Wechselnde Perspektiven

In Frankfurt im vergangenen Jahr stand die türkische Literatur im Mittelpunkt. Einer der dort präsentierten Titel wird auch in Zukunft einen Platz in der Weltliteratur für sich beanspruchen dürfen: "Istanbul war ein Märchen", der Roman des türkischen Autors Mario Levi. Der Leser hat keine andere Wahl, als sich diesem Roman hinzugeben.
Französisch und Ladino waren die Sprachen seiner Großmütter, Französisch und Türkisch die seiner Eltern. Mario Levi wurde 1951 in Istanbul geboren. Er studierte Romanistik, hat als Redakteur für verschiedene Medien gearbeitet, unterrichtet an einer Privatuniversität "Creative Writing". Der Nachfahre einer sephardischen Familie ist in der Türkei ein angesehener, mit Literaturpreisen ausgezeichneter Autor. Neben einer Biografie über Jacques Brel hat er Kurzgeschichten, Essays und Romane geschrieben. Sein Hauptwerk "Istanbul war ein Märchen" liegt seit Herbst 2008 in deutscher Übersetzung vor.

In der Türkei erschien Levis Roman bereits 1999. Vier Jahre vor Orhan Pamuks Stadtporträt "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt". Levi wie Pamuk konstituieren eine tiefgehende Wechselwirkung von Ort und Lebensgeschichte der Bewohner. Während Pamuk vor allem die eigene Perspektive in den Vordergrund rückt, Zeitgeschichte mit Fakten, Zahlen und Fotografien zitiert, stellt Mario Levi annähernd 50 Protagonisten vor.

Sein Ich-Erzähler, eher Stimme als Charakter, zeichnet die Weitläufigkeit ihrer äußeren und inneren Bewegungen im 20. Jahrhundert nach. Er ist Chronist und Medium zugleich. Stellt Zusammenhänge her, doch Gehörtes - ebenso wie eigenes Tun und eigene Einsichten - immer wieder in Frage. Jenseits gängiger Mythen wird Istanbul so zum beseelten Erzählraum: Gebäude, Gerüche, Geräusche, Gespräche, Geschichten - alles eins.

Sinnlich, detailreich und gefühlvoll wechselt der Autor seine Perspektiven, bringt orale Erzähltradition des Orients organisch in Einklang mit den Verfahren der postmodernen, westlichen Literatur. Levis Istanbul erscheint genauso als Projektion der Sehnsüchte und Schmerzen seiner Bewohner, wie als Hoffnungs- und Traumreservoir, als Kindheitserinnerung und rückwärts gewandte Verheißung von Wärme und Geborgenheit. Den einen erscheint die Stadt wie ein Traum, anderen als Versprechen einer heilen Welt, kurzum - als Märchen.

Kraft seiner erzählerischen Subtilität, geschult an Autoren wie Joyce und Jabès, Musil und Proust, beschreibt der Autor in Kapiteln von großer poetischer Schönheit, den Zauber und die Vergänglichkeit des Daseins an sich. Indem er neben den großen Verläufen von Schicksalen auch kleinsten Begebenheiten seine Aufmerksamkeit widmet - einem Blick folgt, einem Lied, dem Wind vom Meer, dem Geschmack der "frischen geharzten Plätzchen aus dem Backofen von Kurtulus" - stellt er das Leben seiner Figuren als Addition, zugleich aber auch als permanente Flüchtigkeit von Augenblicken dar. Das macht es so traurig schön, birgt es in der unlösbaren Umarmung von "Hüzün".

Wie auch Pamuk betont Levi die enge Beziehung von Istanbul und "Hüzün". Einem Lebensgefühl, das unzureichend nur mit Wehmut oder Melancholie, am ehesten wohl noch mit dem portugiesischen "Saudade" wiederzugeben ist. "Hüzün" ist Ausdruck von Verlust und Unzulänglichkeit. Unauslöschliche Erfahrung der Vergänglichkeit, des Abschieds und tiefster Einsamkeit. "Hüzün" ist treue Begleiterin nicht nur von Levis Ich-Erzähler, untrennbar ist sie von Istanbul: Widerhall der Abschiede, Fluchten und Verbannungen seiner jüdischen, armenischen und griechischen Bewohner.

"Istanbul war ein Märchen" ist ein mehrfaches Angebot: An Literaturenthusiasten aufgrund der Ausgefeiltheit und Originalität seiner sprachlichen Architektur. An die muslimische Mehrheitsgesellschaft, der der Jude Mario Levi seine türkische Muttersprache als etwas Verbindendes anbietet. Und an Europa, dessen Autoren den Gesang Mario Levis unüberhörbar begleiten.

Eine leichte Lektüre ist dieser Roman nicht. Man muss ihn erkunden wie Franz Hessels Flaneur die Großstadt. Wer auf die Schnelle einen Überblick bekommen, einzelne Motive fassen oder Lebenslinien der Protagonisten klar erkennen will, wird im Erzählfluss untergehen wie ein Nichtschwimmer im Bosporus. Man hat keine andere Wahl, als sich diesem Roman hinzugeben. Dann trägt er einen.

Rezensiert von Carsten Hueck

Mario Levi: Istanbul war ein Märchen
Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas und Hüsein Yurtdas. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 844 Seiten, 24,80 Euro