Wege aus dem Abseits

Von Karl Lotz |
Trainer Dieter Hollnagel aus Cramonshagen bei Schwerin führte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Obdachlosen zur WM 2006 nach Südafrika. In diesem Jahr soll es nun zur WM nach Kopenhagen gehen. Wieder stellt der Mecklenburger die neue Mannschaft zusammen. Auf dem Weg dorthin müssen noch einige Hürden genommen werden.
Ein Fritz-Walter-Wetter. Feiner Nieselregen benetzt den gut gepflegten Stadionrasen in Gifhorn. Im Ort steigt für einige Tage die Zahl der registrierten Obdachlosen rasant an, aber auch die der fußballbegeisterten Kicker. Trainingslager also im niedersächsischen Gifhorn. Nach der deutschen Meisterschaft im Straßenfußball in Stuttgart ist es die zweite Station für zwölf Fußballer. Fitness für zwölf Obdachlose. Und ein Dach über dem Kopf. Sie kommen aus allen Ecken der Republik, Trainer Dieter Hollnagel aus Schwerin.

"So, wenn ich pfeife, dann musst du nicht noch hauen. So, lauf, hol den Ball. So, kommt ran, Jungs. Züli, das gilt für dich auch. Wenn ich gepfiffen habe, dann kommt ran und haut nicht die Bälle durch die Gegend, denn die brauchen wir ja. So, wir machen folgendes, wir machen uns 20 Minuten warm und dann wollen wir noch eine Belastungseinheit machen. Zwölf Minuten den Coopertest. So wie jeder kann. Ich will einfach sehen, wer ist wie drauf."

"Ich lehne den Fußball, wo Millionen hin und her gehen, den lehne ich ab. Aber den Volkssport Fußball, den liebe ich. Neulich habe ich ein Buch gekauft, das lag im Angebot für zwei Euro von der Fußballweltmeisterschaft 1954. Das ist der Fußball, den ich liebe. Freunde müsst ihr sein. Das ist antiquiert und jeder lacht mich dafür aus. Weiß ich. Ich bin nun mal so. Ich bin so erzogen wurden. Freunde müsst ihr sein, um Siege zu erringen."

Hollnagel ist für die jungen Leute da. Und schaut man den jungen Straßenfußballern ins Gesicht, in dem so manche Niederlage in ihrem Leben eingezeichnet ist, so meint man, Gesichter aus dem Fritz- Walter-Buch von 1954 zu sehen: Fußball ist ihr ganzes Leben. Die vom Bundesverband Sozialer Straßenzeitungen organisierten Meisterschaften sollen helfen, den Verlierern in unserer Gesellschaft eine Möglichkeit zu schaffen, ins "normale" Leben zurückzugelangen. Zum Beispiel für Martin, der als einziger Tormann nominiert ist:

"Ich denke, ich habe meinen Platz sicher. Klar, ich muss mich anstrengen, der Trainer weiß, was ich kann, er hat es gesehen in Stuttgart, und ich denke mal, er hat Vertrauen. Für mich ist es noch mal eine Herausforderug nach meiner verkorksten Jugend und ich habe eine Chance, das nachzuholen, was ich verpasst habe."

Torsten ist die 300 Kilometer nach Gifhorn mit dem Fahrrad aus Hamburg angereist:

"Der eigentliche Grund, warum ich in die Obdachlosigkeit geraten bin, mich darin bewege, ist der, dass ich spielsüchtig bin. Dass ich das zwar im Kopf begreife, dass ich da auf Dauer keine Chance habe, dass man nicht wirklich gewinnen kann und trotzdem immer das Verlangen habe, die Emotionen, die beim Spiel entstehen, immer zu wiederholen. Obdachlos, ohne Wohnung, ohne Konto, ohne Versicherung - und bin trotzdem ein lebensfroher Mensch."

Arthur kommt aus Polen und lebt ebenfalls in Hamburg:

"Jetzt ich lebe in Hamburg. Ich Zeitung verkaufen, die Sozialzeitung, die Straßenmagazin. Ich wohne bei meine Bekannte manchmal in Garage oder was, manchmal ich suche kleines Zimmer, wenn Winter. Die paar Monate auf Straße, ich hab gelebt im Park oder Bank ich hab gelebt, das war hart. Früher ich war ein ganz anderer Mensch. Ich hatte Respekt, gute Job. Und ich komm nach Deutschland, ich war ganz tief. Ich hatte gar nichts, kein Geld, nur fünf Euro in Tasche, war total hart, war Winter. Ich komme hier minus fünf, minus zehn draußen."

