Bauboom, Kunstskandal und der Kater danach
Metropolen wie Athen und Paris waren die Vorgänger: Nie zuvor war so viel Europäische Kulturhauptstadt auf so engem Raum zu besichtigen wie im Jahr 1999 in Weimar. Auch war die Fallhöhe der Kultur hier höher als anderswo - im Schatten des Konzentrationslagers Buchenwald.
Weimar, eine Kleinstadt mit 60.000 Einwohnern, eine Stadt von einer Größe, die man normalerweise 100 km weiter schon nicht mehr kennt, diese Stadt wurde 1999 zu Kulturstadt Europas. Ihre 14 Vorgängerinnen, darunter Städte wie Athen, Amsterdam, Paris, Stockholm, waren allesamt viel größer. Nie war also so viel Kulturstadt auf so engem Raum zu besichtigen wie in Weimar 1999. Und in keiner anderen Kulturstadt war die Fallhöhe der Kultur so hoch wie in Weimar, im Schatten des Ettersberges, des KZ Buchenwald, wie der damalige Bundespräsident Roman Herzog zur Eröffnung des Kulturstadtjahres im Deutschen Nationaltheater warnte: "Weimar ist Deutschland in nuce."
"Meine Damen und Herren am Gleis 3: Willkommen in Weimar! Wir begrüßen sie in der Kulturstadt Europas 1999!" (Bahnansage)
Weimar wurde 1999 geradezu überrollt von Kultur. Ein Eröffnungsspektakel, wie es die Stadt noch nicht gesehen hat, ein Reigen an Konzerten, Ausstellungen, Diskussionen, Performances, Installationen zog sich durch das Jahr. Ein Reigen, der kaum verkraftbar war. Musiker, Schriftsteller, Philosophen, Schauspieler, Tänzer von Weltgeltung kamen nach Weimar und brachten die Welt mit.
Herausforderung und Überforderung
Der Generalbeauftragte Bernd Kauffmann lockte mit seinem Programm fast sieben Millionen Besucher in die kleine Stadt, die dennoch nicht verhindern konnten, dass oft viele Plätze leer blieben. Kauffmann forderte und überforderte Weimar und die Weimarer im besten Sinne:
"Ein Kulturstadtjahr hat sich in Hunderten künstlerischen Drahtseilakten vollzogen, mit denen Menschen aus aller Welt auf den Knien ihrer Herzen – um mit Kleist zu sprechen – nach Weimar kamen, um hier ihre Arbeit zu zeigen. Sie, glaube ich, gaben uns jene Kraft, von der die Stadt und ihre Besucher der grassierenden Spaßkultur und den Lunaparks zum Trotz auch weiterhin und gründlich zehren möge."
Den Galeristen Frank Motz, der seit über 20 Jahren in Weimar internationale zeitgenössische Kunst zeigt, hat Kauffmann jedenfalls mitgerissen:
"Schön, wäre es natürlich gewesen, wenn dieser Speed, dieser Highspeed aufrechterhalten worden wäre. Das war sicher nicht der Fall. Es musste wieder bergab gehen in irgendeiner Form, aber spätestens seit 2003 oder ´04 ist Weimar wieder auf dem Normallevel dessen, was leistbar ist, angekommen."
Post-Kunststadt-Kater nach dem Eventjahr
Kauffmann hatte sein knappes Gesamtbudget von 60 Millionen DM um weitere 12 Millionen überzogen. Das Land Thüringen zahlte zähneknirschend und kürzte die folgenden Budgets für das Weimarer Kunstfest radikal.
Als Kauffmann wieder ging, hinterließ er einen Post-Kunststadt-Kater, den Hellmut Seemann, der anderthalb Jahre später nach Weimar kam, um Präsident der Klassik Stiftung zu werden, noch verspürte:
"Man hatte so das Gefühl: Die Gläser stehen noch ausgetrunken auf dem Tisch, aber es ist kein Wein mehr da. Und die Leute guckten mich nun alle an so mit den Augen, 'Das machst du doch jetzt, was ´99 hier so schön war und leider abgebrochen ist!?' Und da merkte ich natürlich sehr bald, dass davon keine Rede sein konnte.
Dafür gab es keine Mittel und es gab auch keine Strukturen. Und deswegen war das ein eher depressives Milieu, in das ich kam, obwohl ich subjektiv fand: Das ist doch großartig, was hier alles sichtbar geworden ist an Dingen, die man vor 20 Jahren gar nicht mehr sehen konnte!"
