Welt ohne Facebook?

Man wird ja noch träumen dürfen!

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Ein "Daumen nach unten"-Symbol vor schwarzem Hintergrund spiegelt sich in Wassertropfen und wird so yu einem "Daumen nach oben"-Symbol.
Mark Zuckerbergs Drohung eröffnet die Möglichkeit, das Internet wieder als Raum voller Möglichkeiten zu imaginieren, sagt Eva Marlene Hausteiner. © Unsplash / Barefoot Communications / Melanie Hoefler
Ein Kommentar von Eva Marlene Hausteiner · 13.02.2022
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Die Drohung, sich aus Europa zurückzuziehen, hatder Konzern Meta diese Woche zwar relativiert, die Vorstellung, wie das Internet ohne Facebook aussähe, lag trotzdem für einen Moment in der Luft – und hat zum Träumen angeregt.
Kein Facebook mehr, um alte Schulfreund*innen aufzuspüren, kein Instagram, um dank der Influencer auf dem Laufenden zu bleiben – ganz schön schrecklich! Oder vielleicht eher: schrecklich schön? Mark Zuckerbergs Drohung war auf den zweiten Blick fast schon ein Versprechen: Endlich wären wir (zumindest in Europa) den vielleicht schlimmsten Social-Media-Konzern des World Wide Web los, und dies scheinbar ohne große Umstände.

Die Utopie des offenen Internets

Die Vorstellung ist tatsächlich bestechend: Der digitale Raum, den wir in letzten Jahren zunehmend als eng und beklemmend erleben mussten – Hasskommentare, Wahlmanipulationen, enormer psychischer Stress für Jugendliche, unzählige verlorene Stunden in den Fängen profitmaximierender Aufregungs-Algorithmen – wäre auf einmal offener und freier. Er wäre wieder das, was vielen in den 1990er-Jahren als greifbare Utopie vorschwebte: ein Raum, den wir gestalten können.
Lassen wir uns auf diese Fantasie für einen Moment ein: Was wäre denn eigentlich die digitale Utopie, die wir uns wünschen? Das Utopische ist ideengeschichtlich genau dadurch gekennzeichnet, dass es einerseits von einem Idealzustand erzählt, dieser Idealzustand aber andererseits per definitionem unerreichbar ist. Das Narrativ verschiebt den Idealzustand in die ferne Zukunft oder an einen Fantasieort.
Die Insel „Utopia“, von der der Renaissancehumanist Thomas More als Idealstaat 1516 erzählte und mit der er zugleich den Begriff der Utopie – wörtlich: des Nicht-Ortes – schuf, war beispielsweise geografisch schlicht unauffindbar. Dieser bewusste Anti-Realismus – ein im Hier und Jetzt nicht verwirklichbares Szenario – hat eine philosophische wie auch praktische Funktion: Wenn wir nicht an die Hindernisse denken, sondern nur fragen: "Was wäre denn der Idealzustand?", kann unsere Vorstellungskraft frei wirken, radikal kritisch dem Status Quo entgegengesetzt.

Können wir alles haben?

Dann erst kommen die wirklich schweren Fragen ins Spiel: Welchen Normen sollte denn eine ideale digitale Zukunft folgen? Angenommen, wir möchten auch in Zukunft globale digitale Kommunikationsräume, also soziale Medien, welche Ziele sollen sie erfüllen? Geht es um individuelle Selbstverwirklichung, um die Erzeugung globaler Identität und Solidarität, um den Austausch von Wissen? Oder wollen wir demokratische Abläufe stärken – und was genau meinen wir damit eigentlich? Wir können ja auch im Idealzustand nicht alles haben, die genannten Normen stehen durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander.
Eva Marlene Hausteiner
Nur wer utopisch denkt, kann Zukunft gestalten, meint Eva Marlene Hausteiner.© David Elmes
Denn auch das ist typisch für Utopien: Sie sind zwar bewusst radikal-antirealistisch, aber eben auch in sich stimmig und konsistent: Ihre unterschiedlichen Dimensionen – sozial, technologisch, politisch, ökologisch – sind idealerweise aufeinander abgestimmt, das Verhältnis der leitenden Normen zueinander ist geklärt.
Wenn wir uns soziale Medien wünschen, die als Raum des Gemeinwohls fungieren, der von Profitinteressen freigehalten wird, in dem Daten geschützt sind, in dem globale Kommunikation gefördert und demokratische Prozesse respektiert werden, müssen wir uns dann nicht auch fragen: Unter welchen politischen Rahmenbedingungen können wir ein solches Netzwerk errichten, damit es nicht sofort wieder den Weg von Facebook geht? Wenn wir also von der digitalen Tabula Rasa, der Welt nach Facebook und ohne Metaverse zurücktreten: Wie sieht diese Welt insgesamt aus, und welche Rolle kann darin die Digitalisierung erfüllen?

Ohne utopisches Denken keine Zukunft

Genau diese Denkbewegung machte Mark Zuckerbergs Drohung so erhellend: Sie war gewissermaßen eine Utopie in einem Halbsatz und erlaubt es uns plötzlich, das Internet als Raum voller Möglichkeiten zu imaginieren – und zwar, ohne sofort an die Hindernisse zu denken: an die Macht der Konzerne, die Tatsache, dass die meisten von uns in unserer Lebenspraxis direkt von diesen abhängig sind, an stets hinterherhinkende demokratische Regulierungsversuche.
Die vielleicht naive Idee einer Gestaltbarkeit der Zukunft müssen wir uns immer wieder neu erarbeiten und erdenken. Erst aus ihr kann dann womöglich die nötige utopische Energie für realistische Änderungen entstehen. Insofern ausnahmsweise: Danke, Mark!

Eva Marlene Hausteiner lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Sie forscht zu politischen Narrativen und Rechtfertigungsstrategien, zu Föderalismus und Imperien und ist Mitbegründerin und Redaktionsmitglied des "Theorieblog".

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