Welche Kulturpolitik braucht Deutschland?

Von G. Ulrich Großmann |
Die Kürzungen der Jahre politisch-wirtschaftlicher Krise führten zu einem bundesweiten Kulturabbau, der der gesamten Gesellschaft schadet. Sie sind inzwischen soweit fortgeschritten, dass viele bewährte Einrichtungen der Kulturpflege und -forschung ausscheidendes wissenschaftliches Personal nicht mehr ersetzen können und Leiterstellen völlig unterschiedlicher Einrichtungen – wie jetzt etwa in Frankfurt - zusammengelegt werden.
Direktoren werden nach dem Prinzip von Opernintendanten befristet eingestellt, aber nach den Regeln des Öffentlichen Dienstes, also wesentlich geringer, bezahlt – wer da nicht spurt, riskiert seinen Rauswurf und hat keine Chance, das später aufzufangen. Politik, im Kulturbereich mit abnehmender Kompetenz betrieben, duldet im gleichen Maße kaum mehr Widerspruch.

Die Verbindung von Kultur, geschichtlichem Bewusstsein und Forschung stößt dagegen in weiten Bereichen der Politik auf Verständnislosigkeit. Die Konsequenzen der geringen Spielräume sind verheerend. Museen können den Auftrag des Sammelns, Bewahrens und Erforschens nicht mehr leisten. Die vierte Säule der Museumsarbeit, das Vermitteln, verkommt zum meist hintergrundslosen Event. Kulturarbeit an Museen wird zum Spaßfaktor degradiert, während die dringend notwendige kulturgeschichtliche Grundlagenforschung nicht mehr stattfinden kann.

Der Kulturabbau trifft keineswegs nur die Museen. Auch an den Universitäten herrscht heute das Prinzip der einfachen Lösungen: Wir brauchen Informationstechnologie, Medizintechnik usw. – also kürzen wir alles, was unmodern und exotisch wirkt. Wozu Sinologie? Es weiß eh kein Mensch, was das genau ist. Nun gut - es handelt sich um Kultur, Geschichte und Sprache Chinas.

Aber wozu sollen wir China kennen, Hauptsache die kaufen unsere Waren. Dass China die Wirtschaftsmacht der Zukunft ist, wird ignoriert. Byzantinistik, Islamwissenschaften... Wozu sollen wir die Länder des Nahen und Mittleren Ostens verstehen, wenn wir für unsere eigene Kultur kein Geld mehr haben? Ich fürchte, die meisten Politiker verstehen nicht einmal die Ironie, die in einem solchen Satz liegt.

Anstelle der derzeitigen Trennung von Kultur und Wissenschaft benötigen wir eine enge Verzahnung dieser Bereiche.

Der Aderlass, der derzeit an den deutschen Museen und Forschungseinrichtungen stattfindet, bewirkt eine Alzheimer-Kultur. Denn Museen bewahren das Wissen um die Dinge. Das kulturelle Gedächtnis verschwindet. Wenn Museen und ähnliche Forschungseinrichtungen nicht mehr die finanziellen Mittel haben, Forscher zu beschäftigen, geht das Wissen für Generationen verloren.

Deutschlands Einzigartigkeit besteht in seinem Föderalismus, Ergebnis der jahrhundertlangen Geschichte dieses Landes. Er verteilt Entscheidungen auf viele Ebenen. Im Ausland ist dies schwer verständlich. Aber wer in der französischen Provinz einmal ein Opernhaus, in der englischen einmal ein Museum besucht, wird die deutschen Vorteile schnell erkennen.

Die Politik aber richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Bewahrung von Erbhöfen, nicht auf die Stärkung des kulturellen Erbes. Die Bundesregierung konzentriert sich zunehmend auf die Förderung der Hauptstadtkultur. Eine gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern für die Kultur in Deutschland gerät jedoch in Gefahr. Entflechtung ist zu einem Modewort geworden - obwohl jeder weiß, dass ein "entflochtenes" Netz nur noch aus Fäden besteht, die nichts mehr halten können.

Auch für die nahe Zukunft gilt, dass vor dem Hintergrund der Krise der Europäischen Union gerade das historisch fein gesponnene Netzwerk der Kultur am ehesten in der Lage ist, Integration zu schaffen und den Blick über den nationalen Tellerrand hinweg zu führen. Wenn internationale Projekte wegen des Kürzungswahns nicht mehr verwirklicht werden können, wird Kulturpolitik kontraproduktiv.

Wir brauchen eine Kulturpolitik, die versteht, dass Kultur ohne Forschung Gedächtnisverlust bedeutet, eine Kultur, die dementsprechend handelt. Nur wer die Vergangenheit erforscht, ist auch für die Zukunft gerüstet. Wir brauchen eine kontinuierliche, verlässliche Förderung der kulturellen Vielfalt. Ein einmal geschlossenes Museum wird niemand mehr aufmachen, eine einmal verkaufte Sammlung ist nicht mehr zurückzugewinnen.

Wir brauchen eine solide Finanzierung der mit kultureller Bildung und der mit Erforschung und Bewahrung der Kultur beauftragten Einrichtungen. Deren Forschung schafft Grundlagen für die Arbeit in den Ländern und Kommunen und bewirkt den internationalen Austausch. Internationale Kontakte und länderübergreifenden Ausstellungsaustausch allein auf die in der Hauptstadt angesiedelten Kunst- und Spezialmuseen zu beschränken, ist keine Politik auf lange Sicht, weil es dem Ausland den Blick auf die dezentrale kulturelle Vielfalt Deutschlands verschließt.

Es geht hier also nicht um die Förderung von Events, deren Effekt sich ohnehin schnell verflüchtigt, es geht um solide Grundlagen. Nur damit lässt sich auf Dauer der Kultur- und Bildungsstandort Deutschland sichern.

Kultur, Bildung und Wissenschaft sind das Kapital Deutschlands gegenüber der globalen Konkurrenz. Wer diese Standortfaktoren auch nur ansatzweise vernachlässigt, führt Deutschland auf den Weg zum geistigen Billiglohnland. Deutschland hat eine Zukunft – Kultur steht im Zentrum dieser Zukunft!

Professor Dr. G. Ulrich Großmann, geboren 1953 in Marburg/Lahn, studierte Kunstgeschichte, Europäische Ethnologie und Christliche Archäologie an den Universitäten Würzburg und Marburg. 1994 Habilitation an der Universität Hannover (Fachbereich Architektur), 1997 Umhabilitation an der Universität Bamberg (Kunstgeschichte des Mittelalters). 1980-1986 Bauhistoriker am Westfälischen Freilichtmuseum Detmold, 1986-1994 Gründungsdirektor des Weserrenaissance-Museums Schloss Brake, Lemgo; seit 1994 Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Gründungsvorsitzender der Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von Burgen und Schlössern seit 1992.

Auswahlbibliographie: Einführung in die historische Bauforschung, (1993). Das Germanische Nationalmuseum und seine Architektur, (1997). Mehrere Kunstreiseführer im DuMont Buchverlag. Herausgeber bzw. Mitherausgeber des Jahrbuchs für Hausforschung, der Berichte zur Haus- und Bauforschung, des Schriftenreihen des Weserrenaissance-Museums (bis 1995) bzw. des Germanischen Nationalmuseums (ab 1994) sowie der Forschungen zu Burgen und Schlössern. Mehrere Publikationen in der Reihe Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa, Verlag Schnell & Steiner.