Weihnachtslied aus der Nazi-Zeit

„Das Lied kann ja nichts dafür“

Die heiligen drei Könige vor dem Jesuskind.
Die drei Weisen und das Christuskind. Ein Lied über die Heilige Nacht stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Soll man es heute noch singen? © imago/imagebroker
Von Christian Röther · 23.12.2018
Streit um ein schlichtes Lied über das Wunder der Weihnacht: Es stammt aus der Feder eines Dichters, der während der Nazi-Zeit Karriere machte. Soll man es trotzdem noch singen? Vor dieser Entscheidung steht ein Chor in Hannover.
"Wisst ihr noch, wie es geschehen? / Immer werden wir’s erzählen / wie wir einst den Stern gesehen / mitten in der dunklen Nacht ", so heißt es im Lied Nr. 52 im evangelischen Gesangbuch. Der Junge Chor Hannover singt es unter der Leitung von Steffen Henning.
Henning: "Ich kenne es halt seit meiner Kindheit. Es war in einem unserer Klavierliederhefte drin, und da habe ich es immer schon gerne gespielt, gerne gesungen."

Liedtext aus der Nazi-Zeit

Was Steffen Henning bisher allerdings nicht wusste, und so geht es wohl den allermeisten Menschen, die dieses Lied singen: Der Text stammt von einem Autor, der unter den Nationalsozialisten Karriere gemacht hat, weil er sich mit ihrer Ideologie mindestens arrangierte, Hermann Claudius.
Henning: "Das war im ersten Moment eine Enttäuschung. Man denkt einfach immer sofort: Jetzt kann ich das auch nicht mehr singen oder so. Der Gedanke ist einfach sofort da."
Wie also umgehen mit Claudius und seinem Weihnachtslied aus der Nazi-Zeit? Da ist erstmal die Frage: Wer war eigentlich dieser Hermann Claudius? Zunächst fällt der Nachname auf: Hermann Claudius war ein Urenkel des berühmten Lyrikers Matthias Claudius. Auch Hermann Claudius dichtete. Mal auf Plattdeutsch, auch mal Arbeiterlieder. Eines davon singt die SPD bis heute:
"Wann wir schreiten Seit an Seit / und die alten Lieder singen"
Das Arbeiterlied ist auch nicht ganz unumstritten, aber das ist eine andere Geschichte. Sein Geld verdiente Hermann Claudius über 30 Jahre lang als Lehrer – bis zu einem Motorradunfall. Er wurde arbeitsunfähig, 1934.

Ein schlichtes Gemüt erkennt Karriere-Chancen

Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland: "Das war genau die Zeit, in der das Dritte Reich ganz ganz viele große Schriftsteller aus allen Positionen und aus dem Land gedrängt hat. Und da war das für Hermann Claudius, der vielleicht ein politisch schlichtes Gemüt, aber eben konservativ war, eine Chance in diese Lücke hineinzustoßen, wie viele andere auch. Denn das Dritte Reich war ja auch eine Karriereoption für Autoren der zweiten und dritten Reihe. Und da hat er dann eben Positionen übernommen, Preise gewonnen. Also eben als NS-Profiteur ist er dann sehr erfolgreich geworden."
In dieser Zeit textete Hermann Claudius auch "Wisst ihr noch, wie es geschehen". Völkische oder gar nationalsozialistische Ideologie findet sich nicht in diesem Lied, das die Weihnachtsgeschichte aus Sicht der Hirten erzählt. Da sind sich der Chorleiter Steffen Henning und der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen einig.
Claussen: "In einer Zeit, in der man versucht hat, von Staatswegen das Weihnachtsfest zu entchristlichen und völkisch-rassistisch neu zu formulieren, als sozusagen die deutsche Weihnacht, steht dieses Lied total abseits. Es ist ein richtig einfach schlichtes evangelisch-kirchliches Weihnachtslied."

