sind, 'Ground Zero', 'Twin Towers' und so weiter, aber es ist vielleicht ein Indiz für die kulturelle Bedeutung, die dieser Erzählung, die sich um den 11. September rankt, weil eben mit diesem Datum verbunden wird ein mythischer Ort, ein mythisches Ereignis, mythisierte Bilder, Erzählungen von der 'Achse des Bösen', die sich auch darum ranken. Für uns ist das ein ganzer Mythenkomplex, und insofern erklärt sich, dass sie in unserem Lexikon mehrere Begriffe finden, die damit etwas zu tun haben, ohne dass wir denen jeweils im Einzelnen so einen Extrastatus als Mythos zuweisen würden.
Timm: Haben Sie unter den vielen Einträgen einen, der Ihnen besonders nahe ist, wo Sie sagen, das ist ein Mythos, mit dem ich ganz besonders viel verbinde und der so präsent ist, dass ich ihn jetzt noch mal beschreiben möchte?
Mein Lieblingseintrag ist der Begriff "Moderne"
Wodianka: Am liebsten beschäftige ich mich gedanklich mit dem Eintrag 'Moderne' selbst. Und wenn man überlegt, wann fängt denn die Moderne einfach an, da geht es schon los. Fängt die an mit der Geburt Christi, fängt die an mit der frühen Neuzeit? Fängt die an erst im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, mit bestimmten Lebens- und Arbeitsformen, oder vielleicht auch erst noch später? Das finde ich eine ganz interessante Frage, inwiefern die Moderne, von der wir ja so selbstverständlich sprechen, ob die nicht eben auch eine Erzählung ist, die in ganz verschiedenen Bereichen, auch medialen Bereichen oder Wissenschaft, aber eben auch Bildern, ob die nicht selbst eben auch mythischen Charakter hat und unserer Selbstdefinition, unserer Weltdeutung dient, weil wir damit sagen, es gibt eine Moderne und eine Zeit, die anders war, eben vormodern, nichtmodern.
Timm: Frau Wodianka, welchen Mythen unserer Zeit trauen Sie eigentlich Nachhaltigkeit zu, was zugegebenermaßen die etwas unverschämte Frage beinhaltet, was wird man sich von uns in Hunderten Jahren noch erzählen?
Wodianka: Wir haben schon eigentlich versucht, bei allen Mythen, die wir rausgesucht haben, so eine gewisse Prognose zu machen, weil die Frage ist, ob diejenigen Mythen, die ganz besonders vernetzt sind miteinander, ob die vielleicht eine größere Stabilität haben als welche, die so einen Einzelstatus haben. Also ich glaube schon, dass zum Beispiel die Erzählung von der Moderne an sich, weil sie so einen großen Komplex auch unter sich fasst von anderen mythischen Erzählungen, dass das eine Erzählung ist, die man noch weiter erzählen wird, das ganz bestimmt. Ob es andere sind, wie die Achse des Bösen oder die Erzählungen, die sich um den 11. September ranken oder vielleicht auch einzelne fiktionale Figuren wie Pippi Langstrumpf, das ist natürlich schwierig, das im Vorhinein zu sagen.
Timm: Das ist interessant. Jetzt sind wir so ins Dunkel gekrochen – die Gewalt, der Terrorismus, die Twin Towers, der 11. September, die Moderne in ihren schillernden Facetten. Pippi Langstrumpf ist auch drin?
Wodianka: Ja, Pippi Langstrumpf als Mythos finde ich deshalb wichtig für die Moderne, weil in ihr auch ganz große andere Erzählungen mit eine Rolle spielen, zum Beispiel von Emanzipation. Pippi Langstrumpf vereint in sich neue Erzählungen vom Verhältnis zwischen Frauen und Männern, des Verhältnisses eines Mädchens zu sich selbst und zur Welt, vielleicht auch zum Alleinsein, zum Sein ohne Eltern. Und insofern würde ich sagen, Pippi Langstrumpf steht auch für ihre Zeit, in der sie entstanden ist, und zwar einerseits über die Romane, auf der anderen Seite aber auch über den Film, der sie sehr bekannt gemacht hat. Und man sieht auch jetzt noch bis hin zum Geburtstagspappteller, den wir für Kindergeburtstage kaufen, wie lebendig Pippi Langstrumpf noch ist. Das finde ich ganz erstaunlich, und insofern gehört sie ohne Komplexe, würde ich sagen, an die Seite auch anderer, antiker Mythen, die erst mal sehr fern davon scheinen, aber eigentlich in ihrer Funktion ja doch ähnlich sind. Sie erklären Welt oder liefern Modelle für die Menschen, und das tut Pippi Langstrumpf auch.
Timm: Sie haben mich komplett überzeugt. Stephanie Wodianka, vielen Dank für das Gespräch. Sie arbeitet an einem "Lexikon der modernen Mythen", und für den heutigen Abend wünsche ich Ihnen bei aller Skepsis, dass das mit einem kleinen Neuanfang klappt. Herzlichen Dank fürs Gespräch und alles Gute!
Wodianka: Danke schön! Auch Ihnen ein schönes neues Jahr!
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