Weiblicher Orgasmus

Das Ende der Mystifizierung

29:29 Minuten
Foto-Infrarotstrahlung inmitten des 700 Lichtjahre entfernten Spiralnebels.
"Man löst sich auf, man geht so auf im Universum", beschreibt eine Frau ihr Gefühl beim Orgasmus. © imago / UPI
Von Anke Schaefer · 04.02.2021
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Beim heterosexuellen, partnerschaftlichen Sex kommt laut US-Forschern ein Drittel der Frauen nicht zum Orgasmus. Sexspielzeug verspricht schnelle Befriedigung. Therapeutinnen raten, das Lustempfinden nicht allein auf den Höhepunkt hin auszurichten.
Manche Frauen erreichen ihn schnell. Andere langsam. Manche bekommen ihn gar nicht. Den Orgasmus.
Martina: "Das ist ein sehr intensives Gefühl. Man selbst existiert gar nicht mehr so richtig, man löst sich auf, man geht so auf im Universum. So fühle ich das."
Elke: "Also ich brauche sehr lange, um zum Orgasmus zu kommen. Das ist schon mein Leben lang so und das ist auch in Ordnung so für mich. Das ist auch bei mir ein Unterschied, ob ich jetzt mit einem Partner den Sex habe, oder eben mit mir alleine, also da gibt es durchaus Unterschiede."
Natalie: "Wenn ich es drauf anlege, kann ich ihn ganz schnell haben. Weil man sich kennt, weil man seine reizbaren und erregbaren Stellen weiß und damit umgehen kann, damit spielen kann."
Erforscht haben den Orgasmus in den 1950er- und 1960er-Jahren William Masters und Virginia Johnson. Demnach hat der sexuelle Reaktionszyklus für Frauen und für Männer vier Stufen: Erregung, Plateau, Orgasmus, Rückbildung. In der Erregung schwellen die Genitalien an. Bei der Frau die Klitoris, die Schamlippen, die Brustknospen. Beim Mann erigiert der Penis. Die Plateauphase ist der genussvolle Weg, der zum Orgasmus führen kann.
Hyperventilation mit erhöhter Atemfrequenz, Tachykardie mit rasenden Herzschlägen, erhöhter Blutdruck, häufige Transpiration, Kontraktionen der Vagina, des Uterus, beziehungsweise des Penis und der Prostata, des Schließmuskels und der Beckenregion.
Schreibt Claus-Steffen Mahnkopf in "Philosophie des Orgasmus".

"Ein Gefühl, so ganz aus dem Alltag heraus zu sein"

Eva: "Das Tolle daran ist ein Gefühl, so ganz aus dem Alltag heraus zu sein, so ganz bei mir zu sein, mich so rund und ganz zu fühlen. Aber auch so das Gefühl, ja, in der Beziehung, das ist in Ordnung, ich muss mir keine Sorgen machen um die Beziehung, es ist mehr so etwas, was einen raus nimmt, aus allen Sorgen und Ängsten, die einen oft umtreiben."
Christie's zeigte das laszive Bild, der in sich ruhenden "Odalisque couchée aux magnolias" 2018 auf ihrer Auktion. Das Bild ist von Henri Matisses.
Wenn der Orgasmus vorüber ist, kommt alles wieder zur Ruhe.© Christie's Images Ltd. 2018/AP
Im Französischen nennt man den Orgasmus den "kleinen Tod". "La petite mort". Wenn er vorüber ist, kommt alles wieder zur Ruhe.
Die griechische Mythologie erzählt vom Priester Teiresias, der erst Mann und dann Frau war und wegen dieser Doppelkompetenz von Zeus und Hera gebeten wurde, über das Lustempfinden der Geschlechter Auskunft zu geben. Er bekundete, die Lust der Frau sei neunmal größer als die der Männer.
Claus-Steffen Mahnkopf, "Philosophie des Orgasmus".
Elke: "Es ist so ein Kribbeln, es zieht durch den ganzen Körper, es ist auch mit Kontraktion verbunden, ja, das fühlt sich schon auch nicht schlecht an!"
Vor etwa 70 Millionen Jahren hat sich der Orgasmus entwickelt. Die Kontraktionen erfolgen alle 0,8 Sekunden. Bei der Frau normalerweise 3-5, maximal 10-15 Mal, beim Mann je nach Ejakulationsmenge. Der Orgasmus der Frau dauert empirischen Studien zufolge zwischen 13 und 51 Sekunden. Der Orgasmus des Mannes im Durchschnitt 12,2 Sekunden, so schreibt Claus–Steffen Mahnkopf in "Philosophie des Orgasmus". Im heterosexuellen Sex gemeinsam zu kommen – gar nicht einfach.
Martina: "Ich hab’s erlebt. Das ist wie Schweben. Wenn es gemeinsam passiert ist, dann hat es so einen Schwebecharakter gehabt."

