Weichgespülte Zeit

Von Tilman Krause · 12.10.2006
Politologen und Publizisten wissen es längst, nur der so genannte Mann auf der Straße will es nicht wahrhaben: Wir befinden uns im Krieg. In einem heißen sogar, nicht in einem kalten, wenngleich die islamistischen Terroristen, die die westliche Welt angreifen, es vorerst nur zu Stichflammen kommen lassen und nicht zu einem Flächenbrand.
Es herrscht also Krieg. Aber da es ein nur periodisch aufflackernder, kolossal unübersichtlicher und immer nur in kurzen Attacken stattfindender Krieg ist, fehlen bis jetzt seine Begleiterscheinungen. Die Begleiterscheinungen intellektueller Art vor allem. Die großen kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts hatten ja eines mit sich gebracht, was uns heute merkwürdigerweise noch vollkommen fehlt: Eine große Debatte über die geistigen und moralischen Werte, für die man kämpft. Vor allem das erste Jahrzehnt des Kalten Kriegs, aber auch die Anfangszeit des Ersten Weltkriegs, sie waren Hochzeiten der so genannten Debattenkultur, eine Periode äußerst scharfsinniger, intelligenter und umfassender "Bestandsaufnahme" dessen, wofür man leben und gegebenenfalls auch sterben wollte. Allen diesen Debatten lag ein Zug zugrunde, den Thomas Mann in seinen programmatischen "Gedanken im Kriege" von 1914 als ein "moralisches Wiederfestwerdenwollen" bezeichnete, ein Bemühen also, aus dem Relativismus und der Bequemlichkeit der Friedensjahre herauszukommen, eine kollektive, aber auch individuelle Selbstvergewisserung von ernstestem Anstrich darüber, was wir als Gesellschaft, als Kultur sind und was wir wollen.

Wir führen eine solche Debatte heute nicht, weil wir die Bedrohung noch immer ignorieren oder verdrängen. Wir leben immer noch als Konsensgesellschaft, konfliktscheu, harmoniebedürftig, konfrontationsgehemmt, wie es dem Ideal jener Zivilgesellschaft entspricht, die bei uns seit Jahrzehnten gepredigt wird und die auch gut und richtig ist – solange man sie sich leisten kann. Die Vorstellung herrscht allgemein, dass schon alles gut gehen wird, wenn man nur recht freundlich miteinander umgeht und sich immer fleißig "schönen Tag noch!" wünscht. Doch ob die Tage so schön bleiben werden, wie sie jetzt noch sind, das fragt sich eben.

Zwei Situationen gab es in den letzten Monaten, in denen besonders schmerzlich deutlich wurde, dass uns eine Debatte um unsere Werte und wieweit wir sie zu verteidigen imstande sind, fehlt. Die erste Situation ergab sich, als jene Mohamed-Karikaturen, die eine dänische Zeitung veröffentlicht hatte, zwar in der Presse der westlichen Welt kommentiert, aber kaum einmal nachgedruckt wurden - ein Akt der Feigheit vor dem Feind, der sich als "Rücksichtnahme" auf religiöse Gefühle ausgab und dabei die Freiheit der Meinungsäußerung unterhöhlte. Die zweite Situation ergab sich, als vor einigen Wochen die Intendantin der Deutschen Oper eine "Idomeneo"-Inszenierung aus dem Programm nehmen wollte, weil das dortige Herzeigen von abgeschlagenen Köpfen der großen Religionsstifter Buddha, Jesus, Mohamed angeblich ein Sicherheitsrisiko für das Publikum darstelle.

Hier wurde ohne Not (wie sich dann herausstellte) und in vorauseilendem Gehorsam die Freiheit der Kunst geopfert – wiederum mit Rücksicht auf die religiösen Gefühle Andersgläubiger. Eine Rücksicht, die vor allem diejenigen an den Tag legen, denen es nicht das Mindeste ausmacht, wenn die religiösen Gefühle von Christen verletzt werden, denn diese haben es längst aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Hier gibt es also ein Messen mit zweierlei Maß, das einen Relativismus bezeugt, der geradezu nach jenem "moralischen Wiederfestwerdenwollen" schreit, das Thomas Mann in seiner bereits zitierten Schrift von 1914 so eloquent beschworen hatte.

Die erste Voraussetzung für ein solches "moralisches Wiederfestwerden" ist allerdings, dass man zu den Werten steht, die man einmal als gut und richtig erkannt hat. Wir hören den Ausdruck "Ich stehe dazu" heute allenfalls von Leuten, die ihre Fehler nicht einsehen und sich nicht entschuldigen wollen. Zu etwas stehen bedeutet aber vor allem, sich selbst auf etwas zu verpflichten. Und genau daran hapert es vor allem. Wir sind eine Gesellschaft geworden, in der die Reichen sich nicht mehr verpflichtet fühlen, für die Armen zu sorgen. In der die Bildungsbürger sich nicht mehr verpflichtet fühlen, sich den Kanon anzueignen und an die nächste Generation weiterzugeben. In der sich Meinungsmacher nicht mehr verpflichtet fühlen, auch anderen Meinungen als den ihren ein Forum zu geben. Eine nur noch materiell denkende Gesellschaft fragt sich beständig, was bringt es mir, was habe ich davon? Aber zu seiner Kultur und ihren Werten zu stehen, bedeutet eben auch, sich ihnen verpflichtet zu fühlen, wenn es sich nicht "auszahlt". Alles andere ist Verrat. Verrat, Verpflichtung, Verantwortung, Verbindlichkeit: das sind harte Wörter, die unsere weichgespülte Zeit nicht mag, vielleicht sogar nicht mehr kennt. Aber nur wenn wir zu ihnen wieder ein Verhältnis gewinnen, können wir in den Stürmen, die auf uns zukommen werden, bestehen. Und vielleicht lernen wir auch eines Tages wieder, dass diese Begriffe Fragen aufwerfen können von Leben und Tod. Oder, um es mit Friedrich Schiller zu sagen: "Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein."

Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten ‚Literaturpapst’ der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "WELT".