Weit weg und doch daheim?

Von Eberhard Straub |
"Man reist doch wahrlich nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen", gab Goethe Caroline von Herder nach seiner italienischen Reise zu bedenken, während der er hoffte, das Reisen und darüber möglichst auch das Leben zu lernen. Zum Reisen gehörte Zeit, viel Schlendrian und die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen.
Schließlich blieb immer Odysseus, der viel gewanderte Mann, das Vorbild, welcher so weit geirrt, vieler Menschen Städte gesehen, und Sitten gelernt hat. Aber schon Goethe konnte noch erleben, wie die Zeit für die Menschen knapper wurde, fortgerissen in einen wahren Zeitstrudel. Schnelligkeit, Eisenbahnen, Dampfschiffe und alle möglichen Erleichterungen der Kommunikation waren es, wonach die gebildete Welt strebte, wie er bekümmert beobachtete.

Der erwartungsfrohe Seufzer: "Ach, wer da mit reisen könnte", galt auf einmal ganz praktisch den Mitteln beschleunigter Beförderung. Fremdlinge in ihrer Zeit wie Eichendorff schüttelten den Kopf über Dampffahrten, die wie in einem Kaleidoskop die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, durcheinander rütteln, wobei unermüdlich ein Eindruck den nächsten jagt und sofort vergessen macht. Friedrich Wilhelm III. von Preußen spürte keine gesteigerte Glückseligkeit in sich, einige Stunden früher in Potsdam anzukommen, und der ästhetische Feind des Maschinenzeitalters, John Ruskin, verachtete Eisenbahnfahren überhaupt. Das heiße einfach an einen anderen Ort geschickt zu werden, nicht viel anders als ein Potspaket.

Wer heute in die Ferien aufbricht, sieht mittlerweile das Ideal darin, wie ein Eilpaket verfrachtet zu werden und so schell wie möglich anzukommen. Denn Reisen gilt als beschwerlich und ungemein lästig. Das ist es für jeden, der im eigenen Wagen aufbricht und sich nur mühsam im stehenden Sturmlauf seinem Ziel anzunähern vermag. Doch auch auf den Flughäfen mit ihrer großen Eilfertigkeit wird man vor lauter Eile oftmals mit nichts fertig und wartet, fern aller Wonnen der vertrödelten Taugenichtse aus der Postkutschenzeit.

Da die Welt nur als großes Hindernis vor dem Bestimmungsort liegt, ist es begreiflich, sie rasch zu überwinden und hinter sich in wesenlosem Scheine zu lassen. Im Jahrhundert des Verkehrs, wie Wilhelm II. schon 1904 das zwanzigste Jahrhundert nannte, wurde alles getan, um den Aufstieg vom Menschen zum Verkehrsteilnehmer voranzutreiben, ihn zu mobilisieren und ihm zu versprechen, das Dort, das niemals Hier sein kann, wenigstens ganz nahe zu rücken, möglichst mit allem Comfort der Neuzeit. Frühere Generationen fanden es beim Reisen angenehm, wie auch das Gewöhnliche durch Neuheit und Überraschung gar das Ansehen eines Abenteuers gewänne. Heute soll gerade alles Unerwartete und Ungewohnte vermieden werden.

Der in das System der Verkehrsbewegungen Eingeschaltete darf erwarten, wovor Zeitgenossen Goethes erschraken, an jedem Ort und an jeder Station einerlei zu sehen und zu hören, gerade um vor Abenteuern mit Rücksicht auf das Preis–Leistungsverhältnis gesichert zu sein. Selbst im Abenteuerurlaub ist der gesuchte Nervenkitzel kalkulierbar. Millionen brechen auf, um an einem anderen Ort sich wie daheim zu fühlen, weil sie auf nichts nichts Gewohntes zu ihrem Wohlbehagen verzichten müssen. Der Reiz des momentanen Ortswechsels beschränkt sich auf einen leichten Kulissenverschiebung, Kyritz liegt dann nicht mehr an der Knatter, sondern auf Ibiza und die Sonne scheint bei Tag und Nacht. Ansonsten kann jeder machen, was er zu hause auch macht: Sport treiben, Tanzen, erotischen Anschluss suchen oder mit ein paar Kumpels ganz einfach abproleten, endlich frei und nicht im blauen Anzug, der Arbeitskleidung der immer gut aufgelegten Dienstleister.

Alle sind gut drauf, locker und unverkrampft, ununterbrochen damit beschäftigt, sich als fröhliche Menge mit sich selbst zu imponieren. Immer nur ein Bruchstück in Funktionszusammenhängen, das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt im Ohr, sucht der Tourist einen Hauch von Leben, das ihm Produzenten der Erlebnisgesellschaft arrangieren. Doch die Betriebsamen haben als arme Teufel nur einen Betrieb mit dem anderen ausgetauscht. Denn die wenigsten möchten mit Gottfried Benn resignieren: Ach, vergeblich das Fahren!/Spät erst erfahren Sie sich:/bleiben und Stille bewahren/dass sich umgrenzende Ich." Was im Übrigen auch ausgesprochen schädlich wäre, weil der Markt und Teilhabe am Marktgeschehen dem Ich dazu verhilft, zu sich selbst zu finden. Wo immer einer Geld ausgibt, dort oder hier, da ist er Mensch und Spaß kann sein.


Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Albert Ballin" und "Eine kleine Geschichte Preußens" sowie zuletzt "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit".