Weiß: Privatschulen gefährden Chancengleichheit

Manfred Weiß im Gespräch mit Joachim Scholl · 02.10.2009
Ein expandierendes Privatschulsystem unterlaufe die Bemühungen der Bildungspolitik, Chancenungleichheiten zu verringern, sagt der Bildungsökonom Manfred Weiß. Es könne nicht sein, dass das Schulsystem die Spaltung der Gesellschaft funktional unterstütze.
Joachim Scholl: Soll ich mein Kind nicht vielleicht doch lieber auf eine Privatschule schicken? Diese Frage stellen sich hierzulande immer mehr Eltern. Seit den schlechten Pisa-Ergebnissen haben die staatlichen Schulen an Renommee verloren und kontinuierlich steigt auch die Zahl der privaten Schulen in Deutschland, im Schnitt kommen jede Woche zwei neue Einrichtungen hinzu. Der Staat fördert auch private Schulen, besteht aber im Gesetz auf Chancengleichheit. Ist die aber wirklich gewährleistet oder entsteht hier nicht allmählich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen denen, die es sich leisten können, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken und allen anderen, die dieses Geld eben nicht aufbringen? Am Telefon ist jetzt der Bildungsökonom Manfred Weiß vom Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. Guten Tag!

Manfred Weiß: Ja, schönen guten Tag!

Scholl: Privatschule, Herr Weiß, das hat schon immer vornehm geklungen, nach Elite, nach feinem Milieu und besserer Ausbildung. Sind private Schulen wirklich so gut wie dieser Ruf, also, im schulischen Sinne besser als staatliche Schulen?

Weiß: Das ist in dieser Allgemeingültigkeit nicht zutreffend. Wir haben einen Leistungsvergleich vorgenommen bei 15-Jährigen aus der ersten nationalen PISA-Ergänzungsstudie, danach zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede. Bei den Realschulen haben die privaten Einrichtungen etwas die Nase vorn, bei den Gymnasien die staatlichen Schulen. Verglichen wurden von uns Leistungen von sogenannten statistischen Zwillingen, das heißt, Schülern mit vergleichbarem Familienhintergrund und vergleichbaren intellektuellen Voraussetzungen.

Scholl: Wenn dieser Vorsprung also gar nicht gegeben scheint, welche Vorteile hat es denn dann überhaupt für Eltern, so viel Geld in die Schulbildung ihrer Kinder zu stecken?

Weiß: Na ja, viele Eltern erhoffen sich für ihre Kinder Vorteile beim Start ins Berufsleben. Privatschulen kommen dem Wunsch nach Distinktion entgegen, dem Wunsch nach Extraprofilen, die den Abschluss aufwerten. Das kann die Chancen im verschärften Wettbewerb um attraktive Berufspositionen verbessern. Wo ein Schulabschluss erworben wurde, könnte in Zukunft auch bei uns wichtiger werden, auch, wenn nicht zu erwarten ist, dass wir Verhältnisse wie in einigen angelsächsischen Ländern bekommen werden mit privaten Eliteschulen als Kaderschmieden. Vorteile erhoffen sich die Eltern auch von dem sozialen Kapital, das Privatschulen bieten, also den Netzwerken, den Beziehungen, die sich dort aufbauen lassen, die sich in vielfältiger Weise nutzenstiftend aktivieren lassen, manchmal das ganze Leben lang.

Scholl: Die meisten der privaten Schulen erhalten staatliche Gelder. Im Grundgesetz Artikel sieben gibt es allerdings den Passus, der die Genehmigung einer Privatschule – und natürlich dann auch die Förderung – davon abhängig macht, dass eine, wörtlich jetzt, Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Diese Sonderung ist doch aber auf jeden Fall gegeben durch das zum Teil ja ordentliche Schulgeld, oder nicht?

Weiß: Na ja, es ist zunächst mal so, dass bei den Privatschulen mit dem Status einer Ersatzschule nach Artikel sieben vier des Grundgesetzes eine staatliche Förderpflicht besteht, aber keine Vollfinanzierung, wie sie bisweilen gefordert wird. Das ist in Urteilen immer wieder abgelehnt worden. Anders sieht die Situation bei den sogenannten Ergänzungsschulen aus, dazu zählen etwa die internationalen Schulen. Sie fallen nicht unter den Artikel sieben vier des Grundgesetzes. Man muss sich in der Tat manchmal wundern, was alles genehmigt wird. Da dürfen etwa in Baden-Württemberg bibeltreue Christen eine Grund- und Hauptschule betreiben, bei internationalen Schulen fällt auf, wie großzügig deutschen Schülern von den Schulbehörden bisweilen die Erfüllung der Schulpflicht an diesen Schulen genehmigt wird. Das sind alles Dinge, wo man sich gelegentlich doch ein bisschen wundert.

Scholl: Ich meine, der Passus im Artikel sieben, der ist natürlich darauf ausgerichtet, Chancengleichheit herzustellen. Davon tönen Bildungspolitiker gerne. Ist das nicht eine fromme Rede, Herr Weiß? Wer Geld hat, der hat einfach bessere Chancen.

Weiß: Das ist völlig richtig, auf der anderen Seite besteht eine Verpflichtung seitens der Bildungspolitik, für Chancenausgleich zu sorgen. Und ich denke, ein expandierendes Privatschulsystem wird wahrscheinlich die Segregationstendenzen im Bildungswesen verstärken und die Chancenungleichheiten damit auch erhöhen.