"Orgasm gap" zwischen Männern und Frauen

Von dieser Erfahrung können viele Frauen nur träumen. 2017 haben amerikanische Forscher über 50.000 Frauen und Männer zwischen 18 und 65 Jahren befragt und erfahren, dass im heterosexuellen, partnerschaftlichen Sex ein Drittel der Frauen überhaupt nicht kommt. Anders die Männer, sie gaben zu 95 Prozent an, hier einen Orgasmus zu haben. Die Wissenschaft spricht in Anlehnung an den "gender pay gap" von einem "orgasm gap".
Die Südafrikanerin Diana Richardson arbeitet mit Paaren und Frauen an ihrer Sexualität. Sie hat Bücher wie zum Beispiel "Zeit für Liebe" oder "Zeit für Weiblichkeit" geschrieben.
"Im Grunde stehen Männer und Frauen unter Druck, einen Orgasmus bekommen zu müssen. Das hat mit unseren sexuellen Prägungen und Mustern zu tun. Wir glauben, Sex bedeutet, diesen kurzen energetischen Höhepunkt zu erleben. Das ist ein großes Missverständnis."
Denn wir können auch lernen, uns zu entspannen und der Energie zu erlauben, sich im ganzen Körper auszubreiten. Männer und Frauen, denken, ohne Orgasmus wäre das kein richtiger Sex. Dabei ist der Orgasmus ja nur eine Möglichkeit, unsere sexuelle Energie zu nutzen."
Wenige entspannen sich. Viele verspannen sich. Um diesen "kurzen energetischen Höhepunkt" zu erleben. Und wenn es gemeinsam nicht klappt, dann probieren es viele lieber allein. Heike Melzer, Neurologin und Autorin des Buches "Scharfstellung", arbeitet seit 15 Jahren als Paar- und Sexualtherapeutin.
"Ich erinnere mich in den letzten Jahren nur an eine Klientin mit 59, die gesagt hat: Frau Melzer, jetzt werde ich bald 60, ich will das jetzt auch mal erleben. Also die meisten Frauen wissen sehr genau, was ein Orgasmus ist. Die haben entweder die Handbrause – in meiner Jugend – oder die Hightech-Sex-Toys, Magic Wand, Womanizer und Co., da wissen die sehr genau Bescheid. Und wenn es die Oral B Zahnbürste ist."

