Weißenhofsiedlung in Stuttgart

Zurück in die Zukunft - Leben in einem Bauhaus-Denkmal

42:43 Minuten
Innenansicht des Doppelhauses der Architekten Le Corbusier und Pierre Jeanneret in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart.
Die Architekten Le Corbusier und Pierre Jeannere schufen in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart dieses Doppelhaus. © imago stock&people
Von Paul Stänner · 12.05.2019
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Sie wollten das Leben in den Städten revolutionieren und entwarfen auf ihren Skizzenblöcken die Zukunft des Wohnens. 1927 schufen 17 Architekten in Stuttgart ein Paradebeispiel der Bauhaus-Architektur. Wie modern ist die Weißenhofsiedlung heute?
Wie lebt es sich in einer "Perle der Stadtbaugeschichte", wie die Stuttgarter ihre Weißenhofsiedlung nennen? Wenn ein Baudenkmal – oder seine 17 international renommierten Architekten – den Bewohnern die Lebensart diktiert? 1927 als Experimentierfeld des neuen Wohnens entstanden, gilt die Weißenhofsiedlung als Paradebeispiel der Bauhaus-Architektur – und als ein Ansatz, der heute zunehmend an Attraktivität gewinnt.
Schlichtes Bauhaus-Gebäude in der Weissenhofsiedlung, die auch von Le Corbusier gestaltet wurde.
Le Corbusier gestaltete dieses Bauhaus-Gebäude in der Suttgarter Weißenhofsiedlung.© imago stock&people / Chromorange
Was auch überrascht: Die Siedlung wurden in acht Monaten gebaut. 21 Häuser mit einem langen Apartmentblock, mit zwei- und dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern, Reihenhäusern, Doppelhäusern und Einfamilienhäusern, mit 63 Wohnungen. Wer auch immer das heute in gerade einmal acht Monaten hinbekommen könnte, der dürfte sich Gott nennen. Oder nicht?

Symbol für Modernität

Es gibt ein zeitgenössisches Reklamefoto aus dem Jahr 1927, da ist die Weißenhofsiedlung eben fertig gestellt. Das Foto zeigt ein schickes Kabriolett: Kantig die Motorhaube, flach abfallend der Kofferraum. Vor dem Wagen steht, lässig einen Fuß auf das Trittbrett gestellt, eine junge Frau, vielleicht die Besitzerin. Eine Hand liegt auf der Tür, mit der anderen hält sie ihre Handtasche. Sie trägt ein weißes Kostüm, das in seiner Helligkeit perfekt zu dem weißen Le Corbusier-Haus passt, das den Hintergrund für das Foto bildet.
Wagen, Frau, Haus – zusammen sind ein Zeitzeichen: Wir sind in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Unsere Welt ist modern. Schnörkel, Putten, Gesimse und spießbürgerlicher Mief gehören ebenso der Vergangenheit an wie die Frau, die ihre Küche nur verlassen konnte, wenn sie mit den Kindern in die Kirche ging. Funkelnd in der Stuttgarter Sonne lag die Zukunft.

Licht, Luft und Wärme

Stefanie Schwarz und Dirk Wachowiak wohnen in einer solchen Wohnung: Sie ist klein und spartanisch eingerichtet. Das ist dem Zeitgeist der 20er-Jahre geschuldet, als man noch nicht die Quadratmeterzahlen pro Person für nötig hielt, die heute verlangt werden. In den 20ern waren noch andere Dinge vorrangig, nämlich Licht, Luft, Wärme. Fläche fiel da noch nicht so ins Gewicht.
"Mit der räumlichen Beschränkung, ja das war was, als wir hier eingezogen sind, dass die Quadratmeterzahl erst mal ein bisschen kleiner war, als wir uns eigentlich vorgestellt haben, oder wonach wir geschaut haben. Und in dem Haus ist es so, dass es alles relativ ökonomisch geschnitten ist. Die Wohnungen sind nicht sehr groß. Aber es ist relativ gut geschnitten, so dass es sich größer anfühlt."

Die Küche ist schmal und eng. Wer es hier schafft, eine komplette Mahlzeit zu kochen, kann später auch im Speisewagen der Deutschen Bahn arbeiten oder im Wohnmobil. Sie mag modern sein, aber üppig ist die Küche nicht.
"Nein, das ist sie nicht. Ich glaub, das ist auch immer so bisschen Typsache auch, ob einem das gefällt, in so einem musealen Gebäude zu wohnen oder nicht, und ob man auch auf ein paar Quadratmeter verzichten kann, und für uns hat das eigentlich sehr gut gepasst."
Schlichte, weiße Reihenhäuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung.
Weiß und puristisch, so gestalteten die Bauhaus-Architekten die Siedlung.© Deutschlandradio / Paul Stänner

