Weiterleben nach dem Zivilisationsbruch

08.02.2007
Im Frühjahr 1994 kehrt der englische Foto-Reporter Clem Glass aus Afrika nach London zurück. Im Gepäck hat er die Fotos eines grauenhaften Massakers, dem in einem Dorf in Ruanda Tausende von Männern, Frauen und Kindern zum Opfer fielen. Diese Aufnahmen abgehacker Gliedmaßen und verstümmelter Leichen sind nicht zu veröffentlichen, Glass verschließt sie sorgsam in seinem Dokumentenschrank - doch die Bilder im Kopf wird er nicht los. Er verlässt seine Wohnung nicht mehr, meldet sich bei seinen Auftraggebern ab, versucht verzweifelt, das aufkeimende Trauma in sich zu bekämpfen.
Nach einem Anruf seines pensionierten Vaters findet er Ablenkung durch den Besuch seiner psychisch kranken Schwester Claire, die unter schwerer, manischer Depression leidet. Mit ihr verbringt er den Sommer in einem Cottage, das Verwandten gehört. Über seine Erlebnisse in Afrika schweigt Clem Glass, bis er durch eine Zeitungsmeldung erfährt, dass sich der Verantwortliche des Massakers in Brüssel aufhält, um der Verfolgung durch das Internationale Kriegsverbrechertribunal zu entgehen. Nur mit dieser Spur macht sich der Reporter nach Belgien auf: Er will den Mann finden und ihm in die Augen sehen, den Menschen, der den Massenmord anordnete und dabei war, als er geschah...

Wie in seinem 2001 auf deutsch erschienenen Vorgänger-Roman "Zehn oder fünfzehn glücklichste Momente des Lebens" macht Andrew Miller, Jg. 1960, erneut ein politisch-geschichtliches Ereignis zur Grundlage einer tiefgründigen, differenzierten psychologischen Studie. Damals bildete der Kosovo-Konflikt den historischen Hintergrund, in Die Optimisten ist es der Völkermord in Ruanda.

Was passiert, wenn Dinge, die für die meisten Menschen nur in den Nachrichten auftauchen, zu leibhaftig erfahrenen Tatsachen werden? Wie lebt man sein komfortables, westliches, humanistisch geprägtes Leben, wenn man den kompletten Zivilisationsbruch als reale Tatsache akzeptieren muss, weil man ihn mit eigenen Augen gesehen hat? Diese Fragen stehen bei Andrew Miller zwischen allen Zeilen, offen werden sie kaum gestellt. Denn niemand in Clems Umgebung kann die schwere Last mit ihm teilen: "Du warst einfach zu nahe dran", sagt die Schwester Claire und versucht, ihm nach ihrer eigenen Genesung zu helfen, vergeblich.

In Großbritannien stellt man Andrew Miller inzwischen in eine Reihe der prominentesten Gegenwartsautoren von Ian McEwan und Kazuo Ishiguro. Die Ernsthaftigkeit, die präzise Schilderung von Personen und Situationen sowie die sprachlich überzeugende Kraft, mit der Miller seine großen Themen literarisch fasst, zeigen einen europäischen Erzähler von Weltrang. Diesen Optimisten dürfte schon jetzt ein Platz in der Shortlist des Booker-Preises sicher sein, und man hofft, dass dieser Roman auch in Deutschland die Anerkennung und Aufnahme findet, die er verdient.

Rezensiert von Joachim Scholl

Andrew Miller: Die Optimisten
Übersetzt von Nikolaus Stingl
Zsolnay Verlag 2007
331 Seiten. 21,50 Euro