Weg mit dem manierierten Getrippel!

Jean Georges Noverre war der bedeutendste Choreograf des 18. Jahrhunderts und ein leidenschaftlicher Reformator der Tanzkunst. Seine zentralen Thesen sind in den "Lettres sur la danse" dargelegt, die jetzt in einer neuen deutschen Ausgabe erscheinen.
Jean Georges Noverre (1727-1810) war der bedeutendste Choreograf des 18. Jahrhunderts. Doch die Tanzgeschichte hat große Schwierigkeiten mit der Quellenlage aus jener Epoche vor 250 Jahren. Die faszinierende Welt der perückenbeschwerten und maskenbewehrten Ballette à la "Jason et Médée" ist nur vereinzelt, nur in annäherungshaften Nach-Entwürfen in die Gegenwart zu holen. Umso interessanter sind da die Schriften Noverres, die der leidenschaftliche Reformator der Tanzkunst hinterließ.

Seine zentralen Thesen sind in den "Lettres sur la danse" dargelegt, 1760 in Lyon und Stuttgart erschienen. Sie wirken, wie die jetzt neu edierte Ausgabe der "Briefe über die Tanzkunst" beweist, geradezu verblüffend zeitlos. Noverre ist der erste, der zum einen die Bedeutung der Nähe des Tanzes zu den anderen Künsten – vor allem Musik, Malerei und Poesie – betont. Zum anderen beschreibt er die Notwendigkeit einer literarisch-dramatischen Handlungsgrundlage und ihrer lebensnahen, alle Figuren individuell herausarbeitenden Darstellung. Bis in die Gegenwart hinein lebt diese ästhetische Auseinandersetzung fort: zwischen narrativen, literarischen, atmosphärischen Tanzauffassungen einerseits und andererseits einem abstrakten Ballettbegriff.

Neben diesem die Jahrhunderte überstrahlenden ästhetischen Entwurf ist das in Form von 15 Briefen verfasste Werk vor allem wegen der lebendigen Schilderungen des damaligen Theaters so interessant. Der Autor Noverre ist ein kluger, leidenschaftlicher, scharfer und witziger Schriftsteller. Noverre, ein Freund Voltaires, war "Maitre de ballet" für Königin Marie Antoinette sowie an verschiedenen anderen Höfen, in Berlin, Stuttgart oder Wien, ein würdiger Empfänger von für ihn verfassten Kompositionen Mozarts, ein Literat, der die Nymphen, Grazien, Faune der griechischen Antike zu neuen, sinnstiftenden Bühnenaktionen antreten ließ und Ballette schrieb wie "Le Jugement de Paris" oder "La descente d'Orphée aux Enfers".

Weg mit dem "abgedroschenen Schlendrian der alten Opern", forderte Noverre. Er könne keine Menuette mehr hören, stöhnte er. Das gezierte Auftreten solcher Tänzer war ihm zuwider. Die Forderung nach Natürlichkeit bezog sich auch auf die Bewegungen und das Mienenspiel. "Weg mit den Cabrioles, den Entrechats und den allzu verwickelten Schritten! Weg mit diesen manierierten Grimassen, um euch ganz den echten Emotionen, der ungekünstelten Anmut und dem Ausdruck zu überlassen!" rief er der Jugend zu.

Das Nach-der-Natur-Arbeiten, das die Malerei im Übergang vom Klassizismus zur Romantik propagieren sollte, fordert er bereits 1760 für den Bühnentanz. Aber bis das erste Ballett mit nicht-adligen, nicht-mythologischen Protagonisten uraufgeführt wird, sollten weitere knapp 30 Jahre vergehen: Die Winzer und Bauern aus "La fille mal gardée", dem ältesten heute noch gespielten klassischen Ballett, traten erstmals 1789 auf die Bühne – wenige Wochen vor dem Ausbruch der französischen Revolution.

Einzig zu bedauern an dieser Neuedition ist die mitunter willkürlich modernisierte Sprache. Sie versucht, den Zeitenabstand wegzubügeln, anstatt es als Gewinn zu begreifen, heutigen Lesern ein Gespür für historische Ausdrucksweisen zu vermitteln.

Besprochen von Wiebke Hüster

Jean Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst
Neu ediert und kommentiert von Ralf Stabel
Henschel Verlag, Leipzig 2010
19,90 Euro