Schöne Aussicht und unangetastetes Grün

Die Siedlung auf dem Killesberg ist durch einen breiten Grüngürtel von der Stadt getrennt, der sich quer über den Hang erstreckt. Ein Spekulant mit Blick für das Profitable bekäme Tränen in die Augen, wenn er sähe, wie hier in bester Lage Grundstücke einfach nur der schönen Aussicht und der Erholung dienen, wo sie doch Millionen einbringen könnten. Und er würde ein, zwei Fotos mit dem I-Phone machen und sie in die To-Do-Liste legen. Aber noch ist das Grün unangetastet, fängt den aufsteigenden Feinstaub ab, verbessert die Luft und die Qualität des Lebens.
"Es war wie im Paradies. Wir hatten es noch nicht, durften es nur ansehen. Und dann hatte ich gedacht, das war wirklich das große Los für uns."
Ellen Krümmel steht vor dem Schmuck ihres Hauses: Es ist ein großes, gewölbtes Bogenfenster, durch das man in den Garten hinaus blickt, über die Gartenmauer hinweg und dann in den Stuttgarter Kessel.
Uwe Krümmel war als Jurist im Zolldienst und konnte sich so als Beamter des Bundes um die Villa bemühen, die Hans Scharoun errichtet hat. Schon der Anblick ließ seine Frau Ellen glauben, sie hätten das große Los gezogen. Hatten sie dann ja auch, als der Mietvertrag unterschrieben war.

Im Jubiläumsjahr werden viele Besucher erwartet

Durch das große Fenster sehen wir Touristen auf der Straße das Haus inspizieren. Ellen Krümmel und ich einigen uns darauf, dass die, die ganz in Schwarz gekleidet sind, wahrscheinlich Architekten sind. "Diese Architekten loben immer den Schnitt von diesem Haus", sagt Ellen Krümmel.

Über allem schwebt das Jubiläumsjahr 2027, einhundert Jahre Weißenhofsiedlung. Im Verlauf meines Besuches wird mir deutlich, wie sehr die Siedlung im Zentrum des Tourismus und der Architekturwelt steht. Für das Jubiläumsjahr 2027 wird hier eine kleine Hölle zu erwarten sein.
"Sie wissen, in Holland haben wir die Gardine immer offen und natürlich, man gewöhnt sich daran. Ich bin hoffentlich tolerant und ich finde es nicht so schlimm. Da kommen pro Tag 200 Leute unser Haus entlang, mindestens. Und die bleiben natürlich alle stehen. Manchmal winke ich einfach. Manchmal ist es too much, aber nicht immer."
Odwin Klaiber ist seit einem Jahr Rentner, war vorher als beamteter Architekt beim Land Baden-Württemberg angestellt und hat sich um den Bauunterhalt der Weißenhofsiedlung im Auftrag des Bundes gekümmert. Dieser war bis Oktober 2018 ihr Eigentümer. Dann hat die Stadt Stuttgart als ursprünglicher Initiator die Siedlung wieder zurückgekauft.
Ein weißes Bauhaus-Einfamilienhaus in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart.
Ein weißes Bauhaus-Einfamilienhaus in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart.© Deutschlandradio / Paul Stänner

"Immer davon geträumt hier zu wohnen"

"Bei mir war zum Beispiel die Weißenhofsiedlung oder Corbusier schon Prüfungsthema im Abitur", sagt Odwin Klaibe. "Dann ist man natürlich gierig darauf, mit diesen Dingen zu arbeiten. Wenn man als Student hier mal abends rumgeschlichen ist und Fotos gemacht hat, hat man natürlich immer davon geträumt, in einem dieser Reihenhäuser von Mart Stam oder Oud zu wohnen."
Und dieser Traum ist in Erfüllung gegangen. Doch es ist nicht alles so traumhaft. Als richtig unschön gilt Odwin Klaiber die Hellhörigkeit seiner Wohnung, die der Baustruktur geschuldet ist. Die Gespräche seiner Nachbarn blendet er mit leiser Musik aus. Die Verglasung der Sprossenfenster mit nur einer Scheibe treibt die Heizkosten in die Höhe. Diese Siedlung, Weltkulturerbe und Denkmal, braucht besondere Bewohner, die das Bauen und Wohnen in einem zukunftsorientierten Experiment zu würdigen wissen.
"Es müssen einfach Leute sein, die nicht zimperlich sind. Ich bin noch mit Einscheibenverglasung aufgewachsen und wenn irgendwo Tauwasser ist oder irgendwo ein schwarzer Fleck über zu feuchte Ecken, dann wisch ich das weg oder übertüpfle es. Da würde ich nie auf die Idee kommen, Mietminderung geltend zu machen oder ein Theater. Für mich überwiegt die Freude, in der Weißenhofsiedlung zu wohnen, und das kompensiert für mich diese – in Anführungszeichen – Nachteile."
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