Wege aus der Moralismus-Falle

Kritik mit Fingerspitzengefühl

42:36 Minuten
Teilnehmer der Veganer-Demonstration tragen am Hinterkopf Tiermasken.
Berechtigte Kritik oder Rechthaberei? Wenn Menschen sich für moralisch bewusstes Handeln engagieren, wie hier auf einer Demonstration für vegane Lebensführung, macht der Ton die Musik. © imago/ Steinach
Christian Seidel im Gespräch mit Stephanie Rohde |
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Moralische Kritik endet leicht im Streit. Schnell heiße es, wer „moralisiere“, wolle bloß selbst besser dastehen, beobachtet der Philosoph Christian Seidel. Um andere zum guten Handeln zu bewegen, brauche es deshalb weit mehr als klare Prinzipien.
Der Flug in den Urlaub, das Steak auf dem Teller – an persönlichen Entscheidungen entzünden sich schnell moralische Debatten. Ist es in Ordnung, das Flugzeug zu nehmen, angesichts der weltweiten Klimaerwärmung? Ist es gerechtfertigt, Fleisch zu essen, wenn man sich damit nicht nur über das Lebensrecht von Tieren hinwegsetzt, sondern auch zahlreiche Missstände befördert, die eine industrielle Fleischproduktion mit sich bringt – von Umweltzerstörung bis zu entwürdigenden Arbeitsbedingungen?

Moralapostel oder engagiert für eine gute Sache?

Wer in solchen Fragen moralisch begründete Kritik äußert, sieht sich im Gegenzug oft dem Vorwurf des "Moralismus" ausgesetzt. Er oder sie würde sich zum Moralapostel aufschwingen, heißt es dann, und andere an den Pranger stellen, sie in einer selbstgerechten und übergriffigen Art und Weise belehren und zu Unpersonen erklären.
Umgekehrt beklagen Menschen, die sich für moralische Anliegen engagieren, sie würden mit der Behauptung mundtot gemacht, dass es sich bei ihrer Kritik um ein völlig überzogenes "Moralisieren" handle. Auf diese Weise werde jede Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema schon im Vorfeld abgeblockt.
Tatsächlich gebe es im öffentlichen Diskurs immer wieder Versuche, politische Bewegungen durch den Vorwurf des Moralismus zu diskreditieren, beobachtet Christian Seidel, Professor für Philosophische Anthropologie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Das hätten etwa Gegenreaktionen auf die MeToo- und die Black-Lives-Matter-Bewegung vor Augen geführt. Aber auch konservative Aktivistinnen und Aktivisten, etwa diejenigen, die in den USA im Namen des "Lebensschutzes" gegen ein liberales Abtreibungsrecht zu Felde zögen, müssten sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie würden unangemessen moralisieren.

Prinzipienreiterei und moralische Nabelschau

Eine klare Grenze zu ziehen zwischen berechtigter Kritik und Anmaßung, zwischen Moral und Moralismus, sei dabei gar nicht möglich, ohne jeden einzelnen Fall für sich zu betrachten, sagt Seidel. Das liege schon daran, dass Moralismus an sich ein unscharfer, sehr weit gefasster Begriff sei, der auf viele unterschiedliche Haltungen und Verhaltensweisen angewendet werde.
Einerseits zeige er sich in Gestalt von Prinzipienreiterei oder Rigorismus, indem jemand so strikt auf seinen Grundsätzen beharre, dass er eine Sachlage im Zweifelsfall grob vereinfache und viele Aspekte, die seinen Ansichten widersprechen würden, einfach ignoriere. Daneben gebe es aber auch verschiedene Formen des moralischen Fehlurteils, so Seidel: Sie reichten von Heuchelei bis zu einer Form von "moralischer Nabelschau", die nur noch dem Zweck diene, "sich selbst zu überhöhen".
Porträt des Philosophie Professors Christian Seidel, 2018.
Der Philosoph Christian Seidel© Manuel Balzer/Karlsruher Institut für Technologie/Institut für Philosophie
Erleben wir derzeit wirklich eine Zunahme des Moralismus, wie es vielfach behauptet wird? Letztlich sei dies nur durch empirische Forschung zu beantworten, sagt Seidel. Er sehe jedoch drei Treiber, die einen Trend zum Moralisieren verstärken könnten. Einerseits führe der stetig verbesserte Zugang zu Informationen dazu, dass wir die Tragweite unseres Handelns, zum Beispiel beim Kauf von Lebensmitteln und Konsumgütern, immer besser überschauen.
"Damit wird uns auch zunehmend bewusst, welche moralischen Konsequenzen unser Handeln hat", so Seidel.

