Weihnachten ist überall

12.12.2007
Nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen gibt es Erzählungen von der Geburt göttlicher Kinder. Renate Günther geht in ihrem Buch "Der Mythos vom göttlichen Kind" den Gemeinsamkeiten dieser Überlieferungen nach.
Weihnachten - das ist diese Geschichte vom Kind in der Krippe, geboren von einer Jungfrau, gezeugt von einem göttlichen Vater. Aber so einmalig, wie man gerne denkt, ist diese Geschichte gar nicht. Göttliche Kinder werden in mythischen Erzählungen von allen Göttern aus allen Regionen der Welt geboren. Renate Günther möchte in ihrem Buch "Der Mythos vom göttlichen Kind" entschlüsseln, warum in allen Zeiten und Religionen immer wieder den Göttern ein Kind auf der Erde geboren wird.

Weihnachten ist überall, bei den Göttern des Olymp genauso wie in Polynesien –Geschichten von der Geburt eines göttlichen Kindes hat Renate Günther aus wahrscheinlich jeder Region dieser Erde zusammengetragen, von finnischen Schamanen genauso wie aus der Südsee und China. Eigentlich der einzige weiße Fleck auf ihrer Weltkarte der heiligen Geburten ist Afrika, dort, so sagt sie, ist die Überlieferung der Mythen zu stark von den Kolonialmächten eingefärbt und zensiert worden, um Rückschlüsse aufs Ursprüngliche zu erlauben. Aber sonst gibt es überall diese Geschichten, und die Gemeinsamkeiten umfassen viel mehr als nur die Geburt eines besonderen Kindes.
Meistens ist die Mutter der menschliche Teil der Verbindung, sie empfängt, meist sehr jung, ein besonderes Kind – entweder ist es direkt von einem Gott gezeugt oder es hat zumindest einen besonderen Auftrag. Die Geburt erfolgt unter besonderen Umständen, oft unterwegs, und das Kind muss vor Widrigkeiten und Feinden bewahrt werden, bis es in seinen besonderen Auftrag hineingewachsen ist. Die Mutter stirbt dann auch meist jung.

Buddha zum Beispiel wird einer jungen Frau namens Maya geboren, die ihn während eines Traums von größtem Glück empfängt – ihr Ehemann ist nicht beteiligt, bestaunt aber das Wunder. Geboren wird das Kind unterwegs, während einer Reise zum Elternhaus der Mutter, und es ist so wundervoll anzusehen, dass alle in Ehrfurcht versinken.

Ähnlich wird Krishna aus der hinduistischen Tradition als göttliche Inkarnation in einer menschlichen Frau geboren, allerdings als achtes Kind. Auch dieses Kind ist notgedrungen mobil und gefährdet, Feinde wollen es töten, so dass es in einer komplizierten Rettungsgeschichte schließlich unter Hirten geboren wird und aufwächst.

Oder eine Geschichte aus Mesopotamien, vom König Sargon von Akkad: dessen Mutter wurde von einem Berggott schwanger, dessen Stärke sie beeindruckte. Sie war aber eine Jungfrau, konnte das Kind deswegen nicht behalten. Deswegen setzte sie es in ein Kästchen, das sie mit Pech abdichtete und in den Euphrat setzte. Der spülte das Kind zum Tempelgärtner, der es großzog, bis es schließlich als Erwachsener Geliebter der Göttin Ischtar und ein großer König wurde. Was dann wiederum Anklänge an die wundersame Errettung des Mose hat.