Jede vierte Frau in Deutschland besitzt Sexspielzeug

Keine Frau braucht im 21. Jahrhundert auf ihren Orgasmus zu verzichten. Dafür gibt es Sex Toys, schon lange nur noch "Toys" genannt. In Deutschland besitzt Umfragen zufolge jede vierte Frau ein Sexspielzeug, in den USA sogar jede zweite. Den ersten Vibrator erfand 1883 ein Engländer. Das Prinzip ist einfach: Ein elektrischer Motor erzeugt in einem penisähnlichen Stab Schwingungen, man kann ihn an die Klitoris halten oder in die Vagina einführen.
 Womanizer Pro und Womanizer Plus Size.
Das Geheimnis des Womanizers ist rein technischer Natur.© imago stock&people
In den 70er- und 80er-Jahren wurde aber auch der "Hitachi Magic Wand" viel gekauft, ein stabmixerähnliches Gerät mit vibrierendem Kopf, eigentlich als Massagestab gedacht. Als er 2002 in einer Folge von "Sex and the City" erwähnt wurde, stiegen die Verkaufszahlen noch mal sehr. Inzwischen ist der "Womanizer" besonders beliebt, er vibriert nicht, sondern saugt die Klitoris in einem Silikontunnel leicht an, dadurch wird sie besser durchblutet, es entsteht Unterdruck, pulsierende Luftwellen treffen auf den Klitoriskopf und schon passiert’s.
"Wir haben 8000 sensorische Nervenenden auf einem Mini-Mini-Bereich der Klitoris, das haben wir nirgends woanders im menschlichen Körper. Da schlagen die Rezeptoren wahnsinnig gut darauf an. Da können sie einen Einkaufszettel dabei schreiben, das ist in zwei Minuten durch. Das ist wie ein Hatschi!"
Der "Womanizer" ist ein "valides Hilfsmittel" für Frauen, die noch nie einen Orgasmus hatten, sagt Paartherapeutin Heike Melzer.
"Auf der anderen Seite gibt es Frauen, die sagen, ah, so ein Orgasmus, das ist ein kleiner Belohnungsreiz. Den gönne ich mir halt, wenn ich schlecht gelaunt bin, wenn ich mich geärgert habe, wenn ich Langeweile habe usw. Wir haben viele Frauen, die schon abhängig von diesem Gefühl des Orgasmus, von diesem Kick sind."
Das kann so weit gehen, dass ein "Dead Vagina Syndrom" die Folge ist.
"Keiner will das Dead Vagina Syndrom haben, aber was dahinter steckt, ist das Unrezeptive. Das heißt, wenn ich als Frau mir ständig den Womanzier draufsetze, und das dreimal am Tag, und dann kommt eine Zunge daher, dann spüre ich halt nichts mehr. Das ist so ähnlich wie beim Essen. Wenn ich Haribo mir ständig reinziehe, dann schmeckt mir Apfel irgendwann nicht mehr."

Verkaufen sich gut: Sex Toys mit Saugeffekt

Seit der "Womanizer" vor fünf Jahren auf den Markt kam, hat er sich nach Angaben der Hersteller 2,5 Millionen Mal in über 60 Ländern verkauft. Andere Firmen haben inzwischen auch Toys, die mit Saugeffekt arbeiten, im Programm. Aber nicht alle Frauen spricht das an.
Eva: "Mich schreckt das eher ab, weil das für mich so etwas ist wie – oh ja, wir sind total effizient. Das ist etwas, das mich total abturnt."
Lisa: "Das finde ich ein total uninteressantes Gerät. Es ist unerotisch, dieses Ding zu benutzen, ich habe es auch nur einmal angewandt. A macht es total Krach. B ist es etwas, was auf eine fast mechanische Art und Weise so eine Art von Lust erzeugen kann, die aber überhaupt nichts mit deiner Seele oder deinem Herzen zu tun hat, oder überhaupt nichts mit irgendetwas von dir, außer mit dieser sehr ausgesuchten Stelle am Körper. Und weil es so einen übergroßen Reiz setzt, da finde ich es fast ein bisschen unangenehm."
Elke: "Mich hat der Preis abgeschreckt, weil ich dachte: Über 100 Euro, das war es mir nicht wert. Weil ich denke – probierst es und dann hinterher liegt er im Schrank."
Warum aber haben Frauen überhaupt einen Orgasmus? Ohne männlichen Orgasmus gibt es keine Arterhaltung. Für den weiblichen Orgasmus gilt das nicht.
"Die Evolution ist klug, die hat den Frauen auch Spaß mit angedacht. Und die Frauen, die Spaß an Sex haben, die setzen sich evolutionär auch durch. Das Lustempfinden ist wichtig, dass Frauen sich überhaupt bereit erklären, Sex zu haben", sagt Heike Melzer.
Amerikanischen Forschern zufolge spricht vieles dafür, dass der weibliche Orgasmus vor Jahrmillionen notwendig war für die Fortpflanzung. Indizien dafür sind: Noch immer gibt es Säugetierweibchen, deren Eisprung durch den Orgasmus ausgelöst wird. Bei Kaninchen, Katzen und Frettchen ist das so. Affen hingegen entwickelten einen Zyklus, bei dem es regelmäßig zum Eisprung kommt, ganz unabhängig vom Sex. Genauso wie beim Menschen.

Der weibliche Orgasmus – ein evolutionärer Zufall?

