Welche Anpassung?

Von Hans Ulrich Gumbrecht |
Politische Meinungen, religiöse Überzeugungen, oder Grundwerte der privaten Lebensführung dürfen ebenso wenig Voraussetzung für den Erwerb der Staatsbürgerschaft sein wie der Stil, mit dem ein Berufsfußballer sein Geld verdient.
Gerald Asamoah aus Ghana, den die Fans von Schalke 04, zärtlich und ruppig zugleich ihren "Schwatten" nennen, gehört zum Kader für die Fußball-Weltmeisterschaft. Ob er wirklich spielen wird und dann auch die Möglichkeit hat, für Deutschland Tore zu schießen, steht noch nicht fest.

Es wird davon abhängen, ob er in Form ist und sein Spiel an den Stil der Nationalmannschaft anpassen kann. Viel Geld und sportliche Ehre stehen für Asamoah (im wahrsten Sinn des Wortes) "auf dem Spiel".

Aber bestimmt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, die er vor einigen Jahren erworben hat – vermutlich mehr wegen der relativ guten Gehälter, die in der Bundesliga gezahlt werden als aufgrund spezieller Begeisterung für die deutsche Kultur.

Ein ganz normaler Vorgang muss diese Einbürgerung gewesen sein - mit dem richtigen Ergebnis, welches sowohl dem deutschen Fußball als auch Asamoah nutzt. Aber wäre es legitim gewesen, wenn man ihn als Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft einen Fragebogen hätte beantworten lassen, wie ihn vielleicht schon bald islamische Bewerber um einen deutschen Pass ausfüllen sollen?

Das kommt, meine ich, sehr auf den Inhalt der Fragen an. Genauer darauf, ob solche Fragen den Unterschied zwischen dem "Staat" auf der einen und der "Kultur" oder der "Gesellschaft" auf der anderen Seite respektieren. Als Staatsbürger wird man Mitglied eines politischen Systems und erwirbt so gewisse Pflichten und Rechte, vor allem das Recht auf lebenslangen Aufenthalt innerhalb jenes Territoriums, in dessen Grenzen die Macht des jeweiligen politischen Systems gilt. Verpflichtungen gegenüber der dominierenden Kultur oder den gesellschaftlichen Formen eines Landes impliziert Staatsangehörigkeit hingegen nicht.

Solange man also wirklich jeden Bewerber mit dieser Verpflichtung konfrontierte, wäre es durchaus in Ordnung, wenn zukünftige deutsche Staatsangehörige - wie es etwa in den Vereinigten Staaten der Fall ist - einen Test zu bestehen hätten, der überprüfte, ob sie die Voraussetzungen mitbringen, um als Buerger des Landes dessen politisches System mit zu tragen.

Zu solchen Voraussetzungen können Grundkenntnisse der Verfassung, der politischen Geschichte oder der nationalen Sprache gehören, und gewiss auch die Bereitschaft, sich bestimmten Formen der öffentlichen Auseinandersetzung zu unterwerfen. Politische Meinungen aber, religiöse Überzeugungen, oder Grundwerte der privaten Lebensführung dürfen ebenso wenig Voraussetzung für den Erwerb der Staatsbürgerschaft sein wie der Stil, mit dem ein Berufsfußballer sein Geld verdient.

Der unselige Begriff der "Leitkultur" sollte deshalb so bald als möglich von der Institution der Staatsangehörigkeit abgekoppelt und dann bitte ersatzlos vergessen werden. Man kann zwar hoffen, dass neue Staatsbürger sich der Kultur ihres neuen Landes öffnen, aber dazu dürfen sie keinesfalls mit staatlichen Machtmitteln gezwungen werden – und das Wort "Leitkultur" klingt fatal wie eine maskierte Form des Wunsches, kulturelle Anpassung eben durch Gesetzesverordnung durchzusetzen.

Warum sollte der Staat aber gegenüber kultureller Vereinheitlichung so zurückhaltend bleiben? Die nicht-juristische Antwort auf diese Frage heißt erstens, dass die Umformung bestehender Kulturen durch immer neue soziale Gruppen das Zentrum jener Dynamik ist, die wir "Geschichte" nennen, und zweitens, dass Gesellschaften sich nur in solch beständiger Umformung am Leben erhalten.

Es gibt einen Ton standardisierter nationaler Selbstkritik, welcher den Begriff der "Leitkultur" und damit den dringenden Wunsch, kulturelle Homogenität mit staatlicher Macht durchzusetzen - vielleicht nicht ganz zu Unrecht - als "typisch deutsch" identifizieren würde.

Aber ist nicht die entgegen gesetzte Tendenz inzwischen viel "typischer deutsch" geworden? Sehen die gebildeten und halbgebildeten Deutschen der mittleren Jahrgänge heute nicht aus wie die Streber eines blinden Multikulturalismus, der die eigenen Lebensformen beständiger Selbstgeißelung unterzieht, um andererseits mit feuchtem Auge an der Einrichtung des Harems feministische Freiräume und Vaterliebe bei Saddam Hussein zu entdecken?

In der Debatte, welche aufgeflammt ist anlässlich eines Essays von Botho Strauß über die Spannung zwischen europäischen Nationen und islamischen Immigranten, reagieren die Strauß-Gegner so, als wollten sie Multikulturalismus und extremen Individialismus der Lebensentwürfe nun geschichtsphilosophisch und womöglich gesetzlich zur deutschen "Leitkultur" festschreiben.

Strauß dagegen sucht, indem er polemisiert, Polemik - und bekommt sie. Mit seinem Konfrontationskurs belebt er den Raum der Öffentlichkeit - was zunächst auch jene Intellektuellen tun, die den Konfrontationskurs ablehnen. Langfristig gesehen freilich wird ihr Ideal der grenzenlosen kulturellen Individualisierung zur Indifferenz und also zur Auflösung der Öffentlichkeit führen.

Es ist eigentlich alles wie im Fußball. Gerald Asamoah soll nicht deshalb in den Nationalmannschaft spielen, weil es dem deutschen Image nutzt und Selbstrührung wärmt, einen schwarzen Spieler das Deutschlandlied singen zu sehen. Er soll natürlich nur aufgestellt werden, wenn er mehr beizutragen hat zum Erfolg der Nationalmannschaft als andere Spieler. Immer unterstellt ist dabei, dass Asamoah wie jeder andere Nationalspieler die Voraussetzungen erfüllt hat und immer noch erfüllt, welche der deutsche Staat für deutsche Staatsangehörige festgelegt hat.

Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu den deutschen Literaturwissenschaftlern mit internationalem Renommee. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.