Scholl: Die privaten Schulen, sie werden immer attraktiver, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Bildungsökonom Manfred Weiß. Herr Weiß, Bildungsforscher warnen inzwischen vor einer sogenannten Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Schule. Bei 7 Prozent Gesamtanteil der Privatschüler ist es vielleicht noch ein bisschen verwegen, davon zu sprechen, oder sind wir doch auf dem Weg dahin?

Weiß: Na ja, regional wirkt sich das zum Teil schon aus. Ich denke, man wird die Entwicklung genau beobachten müssen, Sie sprachen das ja schon an, dass eine deutliche Zunahme im Privatschüleranteil zu verzeichnen ist, der natürlich in internationalen Vergleichen noch deutlich unterdurchschnittlich ist. Aber wir haben seit Mitte der 90er-Jahre einen Trend in Richtung Privatschulen, der sich verstärkt hat seit 2001 etwa, also just mit dem Erscheinen der ersten PISA-Studie.

Scholl: Sie haben vorhin, Herr Weiß, schon so ein bisschen dieses Bild entwickelt, wie es in allen angelsächsischen Ländern eigentlich gang und gäbe ist, die private, teure Eliteschule als Kaderschmiede. Ich meine, in diesen Ländern, in England oder in den USA, wird man wahrscheinlich jetzt über unser Gespräch eher die Achseln zucken und sagen, Gott, das ist eine gesellschaftlich völlig akzeptierte Tatsache dort. Wer Geld hat, besucht eine renommierte, teure Schule. Müssen wir uns auf eine solche Entwicklung vielleicht einstellen?

Weiß: Na ja, es gibt gewisse Tendenzen, ich sagte ja schon, dass vor allem der Bereich der sogenannten Ergänzungsschulen stark am Expandieren ist. Das sieht man bei den internationalen Schulen, aber auch etwa die Phorms-Schulen, also gewinnorientierte Schulen. Ich denke, dass der Bildungsbereich von vielen als ein lukrativer Markt gesehen wird und da muss man schon aufpassen, dass sich hier, dass die Verhältnisse nicht weiter auseinanderdriften und wir eine Verstärkung der Chancenungleichheiten bekommen, also genau das, was eigentlich die Bildungspolitik seit dem PISA-Schock verhindern will.

Scholl: Private Schulen, die werben ja auch oft mit dem Stichwort internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Weiß: Ja, das ist richtig. Die internationalen Schulen vergeben Abschlüsse, die am internationalen Markt handelbar sind, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Das ist völlig richtig, für die hochmobilen Gruppen der Kinder von Managern in großen Konzernen ist das sicherlich eine wichtige Alternative, aber ob da unbedingt deutsche Kinder unterrichtet werden müssen, da würde ich mal ein Fragezeichen machen.

Scholl: Welche Folgen könnte denn Ihrer Meinung nach der Trend zur Privatschule längerfristig für unsere Gesellschaft haben? Doch englisch-amerikanische Verhältnisse?

Weiß: Das glaube ich nicht, aber wie gesagt, die Segregationstendenzen könnten sich verstärken, der gesellschaftliche Auftrag von Schule zum Umgang mit Vielfalt zu befähigen und das durch reale Erfahrungen in den Schulen, das wird zunehmend in Frage gestellt durch solch eine Entwicklung, wenn jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Ich denke, dass die Bildungspolitik aufpassen muss, dass ihre Bemühungen, die durch PISA aufgedeckten Chancenungleichheiten zu verringern, nicht durch ein expandierendes Privatschulsystem unterlaufen werden. Es kann nicht sein, dass unser Schulwesen die Spaltung der Gesellschaft funktional unterstützt. Das tut es, wenn Schule auf die Rolle eines Dienstleisters des Elternwillens reduziert wird.

Scholl: Was könnten denn eigentlich die staatlichen Schulen selber hier leisten? Die haben ja in dieser Situation, bei dieser Diskussion anscheinend immer die schlechteren Karten. Was müssten sie denn tun oder was müsste sich vielleicht ändern, damit das Bild der staatlichen Schule mal wieder freundlicher wird?

Weiß: Also ich denke, zunächst sollte damit aufgehört werden, das staatliche Schulwesen dauernd schlechtzureden. Es ist keineswegs so reformresistent, wie interessengeleitete Umfragen der Öffentlichkeit glauben machen wollen. Eine besondere Reformorientierung der Privatschulen gegenüber den staatlichen Schulen konnten wir in unseren Analysen nicht feststellen, vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang auch einmal darauf hinweisen, dass es bislang ausnahmslos staatliche Schulen waren, die den renommierten Deutschen Schulpreis erhalten haben, Schulen, die unter oftmals schwierigsten Rahmenbedingungen erfolgreiche pädagogische Arbeit leisten. Eine stärkere Privatisierung unseres Schulwesens mag Klientelinteressen bedienen, das Schulsystem insgesamt profitiert davon nicht und das sollten die Bildungspolitiker im Auge behalten.

Scholl: Der Trend zur Privatschule, das war der Bildungsökonom Manfred Weiß. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Weiß!

Weiß: Bitte sehr!