Gigantischer Bauboom
Seemann weist zu Recht darauf hin, dass Weimar 1999 fast nicht wiederzuerkennen war. In den Jahren zuvor war so viel investiert worden wie sonst in Jahrzehnten. Straßen, Plätze, das Goethe-Nationalmuseum, das Neue Museum, das Deutsche Nationaltheater, das Haus am Horn, die Bauhaus-Universität und so weiter wurden saniert beziehungsweise überhaupt wieder nutzbar gemacht, die Weimarhalle gleich abgerissen und neu gebaut.
Weimar erlebte einen gigantischen Bauboom: 1,3 Mrd. DM wurden einschließlich 1999 aus öffentlicher und privater Hand investiert, um den jahrzehntelangen Sanierungsstau aufzulösen und die Stadt herauszuputzen. Eine Summe, die in der Kleinstadt noch heute sichtbar ist – wenn auch die Straßen fast 20 Jahre später schon wieder mächtig ruckeln
Dennoch blieb die Katerstimmung am Ende des Kunstfests. Weimar war wieder auf sich gestellt und musste sich überlegen, ob es sich in die gewohnte konservative Klassik-Ecke zurückziehen und weiter Goethe, Schiller und Herder verwalten oder ob es den Modernisierungsschub aufnehmen wollte, den das Kulturstadtjahr mit sich gebracht hatte.
Frank Motz mit seiner Galerie ACC sieht Weimar auf einem guten Weg im 21. Jahrhundert:
"Das hat die Stadt weltweit geöffnet, ein bisschen ähnlich vielleicht wie die Fußball-WM 2006, hat einfach die Stadt internationaler, kosmopolitischer gemacht. Und davon profitieren wir auch heute noch, wenn wir beispielsweise im Windschatten Goethes unsere oftmals auch nicht ganz unpolitisch motivierten Ausstellungen machen. Man kann sagen, wir zehren heute noch von dem Kulturstadt-Jahr; das ist ganz einfach so."
Skandal um eine Kulturjahr-Ausstellung
Ein nicht geplanter Skandal des Kunstfestjahres 1999 war die Ausstellung "Aufstieg und Fall der Moderne", in der Kunst des "Dritten Reiches" und der DDR gezeigt wurden. Aber noch nicht das wurde zum Skandal, sondern die Hängung der aus den Depots geholten Bilder. Paul Kaiser, Spezialist für Kunst aus der DDR:
"Wenn man sich erinnert, dass diese Rotunde dann mit LKW-Planen, mit Billig-Beleuchtung und so weiter versehen wurde, sodass aus der Idee einer Präsentation quasi eine Skandalisierung wurde, indem diese Werke nun wirkten, als hätte ein Mensch aus dem Westen, der wenig Ahnung und wenig Interesse an diesen Beständen hätte, diese nun ausgestellt wie eine Trophäensammlung."
Der Aufschrei war groß, der Streit über den Umgang mit Kunst aus der DDR tobte in den Feuilletons, 120.000 Besucher wollten sehen, worüber gestritten wurde, erboste Maler reisten nach Weimar, um ihre Kunst, die sie diffamiert und abqualifiziert sahen, abzuhängen und mitzunehmen.
Paul Kaiser: "Die Diskussion war insofern scheinheilig, weil die Museen bis zu diesem Zeitpunkt alle Bestände mit Ost-Kunst, mit DDR-Kunst fast lückenlos aus ihren Schausammlungen in die Depots geräumt hatten. Insofern war der Effekt ein durchaus positiver. Denn nach dieser Ausstellung kam es auch in den ostdeutschen Kunstmuseen zu einer Widerentdeckung der eigenen Kunstbestände. Insofern war es ein ganz wichtiger Streit ´99, der auch international, bis in die USA, bis nach Japan, rezipiert wurde."
Neuer Umgang mit DDR-Kunst angestoßen
Die Debatte und der neue Umgang mit Kunst aus der DDR ist ganz maßgeblich durch diese Ausstellung 1999 in Weimar angestoßen worden. Gar nicht skandalös war die Sammlung, die der Galerist Paul Maenz 1999 nach Weimar gab, als Leihgabe ins gerade wieder erstandene Neue Museum. Werke unter anderem von Keith Haring und Anselm Kiefer brachten neuen Wind in die Klassikerstadt.
