Wegweiser durch ein Mobile

Von Martina Seeber |
"Wie soll man denn ein neues Stück lernen, wenn man keine Partitur hat", beunruhigte sich das LaSalle Quartett 1964 vor der Uraufführung des Streichquartetts in Stockholm. Das dicke Paket, das die vier Musiker per Post aus Polen erhalten hatten, enthielt lediglich Einzelstimmen. Was fehlte, war ein detaillierter Koordinationsplan, die Grundvoraussetzung für das genaue <em>Timing</em> – eine der Kernkompetenzen eines jeden perfekt aufeinander eingespielten Streichquartetts.
Die anschließende Korrespondenz zwischen Komponist und Interpreten zeugt von einem zähen Ringen um die Anfertigung einer Partitur. Am Ende geht Witold Lutosławski einen Kompromiss ein. Seine Frau collagiert in seinem Auftrag ein "Path Book", einen groben Wegweiser durch den musikalischen Ablauf. Zugleich beharrt er auf der Idee des losen Stimmverbunds.

"Sie mögen fragen", schreibt er dem Primarius Walter Levin, "warum ich solch großen Wert auf die Nicht-Existenz einer Partitur zu meinem Stück lege. Die Antwort ist ganz einfach: Wenn ich eine normale Partitur schreiben würde, die Stimmen mechanisch übereinander platziert, wäre das falsch, irreführend. Es würde ein anderes Stück darstellen. Es würde suggerieren, dass Noten, die übereinander stehen, immer im gleichen Moment zu spielen seien. Das ist aber entgegen meiner Absicht. Es würde den einzelnen Spieler verhindern, frei zu sein in der Ausführung von Rubato, Ritardando, Accelerando, von Pausen, vor allem aber seines Tempos. Das aber würde das Stück seines Mobile-Charakters berauben, also seiner wichtigsten Eigenschaft."

Tatsächlich sind die vier Stimmen – wie die Elemente eines Mobiles – nur an wenigen Stellen fest aneinander gebunden. Die übrige Zeit baumeln sie wie an Fäden, exakt ausbalanciert, aber frei, sich im ersten Luftzug gegeneinander zu verschieben.

Im ersten Satz sind diese Gelenkstellen durch zuckende Oktavwiederholungen deutlich markiert. Dazwischen gehen die Stimmen immer neue Konstellationen ein. Es entsteht ein Fluss, der durch einfache verbale Anweisungen in Bahnen gelenkt wird: "wiederhole bis zum Einsatz der Violine 1, dann sofort aufhören", notiert der Komponist in die Partitur, oder "am Schluss entscheidet die 2. Violine, wann der nächste Abschnitt beginnen soll".

Aus diesem freien Zusammenspiel entstehen Felder aus Seufzerfiguren, fein perforierte Flächen oder verknäulte Liniengeflechte. Klangschwärme steigen auf, kollidieren und verschmelzen. Ein strenger Kontrapunkt, wo "Note gegen Note" in unverrückbare Konstellationen gesetzt wird, hätte eine solche Flexibilität und zugleich Klarheit nur schwer hervorbringen können.

Es geht hier weniger darum, dass der gelenkte Zufall dem Quartett mit jeder neuen Aufführung eine neue Physiognomie verleiht. Vielmehr prägt der Zufall jeden einzelnen Augenblick der gegenwärtigen Aufführung. Die winzigen Verschiebungen der Stimmen, ihre Temposchwankungen oder die Veränderungen der Lautstärke sorgen für Lebendigkeit und rhythmische Finessen. Die Felder aus schlichten Materialbausteinen bewegen sich nach ähnlichen Gesetzen wie Wasserströme oder Dampfwolken.

Auf diesen, für Lutosławski fortan bestimmenden Weg hatte ihn weniger Jahre zuvor ein Radioerlebnis gebracht. Die Freiheit der Klänge in John Cages Concerto for piano and orchestra erschloss ihm "im Bruchteil einer Sekunde" neue Welten. Nur war der Pole im Gegensatz zu seinem kalifornischen Kollegen kein Anarchist. Auch stochastische Berechnungen interessierten ihn kaum. Der Mitbegründer des "Warschauer Herbstes", der sich im Zweiten Weltkrieg als Kaffeehauspianist durchgeschlagen hatte, lässt den Zufall nicht als Alleinherrscher walten – er gewinnt ihn als Verbündeten. Die Freiheit der Interpreten führt in der "begrenzten Aleatorik" zu – im Gesamtbild –vorhersehbaren Strukturen und Charakteren.

Das Quartett besteht aus einem kürzeren ersten und einem ausgedehnten zweiten Satz. Im ersten verweilt Lutosławski nicht lange bei einer Idee. Mit abrupten und raschen Wechseln von einer Elementgruppe zur nächsten bereitet sein Introductory Movement die Freiheit und die Weite des Main Movement vor. Dort erst breiten sich die Figuren, Motive und Gesten des ersten Satzes aus und verdichten sich. Lutosławski spannt große dramaturgische Bögen bis hin zu einer Krise, die er als Appassionato in der Partitur vermerkt, gefolgt von einem Choral – der Komponist kommentiert ihn mit den Spielanweisungen "ersterbend" und "gleichmütig, – und von den klagenden Seufzern des Funebre. Der Rest ist Auflösung, aufgewirbelter Staub, der sich nach und nach in alle Winde zerstreut.