Das Judentum allerdings erzählt keine Geschichte von einem göttlichen Kind, ebenso wenig wie der Islam. Das sei aber kein Gegenargument zur umfassenden Bedeutung dieses Mythos, so Renate Günther. Der Koran kenne immerhin auch die Geschichte Jesu, auch wenn er dort nicht als Sohn Gottes, sondern als menschlicher Prophet gilt. Und die mündliche Überlieferung erzählt von wunderbaren Umständen bei der Geburt Mohammeds ebenso, wie es im Judentum Legenden zur Geburt Abrahams gibt. Für Renate Günther ist das ein Beweis: die Geschichte von der Geburt eines göttlichen Kindes durchdringt den mythischen Urgrund der Menschheit. Deshalb manifestiert sie sich auch in – historisch relativ späten, jedenfalls wenn man vom Beginn der Menschheit in vorhistorischer Zeit ausgeht – Religionen, wo dieses Gedankengut zum Gottesbild eigentlich gar nicht passt. Auch diese Religionen speisen sich eben aus dem, was historisch und entwicklungsgeschichtlich vor ihnen liegt, nämlich aus frühen Hochkulturen wie zum Beispiel der griechischen, die nun wirklich eine beeindruckende Zahl von Göttersöhnen und –töchtern kennt. Dazu kommen als ganz frühe Überlieferungstraditionen schamanische Traditionen, die ja von Grenzgängern zwischen Menschen- und Geisterwelt als grundlegendem Prinzip leben.

Dafür, warum alle diese Überlieferungen ausgerechnet die Erzählung von der Geburt eines göttlichen Kindes gemeinsam haben, bietet Renate Günther bietet mehrere Erklärungsansätze. Das besondere Kind symbolisiert eine Neuschöpfung in verfahrener, eigentlich rettungsloser Situation. Es wird auch geboren, wenn ein scheinbar unbesiegbares Böses die Menschen bedrückt, das mit den vorhandenen Mitteln einfach nicht bezwungen werden kann. Vor allem aber, auf einer viel elementareren Ebene, versöhnt das göttliche Kind mit der Tatsache, dass auf das Leben eben unvermeidlich der Tod folgt. Renate Günther geht davon aus, dass die Menschen sich in einem ewigen Kreislauf von Leben und Tod geborgen wussten, bevor die Erkenntnis des individuellen Todes diese Einheit zerstörte. Neuen Sinn spendeten eben die Erzählungen von heldenhaften Götterkindern und von Erlösern, die in ein neues Leben führen. Was dann zum rituellen Mitvollzug in Mysterienkulten führt und schließlich in der Geschichte von Jesus seinen umfassenden Ausdruck findet.

Überzeugend ist es, die Überlieferung von den göttlichen Kindern als Ausdruck und Bewältigung einer tiefen Sinnkrise zu lesen und nicht nur als harmlose Folklore. Ob sich aus den Überlieferungen aber wirklich eine Art urzeitlicher Urmythos rekonstruieren lässt? Dazu scheinen sie doch zu unterschiedlich. Sowohl vom Inhalt her – die Kinder sind zum Beispiel mal Götter, mal besondere Menschen, sie sehen mal ganz normal aus, dann wieder haben sie Stierköpfe oder besondere Augenformen, die Eltern wollen sie mal töten aus Angst vor einem bösen Omen, mal beschützen – je genauer man schaut, desto mehr fallen auch die Unterschiede auf. Aber auch formal sind die Erzählungen so verschieden, von heiligen Schriften bis zu ethologischen Aufzeichnungen, dass eine zeitliche Abfolge schwierig zu rekonstruieren scheint. Leider fehlen in Renate Günthers Buch jegliche Hinweise auf verwendete Quellen.

Einen erfrischenden Blick auf Weihnachten gestattet das Buch allerdings. Renate Günther argumentiert recht schlüssig und ganz losgelöst von christlicher Tradition, warum die Jungfrauengeburt nicht einfach ein pittoreskes Detail ist, sondern für sie eine mythologische Notwendigkeit. Und Ochse und Esel nicht als Folklore zu sehen, sondern als Spur schamanischer Tradition, nämlich als besondere Tiergeister – das wirft doch gleich ein ganz neues Licht auf die vertraute Krippenszene.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Renate Günther: Der Mythos vom göttlichen Kind. Jesus - Krishna - Buddha
Patmos Verlag 2007, 186 Seiten, 16,90 Euro