Weiterleben in Ruinen

Von Tilmann Kleinjung · 28.12.2011
Der 12. November markiert für ganz Italien das Ende einer Ära, der von Silvio Berlusconi. Mit dem neuen Regierungschef Mario Monti, hoffen Kritiker des Systems Berlusconi, kehrt die italienische Politik wieder zur Glaubwürdigkeit zurück. Doch die alten Probleme bleiben.
Die Ruinen von Pompeji sind zum Sinnbild für den Niedergang Italiens geworden. Häuser stürzen ein, Jahrtausende alte Kunstwerke sind unwiederbringlich verloren. Die einst stolze Kulturnation Italien schafft es nicht, ihr antikes Erbe zu bewahren.

Und trotzdem gibt es 2011 einen neuen Besucherrekord in Pompeji. Fast zweieinhalb Millionen Menschen wollten die Ruinenstadt besichtigen, die im Jahre 79 vom Vulkan Vesuv zerstört und verschüttet wurde. Kommen vielleicht deshalb so viele, weil die zweite Zerstörung droht?

Nein! Der Direktor der Ausgrabungen von Pompeji, Antonio Varone, ist ehrlich empört angesichts einer solchen Unterstellung.

"Die Menschen wollen Pompeji sehen. Und wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel, die zukünftigen Generationen, Pompeji sehen. Dass sie in den Genuss desselben Werts kommen, den wir genießen konnten."

"Die zukünftigen Generationen" - wenn man in Italien auf die Antike zu sprechen kommt, werden gern große Worte gewählt. Die aktuellen Probleme dagegen werden klein geredet.

"Das sind doch alles nur kleine Episoden. Wenn zum Beispiel ein Mäuerchen einstürzt, das der Sicherung diente und das jüngeren Datums ist, dann freuen wir uns natürlich nicht. Aber das ist nicht vergleichbar mit Gebäuden, die einstürzen."

Wer mit Tsao Cevoli, dem Präsidenten der italienischen Archäologen-Vereinigung durch das antike Pompeji geht, bekommt einen etwas anderen Eindruck von der Größe des Problems. Es gibt zum Beispiel ein Bodenmosaik, das weltberühmt ist: "Cave Canem", Vorsicht vor dem Hund. Dieser Hund in Angriffshaltung wurde millionenfach reproduziert, auf Türschildern, Kaffeetassen und in Lateinbüchern. Wenn man dann vor dem Original steht, erkennt man ihn fast nicht mehr, den Hund.

"Der ist voller Vogelkacke. Eigentlich eine einfache Sache: Man muss verhindern, dass sich hier Vögel hinsetzen. Und dann sieht man auch, dass das Mosaik auseinander fällt, da fehlen Steine; auch das geht verloren, unwiederbringlich."

Pompeji ist das Spiegelbild einer Nation mit einen großen Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft. Hier die Verwaltung, die Bürokratie, die sagt: Was wollt ihr denn, es ist doch alles in bester Ordnung. Dort Menschen wie Tsao Cevoli, die etwas verändern wollen und nicht können. Hier ein überforderter Staat, dort geschäftstüchtige Privatleute mit Beziehungen und ohne Skrupel. Es gibt Ecken in Pompeji, die sind deutlich besser in Schuss. Zum Beispiel in der Nähe des Forums ein Schnellimbiss der Kette "Autogrill". Mitten in der antiken Stadt ein Hauch von Autobahn. Ein Becher Cola und eine Pizza für 5,90 Euro.

"Das Erste, was Kulturminister Galan, Exminister Galan, zu Pompeji einfiel, war: Es ist absurd, dass wir in Pompeji nur ein Restaurant haben."

Das Einzige, was die Regierung Berlusconi kultiviert hat, ist das Banausentum. Pompeji wurde nicht unter archäologischen Gesichtspunkten gesehen, sondern unter dem Nutzwertaspekt: Wie können wir möglichst viel Profit aus den Trümmern von Pompeji schlagen? Restaurierungen werden von Privatfirmen ausgeführt, die oft ganz normale Maurer beschäftigen, keine Experten. Am 6. November 2010 stürzte nach tagelangem Dauerregen die Schola Armaturarum ein, ein Versammlungshaus mit wertvollsten Fresken. Der kulturpolitische Offenbarungseid der Regierung Berlusconi.

"Wir brauchen die Wende, weil dieses Modell - halb privat, halb staatlich -nicht mehr funktioniert. Der Staat ist überfordert, und die Privatfirmen folgen verständlicherweise der Logik des Profits. Minimaler Aufwand, maximaler Ertrag. Das Modell funktioniert nicht mehr."

Und so setzen auch Tsao Cevoli und seine Kollegen in Pompeji auf den neuen Mann in Rom: Mario Monti, 68 Jahre alt, Wirtschaftsprofessor und ehemaliger Wettbewerbskommissar der Europäischen Union. Ein Paradox: Ausgerechnet ein Mann der Wirtschaft soll nicht mehr an den Profit denken, sondern an die wahren Werte Italiens. Und die ersten Worte des neuen Ministerpräsidenten müssen selbst in den Ohren von Archäologen viel versprechend klingen.

"Wir sind ein Land, das gut gelebt hat, indem es die Reichtümer, die von den vorherigen Generationen angehäuft wurden, aufgebraucht hat, anstatt neue Reichtümer zu produzieren."

Es sind keine großen Worte, es sind die kleinen Zeichen und Gesten, die den Politikwechsel in Italien anzeigen: Dass Mario Monti den Zug nimmt, um von Mailand nach Rom zu reisen. Keine Blaulicht-Limousine, kein Erste-Klasse-Flug. Bei Silvio Berlusconi wäre so viel Alltäglichkeit unvorstellbar gewesen.

Es ist das schwere Erbe der Ära Berlusconi, dass man auf solche Äußerlichkeiten mehr achtet als auf politische Inhalte. Silvio Berlusconi war ein Ministerpräsident der großen Worte und kleinen Taten. Der Medienunternehmer hatte keinerlei Mühe, die Regeln des Showbusiness eins zu eins in Politik umzusetzen.

"Ich bin fest davon überzeugt, dass ich der beste Ministerpräsident bin, den Italien in seiner 150-jährigen Geschichte je hatte.

Ich führe ein Leben, in dem ich ununterbrochen arbeite. Und wenn ich dabei manchmal in das Gesicht eines hübschen Mädchens sehe... Es ist ja wohl besser, schöne Mädchen zu verehren, als schwul zu sein...

Ich und krank? Dazu muss man nur die Dinge sehen, die ich in den vergangenen 15 Monaten in der Regierung gemacht habe, ich bin Superman. Gegen mich sieht Superman richtig alt aus."

Silvio Berlusconi hat am Abend des 12. November 2011 beim Staatspräsidenten seinen Rücktritt eingereicht. Und jetzt stehen sie vor seiner Wohnung in Rom und rufen "buffone, buffone". Das heißt Hanswurst.

Sie fühle sich jetzt befreit von Berlusconi und dem, wofür er gestanden habe, sagt eine junge Frau:

"Ich hoffe, das ist die Wende, nicht nur für mich, sondern für das ganze Land. Es hat ohnehin schon viel zu lange gedauert. Und ich hoffe, das war jetzt der erste Schritt. Wir haben nämlich solche Leute nicht verdient, mit so einem geringen moralischen und intellektuellen Niveau."

"Ja, es ist wunderbar! Ein Tag, auf den wir so lange gewartet haben. In ganz Italien!"