Keine antisemitische Botschaft

Henning: "Ich finde auch, gerade bei diesem Lied ist wirklich nichts von antisemitischer Botschaft oder irgendwas von diesem Gedankengut zu spüren."
Claussen: "Es ist schon auffällig, dieser Widerspruch zwischen doch der eindrucksvollen Melodie und dem sehr sehr banalen Text."
Henning: "Das ist ganz klar einfach die Weihnachtsgeschichte erzählt. Die Melodie ist sehr einfach, aber trotzdem schön, anspruchsvoll. Ich mag diese leichte Sprödigkeit, die die Musik zu der Zeit hatte."
Claussen: "Sie ist einerseits leicht singbar, einfach. Aber sie hat auch etwas Stilles, fast Dunkles, gar nicht triumphalistisch-militaristisch-trompetendes, sondern sie ist sehr innig. Und auch das ist ein eigener Ton, der eben gar nicht zu dem 'Dritten Reich' passte."

Der Komponist distanziert sich später von den Nazis

Verantwortlich für die Musik ist Christian Lahusen. Er gilt bis heute als einer der großen evangelischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. In den 30er-Jahren kam allerdings auch er in Kontakt mit der völkischen Ideologie – doch Lahusen distanzierte sich nach 1945 davon. Außerdem hielt er auch die Nazi-Zeit hindurch zu seiner jüdischen Ehefrau.
Claussen: "Politisch belastet wird man ihn nicht nennen können. Sondern man muss sagen: Das ist wirklich eine bedeutende Biografie und eine bedeutende Kunst, die er hervorgebracht hat."
Anders beurteilt Johann Hinrich Claussen die Biografie von Hermann Claudius und dessen Wirken im Nationalsozialismus:
"Er ist ja 102 Jahre alt geworden, hat – soweit ich weiß – niemals darüber reflektiert, was er in diesen zwölf Jahren eigentlich getan hat. Also er hat, wenn ich das richtig sehe, keinen einzigen selbstkritischen Gedanken formuliert."

Bleibt das Lied im evangelischen Gesangbuch?

Bleibt also die Frage: Sollte man das Weihnachtslied von Claudius und Lahusen heute weiterhin singen?
"Ich finde, dass man die Lieder von Christian Lahusen auf jeden Fall pflegen und ehren sollte. Ob man nun gerade diesen Text von Hermann Claudius ewig weitersingen sollte, das kann man sich fragen. Ich glaube, dieses Lied hat mit diesem Text auch seine Zeit hinter sich gehabt."
Die evangelische Kirche beginnt gerade damit, ihr Gesangbuch mal wieder zu überarbeiten. Auch Johann Hinrich Claussen wirkt daran mit als Kulturbeauftrager der EKD. Gut möglich, dass "Wisst ihr noch, wie es geschehen" in der Neuausgabe des Gesangbuchs fehlen wird, wenn sie in rund zehn Jahren fertig ist.
Claussen: "Da bin ich mal gespannt, wie die Gesangbuchrevision mit diesem Lied umgehen wird. Ich glaube, es gibt viel zeitgemäßere und bessere Lieder, die in Zukunft zu singen wären."

Der Chor will das Lied singen und darüber aufklären

Anders sieht das der Sänger und Chorleiter Steffen Henning:
"Warum soll ich das jetzt nicht mehr singen? Es ist ja nicht das Lied, was dieses Gedankengut trägt."
So gehört "Wisst ihr noch, wie es geschehen" weiterhin zum Repertoire des Jungen Chors Hannover. Diese Entscheidung hat der Chorleiter allerdings nicht alleine getroffen:
"Montag hatten wir Chorprobe, hab ich's schon angesprochen, ob jemand damit Probleme hätte. Schöner Weise war es bei den meisten, eigentlich bei allen so, dass sie sagten: Aber das Lied kann ja nichts dafür."
Trotzdem: Das Lied einfach unbeschwert weitersingen, das geht auch beim Jungen Chor Hannover nun nicht mehr. Der Chor will bei Konzerten in Zukunft über das Lied aufklären, bevor er es anstimmt – vor allem über die ideologische Verortung des Texters Hermann Claudius.
Henning: "Dass man also sagt: Hier, die Verfasser hatten diese Gedanken. Aber wir singen es jetzt so und wir wollen damit das und das sagen. Einfach den Spieß umdrehen."
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