Andere wissenschaftliche Hypothesen besagen, dass es den weiblichen Orgasmus nur deshalb gibt, weil sich im gerade gezeugten Embryo Penis und Klitoris aus dem anatomisch gleichen Gewebe bilden. Demnach wäre der weibliche Orgasmus ein evolutionärer Zufall.
Sinn des Orgasmus könnte aber auch sein, dass sich Vagina und Gebärmutter dabei zusammenziehen, sodass die Chance in dem Moment auf eine Befruchtung steigt.
Zwei Frauen und ihre Gesichtsstudien zu ihrem individuellen Höhepunkt.
Nicht jeder Orgasmus entsteht durch einen körperlichen Stimulus, manche entstehen im Kopf.© picture alliance/ Marcos Alberti
Natalie: "Ich glaube, da gibt es eine biologisch-medizinische Erklärungsweise. Da wird das Oxytocin ausgeschüttet. Also wir sind eben auch ein bisschen animalisch. Ganz viel sind auch die Hormone und einfach viel – Biologie und Arterhaltung."
Beteiligt sind folgende Hormone: Dopamin für die Belohnung. Die Endorphine als Glückshormone.
Und: "Insgesamt wirkt das entspannend, und vor allem durch das Bindungshormon Oxytocin, findet eine verstärkte Bindung zum Partner statt. Und es führt auch durch das Prolaktin zu einem Befriedigungserlebnis, und es führt dazu, dass mehr Testosteron ausgeschüttet wird. Es ist auch immunstärkend, das weiß man vom Küssen."
Nicht jeder Orgasmus entsteht durch einen körperlichen Stimulus. Manche kommen ganz überraschend, sie entstehen im Kopf, zum Beispiel weil etwas sehr aufregend ist. Oder im Traum.
Martina: "Ich wache manchmal von dem Gefühl auf, also von dem Orgasmus. Ich finde das dann total super. Dass das einfach so kommt, dass man dann schön davon geweckt wird."

Klitoris wurde erstmals 1559 anatomisch beschrieben

Ist die Stimulation körperlich, dann ist es meist die Klitoris, die den Orgasmus auslöst.
Die Klitoris besteht aus dem sichtbaren Kopf, der Perle, mit ihrer Vorhaut, die wie ein "Kapüzchen" aussieht, dem Schaft und den beiden Klitorisschenkeln. Diese verlaufen in der Tiefe und umschließen den Scheideneingang.
Schreibt Dania Schiftan in "Coming Soon".
Obwohl die Klitoris erstmals 1559 von einem italienischen Anatomen beschrieben wurde, und Georg Ludwig Kobelt 1844 eine sehr detaillierte anatomische Beschreibung vorlegte, weiß man erst seit gut 20 Jahren, wie weitverzweigt die tiefer liegenden Strukturen der Klitoris wirklich sind.
Sie erstreckt sich bis zu 11 Zentimeter ins Innere der Frau und kann, wenn sie erregt ist und sich mit Blut füllt, auf die doppelte Größe anschwellen. Der Klitoriskopf sitzt am oberen Ende der kleinen Schamlippen, in der Mitte zwischen den beiden großen Schamlippen.

Zwar kann der Reflex, der zum Höhepunkt führt, auch allein durch Reizung der Vagina und des Gebärmutterhalses ausgelöst werden, doch meist – Heike Melzer zufolge in 90 Prozent der Fälle – entsteht der Orgasmus durch die Erregung der Klitoris. Liegt der sehr sensible Klitoriskopf anatomisch nahe an der Vagina und erfährt so Reibung während der Stimulation durch den Penis, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau im partnerschaftlichen, heterosexuellen Sex kommt höher, als wenn der Klitoriskopf weiter von der Vagina entfernt liegt.
"Die Frauen machen sich oftmals so einen Stress, dass sie versuchen, diesen vaginalen Orgasmus zu bekommen. Ich würde den vaginalen Orgasmus nicht dem klitoralen überlegen sehen. Auf gar keinen Fall. Ich würde eher den Frauen Selbstbewusstsein wünschen: Bei mir sind halt, genau wie bei allen anderen Frauen die meisten Bewegungsrezeptoren an der Klitoris und die können über den Penis stimuliert werden, aber eigentlich vielleicht nicht ganz so gut wie über eine Hand oder eine Zunge", sagt Heike Melzer.