Verena kommt aus Südtirol - einer Region, die immer noch nicht so richtig heimisch ist in Italien. Silvio Berlusconi hat wenig dazu beigetragen, dass sich auch die Südtiroler wie stolze Italiener fühlen. Das ändert sich für einen Moment an diesem historischen Abend. Selbst Verena singt (vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben) richtig beherzt die italienische Nationalhymne, vor dem Schlafzimmerfenster des scheidenden Ministerpräsidenten: Fratelli d'Italia! "Brüder Italiens, Italien hat sich erhoben."

"Ich glaube, es hat sich in den letzten Jahren so viel aufgestaut, dass man mit allem zufrieden ist, was jetzt kommt. Man muss aber auch sagen: Wir sind hier fast nur junge Leute. Und bei der älteren Generation gibt es noch ganz viele Berlusconi-Anhänger. Also an machen Orten werden die Gardinen runter gezogen. Ganz sicher."

Silvio Berlusconi hinterlässt ein hoch verschuldetes Land. 1,9 Billionen Euro Staatsschulden. Gemessen an der Wirtschaftskraft steht nur Griechenland schlechter da. Besonders betroffen von der Schulden- und Wirtschaftskrise sind die jungen Menschen.

"Wenn ich mich hier in Rom bei den jungen Leuten umhöre, es ist katastrophal. Sie haben keine Perspektiven. Die studieren alle und haben keine Arbeit. Es ist eklatant, was hier passiert mit den jungen Leuten."

30 Prozent der unter 29-Jährigen gehen keiner geregelten Arbeit nach. Manche bleiben ewige Studenten, andere halten sich mit Praktika und Aushilfsjobs über Wasser. Die, die Mut und Energie haben, wandern aus. 17 Prozent der jungen Leute haben aufgegeben und machen gar nichts mehr. Der neue Ministerpräsident Mario Monti will das ändern. Sein Rezept für das alterschwache Italien klingt bestechend einfach:

"Fast immer ist das, was der Jugend nützlich ist, auch dem Land nützlich. Fast immer schränkt das, was die Möglichkeiten der Jugend einschränkt, auch die Möglichkeiten für die Zukunft des Landes ein."

In Italien herrscht das Alter. Die Gerontokratie in den Firmen, an den Universitäten und in der Politik. Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wollte im Alter von 75 Jahren noch nicht von der Macht lassen. Der 86-jährige Staatspräsident Giorgio Napolitano hat noch zwei Jahre Amtszeit vor sich.
In so einem Land gilt selbst ein 45-jähriger noch als jung. Also ist Stefano Sala ein richtig junger Unternehmer im Land der Patriarchen und Greise. Was hält er vom 68-jährigen Ministerpräsidenten Monti?

"Mit Sicherheit ist Monti eine Persönlichkeit mit großem Sachverstand. Er kann sehr viel für Italien tun. Aber wenn Italien wirklich aus der Krise herauskommen will, darf es nicht auf die Rettung durch die Politik warten. Jeder muss damit beginnen und persönlich mit anpacken und fragen, was er ganz persönlich beitragen kann: In der Familie, als Arbeiter, in meinem Fall als Unternehmer, um die Gesellschaft weiter zu entwickeln."

Stefano Sala hat vor ein paar Jahren eine Firma aufgebaut, deren Arbeit in Italien notgedrungen immer wichtiger wird.

Schlammlawinen, Erdrutsche und Überschwemmungen, so wie in Genua im November sind in Italien ein großes Problem. Zig Menschen sterben bei diesen Katastrophen Jahr für Jahr. Salas Firma kümmert sich um die technischen Folgeschäden.

"Italien ist ein Land, in dem Überschwemmungen, Erdrutsche und Erdbeben immer häufiger vorkommen. Deshalb ist es wichtig, dass es Spezialisten gibt, die in der Lage sind, mit allen technischen Mitteln, die auf dem Markt sind, zu helfen. Wir bringen die Spezialisten zusammen. Das fängt beim Bergen des Eigentums und des Maschinenparks an, und zwar in möglichst kurzer Zeit. Es ist eine private Art Zivilschutz."