Züllimann ist in der Türkei geboren und hat schon in einem polnischen Gefängnis Erfahrungen gesammelt:

"Das war Vergangenheit. Ich hab viel Mist gemacht mit falschen Leuten, Einbrüche und so. Ja, ich saß auch mal drin. In Neumünster saß ich, und einmal in Polen saß ich. In Stettin. Das war 2002. Da saß ich einen Monat in Stettin, das war wie ein halbes Jahr. Polenknast ist sehr hart. Stettin ist das schlimmste Gefängnis gewesen. Das war schon hart."

Mark hat es schon als Kind nach Holland verschlagen:

"Mein Vater hat uns sehr früh verlassen, mit drei Jahren, habe meinen Vater erst mit zwölf wieder kennengelernt. Der war leider in einem Drogenmilieu in Amsterdam. In Holland, da waren natürlich Geschichten bei, die man als Kind nicht so verträgt. Und als Straßenkind zwei Jahre auf der Straße alleine gelebt. Da war ich zwölf. Mit 13 auch die Freundin von meinem Vater tot aufgefunden, die an einer Überdosis Heroin gestorben ist. Und das war natürlich ein hartes Brot. Der war dann sechs Jahre im Gefängnis."

Hollnagel: "Gut, Jungs, eine Minute noch. Stellt euch mal auf. Wenn die zwöl Minuten rum sind, gebe ich ein Zeichen und dann bleibt ihr da stehen. Mir geht es darum, ihr habt gestern und heute trainiert, das ist für euch eine hohe Belastung, und die ist ja auch noch nicht zu Ende. Und da will ich erst mal sehen, wer beißen kann. Wer sagt, ich will unbedingt den Platz. Ich will hier kämpfen."
"Ich bin aus armen, kleinen Verhältnissen gekommen mit meiner Mutter, mein Vater ist im Krieg geblieben, aufgewachsen in einer Kellerwohnung und hatte im Prinzip die gleichen Läuschen im Kopf wie die Jungs und wäre in dieser Gesellschaft gescheitert. Hatte aber, ohne ein Loblied auf die DDR zu singen, die Gelegenheit, habe in der DDR gelebt, du weißt ja, wie das lief, da wurdest du ein bisschen eingespurt."

Einmal "eingespurt", begann Hollnagel, der jetzt als Trainer das Sagen hat, eine Schlosserlehre mit 14. Nach der Lehre wollte er in den Westen abhauen, nach Kanada. Wollte Holzfäller werden, schnelles Geld verdienen, aber dann kam die Grenze und statt in Kanada war er Grenzsoldat. Hollnagel riss die Armeezeit ab, wurde Schlossermeister. Um den gestiegenen Ansprüchen in der Berufsausbildung zu genügen, machte er ein Abendstudium als Ingenieur und absolvierte bis 1989 ein Studium als Ingenieurpädagoge. So weit, so gut. Und dann kam die Wende, der Betrieb ging Pleite und er wollte nicht mehr weitermachen. Mit Hilfe des Diakonischen Werkes und der Kirche baute Hollnagel den Verein "Start e.V." auf. Eine Rundreise durch Bayern brachte das nötige Wissen.

"Da haben wir innerhalb von einer Woche fünf, sechs Städte angefahren und haben solche Projekte besichtigt. Das war eine meiner größten Bildungsreisen.´93, da wurde man noch zum Essen eingeladen. Beim gemeinsamen Essen konnte ich fragen: So, das ist offiziell, aber wie geht das inoffiziell? Da kriegte ich einfach mit, dass der Arbeitsamtsdirektor in Bayern und der Kollege, der die Firma leitet, gemeinsam im Kirchenchor singen. Wir nannten das, wir hatten in Schwerin einen runden Tisch der Geschäftsführer, wir nannten das 'Antragslyrik’, das war dann das gleiche wie zu DDR-Zeiten."

"Mir geht es bei solchen Leistungen auch darum: Wir fahren zur Weltmeisterschaft und das möchte ich euch auch irgendwo nicht schenken. Und da bin ich etwas enttäuscht, dass da soviel aufgegeben haben. Bei aller Liebe, von zehn geben vier auf, das ist eine schwache Leistung. Ich muss überlegen, wen nehm ich mit. Wir kommen in Situationen, wo wir bis zum Äußersten, bis zur Grenze gehen müssen."

