Wegbereiter der faschistischen Kunst

Von Thomas Migge |
Umberto Boccioni gilt als der führende Meister des Futurismus und als entscheidender Wegbereiter der faschistischen Kunst Italiens. Die Retrospektive würdigt ihn nicht nur als Futuristen, sondern als Ideengeber für die faschistische Kunst.
Ein Monster. Ein mit schweren Schritten gehendes Monster. Ein Gesicht ist nicht zu erkennen. Die körperlichen Rundungen eines Menschen sind gedehnt, gespitzt und überzogen dargestellt worden. Ein Monster aus Bronze, über einen Meter hoch und furchterregend. Der neue Mensch, so nannte Umberto Boccioni das von ihm geschaffene Wesen, das unmenschlich, das erschreckend wirkt und nichts Gutes ahnen lässt Boccionis neuer Mensch, meint der italienische Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher Ludovico Pratesi, sei zum Synonym für eine künstlerische und politische Bewegung geworden:

"Es handelt sich um eine Evolution in der Kunst, die als Bewegung des Futurismus berühmt wurde. Der Futurismus, den Umberto Boccioni predigte und dessen Leader er wurde, entstand 1909. Italienische Künstler und Literaten verfassten ein so genanntes futuristisches Manifest, dass in der französischen Tageszeitung "Le Figaro" veröffentlicht wurde. Im Zentrum dieser künstlerischen Bewegung stand die Idee der Zerstörung aller existierenden Werte, um auf diese Weise etwas Neues zu schaffen. Von Evolution war die Rede."

Der 1882 in Kalabrien geborene und bereits 1916 gestorbene Boccioni war einer der wichtigsten Wegbereiter des Futurismus, der auch gesellschaftliche, revolutionäre und somit politische Ziele verfolgte. Die Futuristen sprachen sich für den Krieg als elementares Erlebnis aus, für Technik und Maschinen und gegen das, so Boccioni, "Palaver der Demokraten".

Für den futuristischen Schriftsteller Filippo Tomaso Marinetti ist, "ein Rennwagen schöner als die Nike von Samothrake". Boccioni, den Marcel Duchamp zu Recht als "Prinzen des Futurismus" bezeichnete, übertrug Marinettis radikalkünstlerische Ideen auf die Malerei und die Bildhauerei.
Für ihn mußte die Malerei das moderne Leben in seiner ganzen Dynamik und Geschwindigkeit erfassen.

Ludovico Pratesi: "Die Evolution der Kunst sollte Boccioni zufolge zur Darstellungsform der Simultaneità führen, der gleichzeitigen Wiedergabe mehrerer und normalerweise nacheinander erfolgender Bewegungszustände. Es ging um die Auflösung ruhender Gegenstände in Kraftlinien. Das war ungeheuer revolutionär angesichts der in Europa damals dominierenden impressionistischen Malweise. Die Ausstellung in Mailand will das Revolutionäre Boccionis und der Futuristen darstellen."

Die erste Sektion der komplexen Mailänder Kunstschau stellt Boccioni als typischen Künstler seiner Zeit vor. Nach ersten Studienjahren in Rom reiste er 1902 nach Paris, um bei den Impressionisten zu lernen. Seine Gemälde aus dieser Zeit zeigen hübsche Darstellungen von Natur und Städten. 1908 ließ sich Boccioni in Mailand nieder, dem intellektuellen Vulkan eines Landes, dessen Regierungssystem von heftigen politischen Kämpfen aufgewühlt war. Ein anderer junger Mann, Benito Mussolini, sorgte mit seinen radikalsozialistischen Ideen für großes Aufsehen. Mussolini, der noch nicht den Faschismus gegründet hatte, sprach auch von einer Revolution in den Künsten und vom Ende der bürgerlichen Gesellschaft. Ideen, die Marinetti und Boccioni faszinierten und zur Gründung der fururistischen Bewegung führten, die der künstlerische Steigbügelhalter einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen werden sollte.

Boccionis Begegnungen mit Picasso, Braque, Dufy und dem Kubismus führten ihn schnell, erklärt Ludovico Pratesi, zum Ideal der Geschwindigkeit und der Bewegung, die fortan das Hauptsujet seines Kunstschaffens werden sollte:

"Er wollte damit die Türen der Kunst für die Gegenwart öffnen, für die von ihm als Schnelligkeit empfundene Realität, in der alles in Bewegung gerät, zerstört und neu wieder aufgebaut werden kann und muß. Typisch für diese Malweise ist Boccionis 1923 entstandendes Gemälde Dynamismus eines Radfahrers: Rad und Fahrer sind nur anhand fließender dynamischer Formen zu erkennen. Dieses Gemälde ist zum Symbol der gesamten futuristischen Bewegung geworden."

Interessant ist, dass Boccioni seine dynamische Malweise auch auf Stillleben und idyllisch e Szene anwendet. Auf seinem Gemälde Unter der Pergola in Neapel von 1914 fliegen Weingläser und -krüge, Pflanzen und Teile von Stühlen wild durcheinander. Farbgebung und Bildkomposition erinnern an Cezanne - sind aber den Ideen des Futurismus folgend überdehnt und radikalisiert worden. Wie er sich als Futurist fühlte zeigt sein Bild Seelenzustände aus dem Jahr 1911: wilde Striche, zerbrochene Linien und ausschließlich die Farben schwarz und weiß.

1914 fasste Umberto Boccioni seine künstlerischen Ideen in dem Buch "Futuristische Malerei und Bildhauerei" zusammen. Es sollte zur Bibel der Theorie und Praxis des Futurismus werden. Nach seinem frühen Tod in Folge eines Sturzes vom Pferd und nach Mussolinis Machtübernahme 1922 als Duce wurden Boccionis künstlerische Ideen in radikalisierter Form zur Basis des faschistischen Kunstschaffens. Eine Tatsache, die nach dem Ende des Regimes und des zweiten Weltkrieges in Italien in keiner Weise verdrängt wurde. Im Gegenteil: Umberto Boccioni galt und gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Künstler seines Landes.