Stefano Sala besetzt mit seinem kleinen Unternehmen in Mailand erfolgreich eine Nische. Seine Firma wächst trotz Wirtschaftskrise, dank Klimakrise. 100 Mitarbeiter zählt das Unternehmen. Und es könnten deutlich mehr sein, sagt er. Aber in Italien herrsche ein gewaltiges Misstrauen gegen jede Form unternehmerischen Handelns.

"Italien ist das Land der tausend Regeln. Die meisten davon sind nicht sehr eindeutig. Diese Regierung könnte einen großen Beitrag leisten, wenn sie die Besteuerung vereinfacht, Steuererleichterungen streicht. Also ein System schafft, in dem alle gleich sind."

Dazu kommt eine überbordende Bürokratie. Es gibt Zyniker, die sagen: Steve Jobs wäre es in Italien nie gelungen, seinen Apple- Konzern aufzubauen, weil selbst die Genehmigung für den Bau einer Garage Jahre dauert.

"Wir haben schon eine ganz erhebliche Bürokratie und eine Langsamkeit der Verwaltungsapparate. Die Entscheidungen liegen alle Monate, Jahre auf den Tischen der Behörden - und das geht nicht."

Der deutsche Unternehmensberater Bernhard Scholz ist Präsident des Unternehmerverbandes CDO. 36.000 Mitglieder zählt diese Organisation, sie ist vor allem im wirtschaftlich starken Norden des Landes beheimatet. Hier, zwischen Turin und Venedig, gibt es Tausende kleiner und mittlerer Unternehmen wie das von Stefano Sala, hoch spezialisiert und innovativ. Und genau deshalb, sagt Bernhard Scholz, sei Italien nicht mit dem anderen europäischen Pleitekandidaten Griechenland zu vergleichen:

"Italien hat eine ganz andere Wirtschaftskraft, hat eine ganz andere Präsenz auf den Märkten, hat ein Bankensystem, das sehr gut funktioniert. Umso mehr tut's einem ja leid, dass dieses Land international seine Glaubwürdigkeit nicht so darstellen kann."

Es ist schwierig, dem Unternehmerpräsidenten ein kritisches Wort über Berlusconi zu entlocken. Für Scholz ist eines der Grundübel dieses Landes die Frage: Bist du für oder gegen Berlusconi? Sein Verband steht der katholischen Bewegung "Comunione e Liberazione" nahe. Man kann nur ahnen, was man hier über den Lebensstil des ehemaligen Ministerpräsidenten denkt. Am Anfang war er noch einer von ihnen: Ein erfolgreicher Unternehmer aus Mailand, am Schluss nur noch ein riesengroßes Problem.

"Der Abgang Berlusconis löst die Probleme nicht. Aber er schafft vielleicht die Möglichkeit, die Probleme anzupacken. Italien war fast gelähmt von diesen Grabenkriegen, die sich Parteien geliefert haben. Das ist weg."

Mario Monti will dieses Land verändern. Er hat dafür gerade einmal eineinhalb Jahre Zeit. Das ist nicht viel, um einen neuen Generationenvertrag aufzusetzen, mit dem die jungen Italiener mehr Chancen haben und die älteren von ihren Privilegien etwas abgeben. Dazu eine Verwaltungsreform, eine Justizreform, eine bessere Infrastruktur. Eineinhalb Jahre für all das, was Silvio Berlusconi in 17 Jahren nicht geschafft hat. Mario Monti erinnert an den sagenhaften Sisyphus, den die Götter immer wieder dazu verdonnert haben, einen schweren Brocken den Berg hinaufzutragen.

"Ein Senator hat Folgendes zu mir gesagt, und das hat mich sehr berührt: 'Wir haben Sie gebeten, auf einen Zug aufzuspringen, der dabei ist zu entgleisen.'"