Sigmund Freud brachte die Klitoris in Verruf

Es war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der die Klitoris in Verrufenheit brachte. Er begründete den Mythos, dass der Höhepunkt, der durch die reine Penetration der Vagina entsteht, dem Orgasmus, der durch die Reizung der Klitoris ausgelöst wird, weit überlegen sei. Sehr zum Ärger vieler Frauen und Feministinnen.
Die äußeren, klitoralen Empfindungen wurden entwertet, als zweitrangig, zufällig oder neurotisch erklärt, was die Männer dann immer wieder als Argument benutzt haben, um sich mit ihren eigenen Wünschen durchzusetzen und um jeden möglichen Anspruch der Frauen auf eigene Lust auszuschließen.
Schreibt Christiane Olivier in "Jokastes Kinder".
Natalie: "Für mich gibt es gar nicht so einen Unterschied zwischen dem klitoralen und vaginalen, das ist ein Gefühl der Kontraktion und Entspannung und die kann ich gar nicht so auseinanderhalten."
Elke: "Da merke ich jetzt keine Unterschiede, weiß ich auch ich nicht, wie das sein soll."
Martina: "Ich würde behaupten, dass ich das kenne. Vaginal, das geht – glaube ich – viel tiefer."

Slow Sex hinterfragt den Fokus auf die Klitoris

Im Slow Sex, dem langsamen Sex, so wie ihn Diana Richardson in Seminaren lehrt, wird der Fokus auf die Klitoris hinterfragt. Nicht dass sie Freuds Meinung wäre, sie hat einen völlig anderen Ansatz: "Die Klitoris ist süß und wunderbar. Aber es ist ein Missverständnis zu glauben, dass sie das Zentrum der weiblichen Sexualität ist."
Diana Richardson hat lange in Indien gelebt und sich mit dem alten tantrischen Wissen beschäftigt.
"Der klitorale Orgasmus entsteht durch Intensität und Erregung. Der vaginale Orgasmus hingegen entsteht aus einer sehr tiefen Entspannung heraus. Das ist so, als würde die Vagina schmelzen – in Beziehung zum Penis. Das ist sehr, sehr ekstatisch. Das ist die Folge einer inneren Öffnung und einer erhöhten Sensibilität. Da geht es nicht um einen Höhepunkt und dann um Entspannung. Dann entsteht dieses unglaubliche Gefühl, das sich im Körper ausbreitet... Wir Frauen haben die Tendenz, die Vagina zusammenzupressen, wenn wir sie aber weit halten und ganz bewusst spüren, dann kann das eine neue Tür öffnen. Eine wunderschöne Erfahrung, die viele Frauen nicht haben."
Wie lässt sich der weibliche Orgasmus beschreiben? Dieser Moment, in dem die Welt sich auflöst? Die französische Schriftstellerin Catherine Millet, deren Buch "Das sexuelle Leben der Catherine M." in Frankreich Furore gemacht hat, sagte in einem SZ-Interview, am besten habe das ein Mann gekonnt. Einer, der – wie sie sagt – sehr viel Zeit mit Frauen verbracht hat. Der englische Schriftsteller D.H. Lawrence.
Und auf dem Grund ihres Innern teilten sich die Tiefen und wogten auseinander von dem Mittelpunkt sanften Eindringens aus, als der Taucher tiefer eindrang, immer tiefer, sie immer tiefer berührte, und tiefer, tiefer, tiefer, wurde sie bloßgelegt, und machtvoller rollten die Wogen ihres Seins dahin, fort von ihr, ließen sie zurück, bis jäh, in sanftem, schauerndem Erdbeben, der Kern all ihres Plasmas getroffen wurde – sie sich getroffen wusste – und die Vollendung über sie kam und sie verging.
Nachzulesen in "Lady Chatterley" von D.H. Lawrence.
Natalie: "Diese Ekstase, die in dem Chatterley-Text auch vorkommt, die kenne ich eigentlich gar nicht. Wenn man das hört – dann denkt man – was ist denn da noch für ein Spielraum?!! Wie geht denn das? So. Klar!"

