Wegbereiter der Philosophie des Geistes

Von Hans-Martin Lohmann |
Für Jahrzehnte lag der Schatten Martin Heideggers über Leben und Werk Edmund Husserls. Erst in jüngerer Zeit stellte sich heraus, dass der heute vor 150 Jahren geborene Begründer der Phänomenologie als Wegbereiter der Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes in einem spezifischen Sinne moderner ist als sein Meisterschüler.
Lange Zeit galt, dass, wer Husserl sage, eigentlich Heidegger meine. Vergeblich versuchte der am 8. April 1859 in Proßnitz in Mähren, heute Tschechien, geborene Edmund Husserl, diesem Missverständnis zu begegnen, indem er auf seine singuläre Lebensleistung als Philosoph hinwies. Er habe, schrieb er als alter Mann, die Phänomenologie zu einer Präzision gebracht,

"die der Philosophie für alle Zukunft den echten Sinn und die notwendigen Wege vorzeichnet."

Nun aber sei eine neue Generation aufgetreten, die - und damit war hauptsächlich Heidegger gemeint - seine Schriften gründlich missverstehe,

"eine vermeintlich verbesserte Phänomenologie propagiert und mich als alten Papa verehrt, der nunmehr überholt sei."

Husserls Verbitterung ist verständlich. Heidegger, sein Schüler und Nachfolger auf seinem Freiburger Lehrstuhl, legte 1927 mit "Sein und Zeit" ein Werk vor, in dem er zwar vorgab, auf Husserls Spuren zu wandeln, in Wahrheit aber ganz eigene Wege einschlug. Das Verhältnis blieb bis zu Husserls Tod 1938 gestört, nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass Husserl Jude war und damit Opfer nationalsozialistischer Repressionen wurde, während sich Heidegger auf das neue Regime einließ.

Zwar gilt Edmund Husserl heute als einer der größten und einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, aber zugleich als einer, dessen riesiges Oeuvre von fast einzigartiger Unlesbarkeit ist - die Sprache ist trocken, hölzern, leidenschaftslos, inspiriert allein vom Pathos des Sachlichen und Nüchternen. Ebenso ermüdend müssen seine Seminare gewesen sein. Hans-Georg Gadamer, einer seiner bedeutendsten Schüler, erinnert sich, wie Husserl nach einer Übung bemerkte:

"Heute war es doch wirklich einmal eine anregende Diskussion."

Tatsächlich hatte der Philosoph nach der ersten Frage eines Studenten eine volle Stunde lang monologisiert.

Husserls Denken markiert einen radikalen Neubeginn: Es wendet sich gegen die Verkürzung der Philosophie als "Weltanschauung", aber auch gegen deren Anpassung an naturwissenschaftliche Methoden. Was er "Philosophie als strenge Wissenschaft " nennt - so der Titel eines seiner Hauptwerke aus dem Jahre 1911 -, meint eine Lehre, die wahre Erkenntnis nicht von subjektiven Umständen abhängig macht; eine Lehre, die gleichwohl in der Lage sein muss, den Erkennenden selbst von der Wahrheit zu überzeugen. Getreu der Maxime "Zu den Sachen selbst!" soll die Sachferne überwunden und die Philosophie auf ursprüngliche Erfahrung gegründet werden.

Husserls Phänomenologie - wörtlich: die Lehre von den Erscheinungen - weist zwar jeden naiven Realismus zurück, scheut sich aber keineswegs, sich auf die banalen Dinge des Alltäglichen einzulassen. Hans-Georg Gadamer berichtet, dass der berühmte Philosoph einmal das Berliner Panoptikum besuchte und sich dort an einer weiblichen Wachsfigur begeisterte, die seine phänomenologische Fantasie offenbar mächtig herausforderte:

"Das war mehr die Groteske im Alltag, die bei ihm möglich war. Das erzählte er ganz treuherzig. Es kam ihm gar nicht die Idee, dass jemand denken könnte, dass er hier auf erotischen Abwegen sich bewegte."

Husserls ausuferndes Werk - genannt seien nur die "Vorlesung zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins", "Die Krisis der europäischen Wissenschaften" und "Erfahrung und Urteil" - hat nach vielen Seiten gewirkt. Über Max Scheler gelangten seine Ideen in das Feld der philosophischen Anthropologie, Heidegger und Gadamer ließen sich durch sie zu ihren hermeneutischen Ansätzen inspirieren. Der Sozialwissenschaftler und Jurist Alfred Schütz entwickelte im Anschluss an Husserl die einflussreiche "verstehende Soziologie". Vor allem in Frankreich fand die Phänomenologie Anklang und Verbreitung. Jean-Paul Sartre, der Autor von "Das Sein und das Nichts", resümierte im Rückblick:

"Husserl hatte mich gepackt, ich sah alles durch die Perspektive seiner Philosophie. Ich war 'Husserlianer' und sollte es lange bleiben. Ich brauchte vier Jahre, um Husserl auszuschöpfen."