Ein Wind, der zum Lüftchen wurde. Innerhalb von fünf Jahren sank die Besucherzahl von 50.000 auf 4000 im Jahr. Maenz sah seine Sammlung nicht geschätzt, sondern vernachlässigt und zog sie aus Weimar ab. Die "Verwalter der Weimarer Klassik" in der Klassik Stiftung hätten sich schlichtweg nicht für Zeitgenössisches interessiert:
"Es hatte sich eben herausgestellt, dass moderne Kunst sehr viel Arbeit macht. Die PR-Arbeit und die Vermittlung haben gefehlt, ganz sicherlich. Aber vor allem haben interessante Ausstellungen und Aktivitäten gefehlt! Meine Sammlung war nur vorgesehen als kleiner Stein am Anfang. Dem hätte vieles folgen sollen. Nur das ist eben nicht passiert."
Neuer Moderne-Anlauf der Klassik Stiftung
Mit dem gerade entstehenden Bauhausmuseum folgt nun ein erneuter Versuch der Klassik Stiftung, sich der Moderne des 20. Jahrhunderts zu widmen und deren Spuren und Verwerfungen in Weimar freizulegen.
Zur dunkeln Seite der Moderne gehört in Weimar auch das KZ Buchenwald. Als bekannt geworden war, dass Weimar 1999 Europäische Kulturstadt werden sollte, wurde aus dem Bundesinnenministerium vor der "Buchenwaldisierung" Weimars gewarnt.
Volkhard Knigge, den Leiter der Buchenwald-Stiftung, schauert es noch heute, wenn er an 1999 denkt:
"Wäre Weimar damals nicht im guten Sinne 'buchenwaldisiert' worden, dann hätte es einen internationalen Aufschrei gegeben. Also, diese Arbeit macht nicht grau und aschig, sondern sie schafft Freunde und öffnet die Welt."
Goethe-Zeichnungen waren in der KZ-Gedenkstätte zu sehen und Masken von Häftlingen im Schillermuseum. Die Nachbauten der Möbel Friedrich Schillers, die von Häftlingen angefertigt werden mussten, um die Originale vor Bombenangriffen zu schützen, stehen seit 1999 in der Ausstellung der Gedenkstätte.
Die Stadt stellt sich ihrer ganzen Geschichte
Geblieben vom Kunstfest ist so eine Stadt, die sich ihrer ganzen Geschichte stellt, ohne den Zivilisationsbruch auf dem Ettersberg auszublenden. Geblieben ist physisch erleb-, ja begehbar, eine "Zeitschneise": Eine Schneise im Wald zwischen dem Schloss Ettersburg und dem ehemaligen KZ Buchenwald.
Zwischen dem Lustschloss der Weimarer Herzöge bis zum Ort des Terrors sind es nicht einmal anderthalb Kilometer. Selbstverständlich ist seit Jahren auch, dass sich an Gedenktagen in der Stadt Weimar das Theater und das beste Hotel öffnen, wenn die Überlebenden von Buchenwald ihre Befreiung feiern.
Was bleibt also von Weimar 1999, vom Kulturstadtjahr? Marcus Max Schreiner hat es genau in diesem Jahr aus seiner Heimat Klagenfurt nach Weimar verschlagen. Weil er dort Chancen fand, sich kreativ auszuprobieren, später an der Bauhaus-Uni zu studieren und unter anderem Aktionskunst und Musik zu betreiben.
Ein Ort der zyklischen Bewegung
Marcus Max Schreiner: "Die Stadt – also, ich fand sie superaufregend, weil sie mir unendlich viel ermöglicht hat. Die hat mich Dinge machen lassen und hat mich gebildet auf eine Weise, die ich, glaube ich, sonst so nicht erleben hätte dürfen. Also, ich schulde Weimar und den Menschen, die hier wohnen, viel, weil sie mir vertraut haben, dass ich so viele Interessen, die ich habe, auf einem sehr hohen Level hier ausprobieren durfte."
Nach 1999 hat er nicht etwa ein Loch erlebt oder einen Kater, sondern eine Stadt in zyklischer Bewegung:
"Lev Vinocour hat was Schönes gesagt, das ist ein sehr bedeutender Pianist: 'Weimar muss scheitern', hat er gesagt. Und irgendwie trifft es: Wagner wollte hier ein Festspielhaus bauen, der Liszt ist wieder verjagt worden ... Irgendwie hat es Weimar immer wieder geschafft, das ganz Große nicht zu ermöglichen. Oder das Bauhaus musste gehen. Das ist das, was Weimar immer wieder erleben muss: Dass es einmal im Jahrhundert aufblüht zu sagenhafter Größe und dann aus irgendwelchen Gründen immer wieder in die Nichtigkeit verschwindet."