Weibliche Vorbilder gesucht

Von Sandra Petersmann |
Viel ist in diesen Tagen von misshandelten und missachteten Frauen Indiens die Rede. Aber Indien hat auch Frauen, die berühmt sind im Land, weil sie ihren Ruf riskieren und manchmal auch ihr Leben. Kiran Bedi gehört dazu. Sie machte als erste Inderin Karriere bei der Polizei und ist heute Sozialaktivistin, die sich nach wie vor einmischt.
Kiran Bedi ist klein, durchtrainiert und hat einen modischen Kurzhaarschnitt. Der preisgekrönten Dokumentarfilm "Yes, Madam, Sir!" zeichnet ihre frühe Lebensgeschichte nach. Der Film-Name ist Programm: Kiran Bedi hat eine indische Männerdomäne erobert.

1972 trat sie als erste Frau in den Polizeidienst ein. Und ihr Aufstieg durch die Ränge war so rasant, dass die Vereinten Nationen sie zur Beraterin für internationale Polizeimissionen machten. Heute ist Kiran Bedi 63 Jahre alt, aus dem Dienst geschieden und Sozialaktivistin. Ohne ihre Eltern wäre ihr Leben komplett anders verlaufen.

Kiran Bedi: "Meine Eltern waren Visionäre. Frauen sind in Indien traditionell immer nur das Zweite Geschlecht gewesen, das ist eine Tatsache. Aber meine Eltern waren eine Insel des Widerstands."

Kiran und ihre drei Schwestern sind hochgebildet. Indiens erste Polizistin hat einen Doktortitel in Sozialwissenschaften. Eine Schwester ist Künstlerin, die andere Psychologin, die dritte Anwältin.

Kiran Bedi: "Unsere Gebete während der Schwangerschaft enden üblicherweise mit dem Satz: ich wünsche Dir einen gesunden Sohn. Da fängt es schon an!

Da müssen wir unsere Priester herausfordern und ihnen sagen: wünsch mir ein gesundes Kind! Wann immer Tradition unsere Gleichheit in Frage stellt, müssen wir sie herausfordern."

Kiran Bedi weiß, dass Indiens Frauen noch einen sehr langen Weg vor sich haben. Nach Angaben der indischen Regierung können nur knapp über 50 Prozent lesen und schreiben, während es bei den Männern über 75 Prozent sind.

Viele Frauen wachsen in dem Glauben auf, dass Männer über sie bestimmen dürfen. Viele Männer wachsen in dem Glauben auf, dass sie mehr Rechte haben.

Kiran Bedi: "Wenn Männer eine Frau vergewaltigen, sie schlagen und missbrauchen, dann spiegelt das auch immer ihr Frauenbild wider: dass sie Frauen für schwach halten und dass der Frauenkörper für ihr Vergnügen da ist."

Doch von einem Krieg der Geschlechter will Kiran Bedi nichts wissen. Sie ist seit über 40 Jahren verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Die ehemalige Polizei-Offizierin hält den indischen Staat für abgehoben und korrupt. Aber sie hält nichts davon, nur Regierung, Polizei und Justiz für die überproportional hohe Quote von Gewaltverbrechen gegen Frauen verantwortlich zu machen.

Kiran Bedis Formel für eine bessere Gesellschaft besteht aus sechs P’s: gemeint sind das Volk, die Eltern, die Politik, die Strafverfolgungsbehörden, die Gefängnisse und die Presse. In Englisch fangen alle sechs Begriffe mit P an - deswegen 6-P-Formel.

Kiran Bedi: "Unsere Strategie muss ganzheitlich sein und das Volk steht natürlich an erster Stelle. Die Lehrer, Eltern, Nachbarn, religiöse oder soziale Persönlichkeiten. Und wenn nur eins der insgesamt sechs P’s aus der Formel verschwindet, werden wir als Gesellschaft viel weniger erfolgreich sein im Kampf gegen Kriminalität und Gewalt gegen Frauen. Wir dürfen nicht nur über unsere Rechte diskutieren, sondern wir müssen uns alle unserer gemeinsamen Verantwortung stellen."

Als Gefängnisdirektorin hat sie Yoga-Kurse und Bildungsprogramme für Straftäter eingeführt, um bessere Menschen aus ihnen zu machen. Doch in einem Punkt ist Kiran Bedi Hardlinerin durch und durch. Sie befürwortet die Todesstrafe. Und sie befürwortet die Herabsetzung der juristischen Volljährigkeit von 18 auf 16 Jahre.