Online-Kommunikation als "Moralismus-Katalysator"

Zweitens übernehmen moralische Überzeugungen nach Seidels Einschätzung für immer mehr Menschen eine identitätsstiftende Funktion, die früher vor allem Religionen innehatten. Sie würden deshalb auch verstärkt öffentlich zur Schau getragen. Als einen weiteren "Moralismus-Katalysator" macht Seidel die Online-Kommunikation in den sozialen Medien aus. Ihre Rahmenbedingungen, etwa die Tendenz, sich auf sehr kurze Kommentare zu beschränken, erschwerten es, "die Nuancen eines differenzierten moralischen Urteils abzubilden".
Gelegentlich wird gegen angeblichen Moralismus das Argument ins Feld geführt, in bestimmten Lebensbereichen seien moralische Werturteile grundsätzlich fehl am Platz. Diese Vorstellung weist Christian Seidel jedoch entschieden zurück.
Dass etwa die Wirtschaft, die Politik oder die Kunst als außermoralische Freiräume zu verstehen seien, in denen es nur um Geld, allein um Macht oder ausschließlich um ästhetische Belange ginge, hält Seiler für abwegig:
Schließlich sei es für jede Handlung möglich, zu fragen, ob sie moralisch geboten sei oder nicht. Welches Gewicht moralischen Prinzipien in dem jeweiligen Umfeld zukomme, "und ob sie nicht auch durch andere Anliegen berechtigterweise ausgestochen werden können", sei allerdings eine Frage der Abwägung.

Kritik mit Respekt und Augenmaß

Seidel plädiert im Umgang mit moralischer Kritik insgesamt für Vorsicht und Fingerspitzengefühl. Zwar habe diese Kritik die wichtige gesellschaftliche Funktion, gemeinsame Werte zu stärken und Missstände anzufechten – sei es durch öffentliche Debatten, in der Kindererziehung oder auch unter Freunden, wo es durchaus geboten sein könne, einander auf moralisch fragwürdiges Verhalten anzusprechen.
Damit moralische Kritik aber ihre eigenen Ziele nicht konterkariere, indem sie psychologische Abwehrreflexe hervorrufe, sei es wichtig, dabei mit Respekt und Augenmaß vorzugehen:
"Wenn man dem Brautpaar mit dem Hinweis darauf, dass das Hochzeitsmahl nicht vegan war, die Erinnerung an ihren schönsten Tag verdirbt, dann scheint mir das dem Anliegen, was man damit erreichen will, gar nicht zu dienen."

Kant und Nietzsche über den Stellenwert der Moral

In dieser Haltung sieht Seidel sich auch durch einen Blick in die Geschichte der Philosophie bestätigt. So habe etwa Immanuel Kant, der oft etwas zugespitzt als rigoroser Moralapostel beschrieben werde, tatsächlich dazu aufgerufen, besonders strenge Maßstäbe an das eigene Verhalten anzulegen und andere nicht mit moralischen Ansprüchen zu bedrängen oder sie bloßzustellen.
Und Friedrich Nietzsche – häufig dargestellt als Kants Antipode und freigeistiger Antimoralist – habe sich vor allem dafür ausgesprochen, die Moral ins Verhältnis zu anderen Ansprüchen zu setzen, die zu einem geglückten Leben gehören. Damit gebe er nach wie vor einen wichtigen Denkanstoß, sagt Seidel:
"Welchen Stellenwert sollte die Moral in einem guten Leben haben? Und sind Menschen, die der Moral einen besonders hohen Stellenwert einräumen, wirklich die, die ein glückliches, gelungenes Leben führen? Das ist, glaube ich, tatsächlich eine offene Frage."
(fka)

Christian Neuhäuser und Christian Seidel (Hg.): "Kritik des Moralismus"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
490 Seiten, 28 Euro

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