Und sie gehen schon hier bis an ihre Grenze. Züllimann, der Star der Mannschaft, der immer perfekt sein will, spürt, dass er die Leistungen in Kopenhagen nicht bringen wird. Er ist ehrlich und steigt aus, um einem anderen nicht den Platz wegzunehmen. Seine Leisten wurden letztes Jahr operiert und die schmerzen noch stark. Murat hat sich die Wirbelsäule verrenkt und muss zum Arzt. Es ist fraglich, ob er dabei sein kann.

Am Abend wird das Training ausgewertet, an der Tafel Strategie und Taktik erklärt. Dann schauen sie sich die Spiele der letzten Weltmeisterschaft in Südafrika an. Und nach Mitternacht kommen einige in ihren Zimmern immer noch nicht zur Ruhe.

Hollnagel: " Mark, Mario! Ich würde ganz gerne was zu den Schlafenszeiten sagen. Ich habe das gestern offen gelassen, aber da war Gebrubbel bis um Zwölf und noch länger. Wir sind ja hier im Trainingslager und wir sind nachher auch unter Wettkampfbedingungen und da denke ich, da braucht man Regeln. Die wollte ich nicht festlegen, wir sind ja unter Erwachsenen. Ihr seid erwachsene Männer, ihr geht um zehn ins Bett, das ist albern. Aber ich denke, wir sollten uns für eine Zeit entscheiden, wo wirklich denn Ruhe ist im Haus. Wir sind hier nicht im Kinderferienlager, und da möchte ich dies hier nur einmal sagen und dann muss Schluss sein. Ja, jeder muss wissen, weswegen wir hier sind. Ja, es soll Spaß sein, ihr solltet euch kennen lernen, aber irgendwo muss Schluss sein. Nicht, dass eine Truppe denkt, wir machen mal bis halb eins durch. Ich denke mal, endgültige Ruhe sollte sein um halb zwölf. Totale Ruhe. Dass wir das als Gesetz annehmen. Ist das OK? Halb Zwölf ? Ja."

Arthur:"Trainer ist wichtig, wenn Trainer sagt nein, dann OK nein. Ich glaube, ich schaffe das. Das kostet viel Kraft. Ich bin stark und ich muss sein in deutsche Mannschaft."

Torsten: "Habe mich mit der Situation so gut es geht arrangiert und lehne es ab, von einem Staat zu leben und zu sagen, ich bettele oder ich begebe mich in die Armutsverwaltung dieses Staates, weil ich sage: Auf der einen Seite man einen Druck ausüben will auf die Leute, die Arbeit suchen, gleichzeitig aber die Angebote nicht machen kann, so dass die Unterstellung, jemand würde das Sozialsystem per se ausnutzen wollen, immer für mich einen sehr erniedrigenden Fakt darstellt. Und dem will ich mich gar nicht erst aussetzen. Und ich habe mich so arrangiert, dass ich im Grunde zwar auch sozial darum bitte, dass man mich unterstützt, aber das auf eine Art und Weise passiert, die meine Selbsterachtung nicht beschädigt."

Einen Tag nach Ende der Aufnahmen und der Abreise aus dem Trainingslager in Gifhorn ruft Trainer Hollnagel aus dem Trainingslager an. Er berichtet:

"Mario, der in Gifhorn lebt, hat einen kleinen Nebenverdienst, er legt in einer Disko Platten auf. Er bekam für einen Abend die Erlaubnis, in der Disko zu arbeiten, weil er das Geld braucht."

Eine gewisse Gruppendynamik führte dazu, dass alle - außer Torsten, Kevin und David - Mario in der Disko besuchten. Dort seien sie versackt und waren erst halb vier im Quartier. Weil sie die Vereinbarung, die sie mit ihrem Trainer, nämlich spätestens ab halb zwölf totale Ruhe einzuhalten, gebrochen hatten, hat Hollnagel am nächsten Morgen ohne zu diskutieren Zülliman, Arthur, Mark und Benjamin ausgeschlossen. Nominiert für die Nationalmannschaft sind Kevin und David, die sich immer still in ihr Zimmer zurückgezogen hatten, Torsten und Murat sowie Mario, der, weil er ein paar Cent verdienen musste, das kleine Drama ausgelöst hatte.

Im nächsten, im letzten Trainingslager in Kiel wird Dieter Hollnagel die weiteren Spieler für die deutsche Obdachlosen-Fußball-Nationalmannschaft beim Homeless Word Cup 2007 in Kopenhagen finden müssen.