Wege zur Wirklichkeit

Ein Theaterkollektiv wurde 2007 mit Preisen überschüttet. "Rimini Protokoll" - das sind die drei Theatermacher Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel - gewann erst die Mülheimer Dramatikertage. Was sehr umstritten war, weil hier die Frage berührt wurde, was eigentlich ein Theaterstück ist. Und dann bekamen die drei noch bei der Verleihung des Deutschen Theaterpreises "Faust" eine Sonderauszeichnung.
Fast alle großen Häuser stehen ihnen offen, die neue Produktion "Breaking News – ein Tagesschauspiel", die am 5. Januar Uraufführung hat, ist eine Zusammenarbeit von Hebbel am Ufer Berlin, den Wiener Festwochen und den Schauspielhäusern in Düsseldorf, Frankfurt und Hannover.

Rimini Protokoll hat einen Trend mit gesetzt, der gerade die deutschen Bühnen bestimmt, die Suche nach neuen Formen des Dokumentarischen. Anlass ist die Erkenntnis vieler Theatermacher, dass es nicht mehr reicht, sich inhaltlich um sich selbst zu drehen und der Welt mit Ironie und Zynismus zu begegnen. Das Stadttheater der Zukunft muss ein Forum der Demokratie sein, ein Ort der Begegnung und Diskussion, an dem die zentralen gesellschaftlichen Fragen verhandelt werden. Andererseits ist das alte, engagierte Dokumentartheater überholt. Kaum einer interessiert sich mehr für die unspielbaren Textungetüme Rolf Hochhuths oder satirische Stücke, in denen man gleich weiß wer gut und wer böse ist. Die Welt ist komplexer geworden, die Klischees von Links und Rechts sind überholt.

Rimini Protokoll arbeitet ohne Schauspieler. Die Theatermacher bringen Laien auf die Bühne, die sie "Experten des Alltags" nennen. Das können Bonner Bürger sein, die live und direkt eine Bundestagsdebatte nachsprechen. Oder Menschen aus ganz verschiedenen Berufsgruppen, die alle etwas mit dem "Kapital" von Karl Marx zu tun haben. Oder – wie in der neuesten Produktion – Leute, die mit der Produktion von Nachrichten beruflich beschäftigt sind. Mit diesen "Experten" stellt Rimini Protokoll allerdings nicht Realität nach, sondern entwirft eine neue Bühnensituation. Die Mitwirkenden erzählen und spielen, Dialoge entwickeln sich, Geschichten überlagern und verändern sich. So entstehen kunstvolle Theaterabende aus der direkten Konfrontation mit Biographien, Erinnerungen, Meinungen.

Diese Arbeiten öffneten die Türen für manche Kollektive, die im Off-Theater ähnlich arbeiten, wie zum Beispiel "Hoffmann und Lindholm" aus Köln. Aber auch die Stadttheater öffnen sich für ähnliche Formen. Zum Teil in Jugend- oder Altenprojekten, mit denen sich zum Beispiel Nuran Calis einen Namen gemacht hat. Aber auch in der Arbeit mit Behinderten. Barbara Wachendorff zum Beispiel hat in "Ich muss gucken, ob ich noch da bin" am Schlosstheater Moers Demenzkranke auf die Bühne gebracht. Und es entstand ein berührender, witziger, schwebender Abend fernab von jeder Peinlichkeit. Geführt von drei Schauspielern zogen die dementen Menschen das Publikum ganz in ihre Welt der erfüllten Augenblicke ohne Vergangenheit und Zukunft hinein.

Überhaupt ist das kleine Schlosstheater Moers ein Vorreiter, wenn es darum geht, sich sozialer Realität zu stellen. Hier stellen Intendant Ulrich Greb und sein Team ganze Spielpläne unter inhaltliche Themen wie "Demenz" oder in dieser Saison "Armut". Dabei arbeiten sie nicht nur mit Laien, auch die Schauspieler entwickeln Stücke auf der Basis von Interviews und Recherchen. Das Stück "Mitesser" von Ulrich Greb beruht zum Beispiel auf Gesprächen mit Mitgliedern der "Moerser Tafel" und der ARGE, der Arbeitsagentur. Greb versteht sein Konzept als ein "Stadttheater neuen Typs", das sich direkt mit den Verhältnissen vor Ort auseinander setzt und auch Spielorte in der Stadt sucht. In diesen Zusammenhang stellt er dann auch Klassiker wie "Woyzeck" oder Kaurismäkis "I hired a contract killer" als Reflexionen des Hauptthemas, was Armut aus Menschen macht.

Ein Spielplanhit der letzten Jahre ist "Der Kick" von Andres Veiel und Gesine Schmidt über einen Mord unter rechtsradikalen Jugendlichen in der ostdeutschen Provinz. Die Uraufführung am Berliner Gorki-Theater hat mehr oder weniger die Ästhetik der meisten Inszenierungen vorgegeben: dunkel, ruhig, textkonzentriert. Die Schauspieler wechseln die Rollen, aber ohne ausgestellte Virtuosität, durch kleine Änderungen der Sprech- und Körperhaltungen machen sie deutlich, wer gerade spricht. Durch die geschickte Montage von Wirklichkeitssplittern entsteht das Bild einer hoffnungslosen, abgestumpften Dorfwelt. Da geht es um weit mehr als um Rechtsradikalismus, sondern um die Bedingungen, unter denen Gewalt entsteht.

"Theater der sozialen Aufmerksamkeit" hat die Fachzeitschrift "Die Deutsche Bühne" eine Themenausgabe genannt. Das Theater präsentiert sich als Medium, um kulturferne Jugendliche aus "problematischen Stadtteilen" ihre Träume und Ängste erzählen zu lassen und ihnen eine Ahnung von Respekt zu vermitteln. Das sind nicht nur pädagogische Projekte, oft werden sie mit großem Kunstanspruch durchgeführt. Die Möglichkeit des Scheiterns ist natürlich immer gegeben, weil man hier nicht mit Profis arbeitet. Doch über die gesellschaftliche Relevanz des Theaters muss an diesen Abenden nicht diskutiert werden. Sie ist offensichtlich.