Orgasmus kann auch Mittel zum Zweck sein

Diana Richardson: "Frauen neigen dazu, ihre Vagina bewusst zu verengen. Besonders bei harten Stößen, wenn es etwas aggressiver wird und der Gebärmuttermund verletzt werden könnte. Deshalb ist es so wichtig, dass ein Mann ganz bewusst in die Frau eindringt. Wenn sie spürt, ihr Partner ist wirklich achtsam, erst dann kann sie die Vagina weiten. Und dann kann dieser wunderschöne Austausch zwischen Penis und Vagina geschehen."
Eva: "Im Vorfeld war viel die Vorstellung – ja, heißt das jetzt, dass wir alt sind, wenn wir diese Art von Sex machen? Für mich hat Sexualität viel damit zu tun, dass wir so eine gegenseitige Bestätigung daraus ableiten. Was auch so eine Falle ist: Also, wenn der Mann eine starke Erektion hat, dann fühle ich mich sehr stark bestätigt. Wenn ich einen Orgasmus habe, dann fühlt er sich bestätigt.
Es ist mehr so dieses Sich-Verabschieden davon, ich suche eine Bestätigung dafür, dass ich jung, attraktiv, spannend bin. Sondern ich suche eine echte Verbindung, ich suche einen Ort, wo ich wirklich sein kann, wo alles das, was in mir drin ist, auch hoch kommen darf, wo das alles einen Raum hat, wo man sich auch gegenseitig annehmen und wahrnehmen kann damit."
Der Orgasmus kann also auch Mittel zum Zweck sein: Bestätigung geben, Bestätigung bekommen. Viele Frauen wollen darauf nicht verzichten. Auch nicht auf den eingeübten Ablauf von Erregung, Höhepunkt und Entspannung.

Psychotherapeutin: vom Orgas-Muss zum Orgas-Kann

Die Psychotherapeutin Dania Schiftan meint, erfüllende Sexualität sei erlernbar. Die Schweizerin beschreibt in ihrem Buch "Coming Soon", wie Frauen in 10 Schritten zum vaginalen Höhepunkt kommen können. Das geht vom Kennenlernen der Anatomie über das bislang verwendete Erregungsmuster, hin zum Erkunden der sexuellen Vergangenheit. Und ganz wichtig, schreibt die Schweizerin, seien unterschiedliche Bewegungen.
Die "Beckenschaukel" ist eine der zentralen Stufen auf der 10-Schritte-Leiter:
Einige Frauen spannen den Körper stark an, um ihre Erregung zu steigern, und sollten sich deshalb beim Sex und bei der Selbstbefriedigung mehr bewegen. Schaukle hin und her, lass dein Becken kreisen, rekle dich, wechsle ab und variiere dein Tempo, mal sanft und mal intensiver. Bewegung ist einer der wichtigsten Faktoren beim vaginalen Orgasmus und für den erfüllten, ganzheitlichen Sex.
Schreibt Dania Schiftan in "Cooming Soon".
Frauen sollen sich mehr entspannen und vom Orgas-Muss zum Orgas-Kann übergehen. Und dann sollten Frauen, meint Dania Schiftan, die Vagina aus ihrem Schlaf wecken. Sie ertasten und sie trainieren – also auch regelmäßig masturbieren.
Damit wir bei der Stimulation wirklich etwas spüren, müssen sich in der Großhirnrinde erst Synapsen bilden. Sie bilden sich erst, wenn die Nervenendigungen im Geschlecht oder anderswo häufig genug Impulse an die entsprechende Gehirnregion schicken. Einer der Gründe, warum viele Frauen nicht durch die Reizung ihrer Vagina zum Höhepunkt kommen, ist demnach, dass die Vagina noch nicht so erfahren und sensibilisiert ist, wie sie es sein könnte.
Wieder Dania Shiftan, "Coming Soon".

"Frauen können tiefe orgastische Erfahrungen machen"

Auch in den Seminaren von Diana Richardson bewegen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer viel. Sie schütteln sich, massieren sich gegenseitig, tanzen. Der ganze Körper soll in Schwingung kommen, weich werden und biegsam.
"Meine Erfahrung aus 25 Jahren Arbeit mit Paaren und Frauen ist, dass wir die Vagina nicht trainieren brauchen. Sie ist dafür gemacht, den Penis zu empfangen. Dazu muss sie weich und ganz sensitiv sein. Aber wenn wir glauben, dass sich im Sex alles um den Orgasmus dreht, dann stimulieren wir meist die Klitoris und ziehen die Vagina zusammen. Auf lange Sicht verliert die Vagina so ihre Sensibilität.
Der Penis ist ein Kanal für Energie, die Vagina ist dazu gemacht, diese Energie zu empfangen. Um das zu erleben, dürfen Männer nicht viel tun, in der Frau, denn wenn sie mit dem Rein-Raus viel Spannung erzeugen, dann desensibilisiert auch das die Vagina. Das macht ihre Wände härter."
Diese Erfahrung zu vermitteln, das ist der Slow-Sex-Lehrerin wichtig. Zumal sie davon überzeugt ist, dass die Klitoris eben nicht das Zentrum der weiblichen Sexualität ist.
"Die Brüste sind der Bereich, von dem aus sich der weibliche Körper in eine tiefere Ebene hinein öffnet. Die Klitoris baut Erregung auf, das ist nett, aber so folgt keine tiefe Öffnung des weiblichen Körpers. Tatsächlich sind die Brüste das Zentrum der weiblichen Sexualität.
Von den Brüsten geht die Energie aus. Nach einer Weile geht diese Energie in Resonanz mit der Vagina, dann kann sich die Vagina wirklich öffnen, ganz anders, als wenn sie erregt wird. Das macht auch den großen Unterschied zwischen Männern und Frauen aus. Männer sind – allgemein gesprochen – ziemlich schnell zum Sex bereit. Der weibliche Körper ist anders. Und das wird oft nicht genug gewürdigt."
Frauen brauchen einfach länger, und das nicht, weil sie frigide sind oder keine Lust haben, sondern weil die sexuelle Energie sich ihren Weg erst von den Brüsten zur Vagina bahnen muss – so sagt Diana Richardson.
"Durch die Brüste und die Energie, die durch den Körper fließt, können Frauen tiefe orgastische Erfahrungen machen. Das ist etwas ganz anderes als der eine Höhepunkt und die sich daran anschließende Entspannung. Das ist ein Gefühl des Aussendens von Energie und auch über den Körper hinaus. Ein glückseliger orgastischer Zustand. Und du fühlst dich eins mit der Natur. Das kann mit einem Mann passieren, das kann aber auch passieren, wenn du allein bist."

Muster hinterfragen, Achtsamkeit trainieren

Martina: "Ganz früher habe ich das von außen betrachtet. Und dann war ich da nebenbei im Spiel und habe gar nicht so viel empfunden. Ich habe mich von außen betrachtet, weil ich wollte, dass der Partner mich schön findet, mich toll findet und auch jetzt die Situation gut findet und befriedigt wird und befriedigt da rausgeht, ohne auf mich selbst zu achten."
Elke: "Ich habe früher vorgetäuscht. Das mache ich heute nicht mehr. Muss ich dazu sagen, dass ich auch schon 68 bin und eine ganz andere Erfahrung habe. Da hat sich viel verändert bei mir."
Muster hinterfragen, Achtsamkeit trainieren, das ist wichtig, für Frauen und für Männer. Denn auch sie, auch die Männer stehen unter Druck, sagt Diana Richardson.
"So viel Stress wegen der Erektion. Männer stehen unter großem Performancedruck. Da geht es auch um Versagensängste. Wird es funktionieren, wird der Penis hart, welche Fantasie, welcher Porno-Gedanke kann mir helfen, was brauche ich um eine Erektion zu kriegen. Solche Gedanken können einen Mann auffressen. Aber es gibt auch die Option, Liebe zu machen mit nicht erigiertem Penis."
Und zwar dann, wenn der Orgasmus nicht mehr im Zentrum steht. Denn genau das, da sind sich Wissenschaftler und Sexualtherapeuten einig, führt zu Stress. Vielleicht ist unser sexuelles Leben überhaupt ein Spiegelbild unseres gesamten Lebens? Dieser Hunger nach dem Höhepunkt, nach der Erregung? Vielleicht sollten Männer und Frauen zusammen neue Wege erforschen? Schlicht, indem wir mehr in unseren Körper hinein spüren? Ja, sagt Diana Richardson, genau darum geht’s.
"Es geht darum, unser Denken zu verändern. Der Körper ist perfekt, aber wir haben das Vertrauen in ihn verloren, wir hören nicht mehr auf ihn. Ich habe einige Bücher geschrieben und die Frauen kommen zu mir und sagen: Das habe ich doch schon immer gewusst! Also, wir wissen, was uns gut tut. Würden wir mehr auf unsere Körper hören, anstatt ihnen was vorzuschreiben, hätten wir eine ganz andere Ausstrahlung. Männer und Frauen – und während wir Sex haben."
Die Erstausstrahlung des Features von Anke Schaefer war am 5. Dezember 2019.

Autorin und Sprecherin: Antje Schaefer
Regie: Cordula Dickmeis
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Kim Kindermann

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