Webseite "Decameron Row"

Das virtuelle Kulturzentrum

05:48 Minuten
Eine Frau schaut aus ihrer Wohnung auf die gegenüberliegende Häiuserzeile
Die Idee von "Decameron Row": In der Zeit der Corona-Isolation sollen Künstler durch eigene Videos wieder sichtbarer werden. © Unsplash / Alex Ivashenko
Von Oliver Kranz · 25.08.2020
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Weil viele Kulturorte in der Coronazeit geschlossen sind, bietet die Webseite "Decameron Row" Künstlern virtuelle Apartments an. Dort lernen sie Nachbarn kennen und stellen ihre Videos vor. Sogar kulturverwaiste Innenstädte könnten so wieder lebendig werden.
Der Schriftsteller Bogani Kona aus Kapstadt hat einen Park gefilmt, der zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt liegt und den er fast jeden Tag besucht, seit der Lockdown begann. Die Schönheit der Natur spendet ihm Trost.
Trost spenden wollen auch die Macher der Website "Decameron Row". Sie basiert auf einer Idee von Itamar Kubovy, der sich während des Corona-Lockdowns mit Freunden zu Videochats verabredete. Itamar Kubovy:
"Wir haben viel über Zoom gesprochen, um uns nicht so einsam zu fühlen, und kamen immer wieder darauf, dass wir die Künstler vermissen, die nun nicht mehr auftreten können.
Die Atmosphäre in den Städten hat sich komplett verändert. Sie fühlen sich alle so leer an. Wenn ich in Manhattan aus meinem Bürofenster blicke, sehe ich leere Schaufenster. Und auf einmal dachte ich: es wäre toll, wenn ich dieses leere Gebäude mit Menschen füllen könnte. Dann würde wieder ein Gemeinschaftsgefühl entstehen."
Blick auf leere Schaufenster in Manhattan
Der Blick aus seiner Wohnung auf leere Schaufenster in Manhattan inspirierte Itamar Kubovy zum "Decameron Row"-Videoportal.© Itamar Kubovy
Im echten Leben ließ sich diese Idee nicht so schnell realisieren, im Internet hingegen schon. Itamar Kubovy ist der ehemalige Leiter der New Yorker Theaterkompanie "Pilobolus" und bestens vernetzt.

Trauer über den Verlust von Kultur

Er und seine Freunde schrieben Künstler auf der ganzen Welt an und baten sie um kurze Videoclips. Der Rücklauf war – wie er sagt – überwältigend:
"Es gibt viele Videos, in denen Leute ihre Trauer über den Verlust von Kultur zeigen. Die Schriftstellerin Claire Messud hat ihr Bücherregal gefilmt und fragt, ob Literatur bei einer globalen Pandemie noch wichtig sei. Rachel Kushner schickte ein Video von einem brennenden Klavier. Auch das ist ein Symbol für den Verlust. Es gibt aber auch viele Clips, in denen die Natur eine Rolle spielt. Leute haben die Bäume vor ihrem Wohnungsfenster gefilmt – als könnte man durch den Blick auf Bäume Antworten auf Fragen dieser Zeit finden."
Die Indie-Band OK Go aus Chicago schickte ein Musikvideo in quietschbunten Farben. Zu sehen sind Legosteine, die mit Rasierspiegeln tanzen. Humor ist in der Decameron Row genauso wichtig wie ernsthafte Reflektion. Die Häuserfassaden, die auf der Website zu sehen sind, vermitteln den Eindruck, dass die Künstler Wand an Wand wohnen.

Reale Verabredungen mit virtuellen Nachbarn

"Wir sind wie Immobilienmakler. Wir vermieten die digitalen Wohnungen in der Decameron Row – ohne Miete natürlich. Aber die Künstler leben in den Häusern zusammen. Wir veranstalten Videokonferenzen unter der Überschrift Triff deine Nachbarn. Da nehmen Künstler aus der ganzen Welt teil, sprechen miteinander und es entstehen neue Projekte."
Denn Decameron Row soll mehr sein, als ein neues Netflix oder YouTube. Die Website soll Künstler miteinander in Kontakt bringen – und das quer durch alle Genres, sagt Kubovy:
"Unser Kreativteam ist daran interessiert, die Grenzen, die zwischen den Kunstformen existieren, niederzureißen. Die Clips sind sehr kurz, so dass man viele nacheinander sehen kann. So entsteht ein ganz anderes Kulturverständnis. Man taucht nicht tief in einzelne Werke ein, sondern sieht Querverbindungen. Das ist viel anregender, als nur eine bestimmte Kunstform anzuschauen."

Vermittlung von Auftrittsmöglichkeiten für Künstler

Itamar Kubovy glaubt, dass sich der Kulturbegriff durch die Corona-Pandemie ändern wird. Videos aller Kunstrichtungen sind im Internet verfügbar. Die Abgrenzung einzelner Szenen, sagt er, sei nicht mehr zeitgemäß.
Zusätzlich zum Videostreaming möchte er den Künstlern auch in der realen Welt Auftrittsmöglichkeiten verschaffen. Er verweist auf die vielen Geschäfte, die durch Corona schließen mussten, weshalb es vielerorts leerstehende Ladenlokale gibt.
"Das gilt besonders für New York, wo zurzeit fast 50% der Geschäfte geschlossen sind. Man könnte dort Pandemietheater einrichten. Künstler könnten live auftreten oder die Videos von unserer Website in die Schaufenster projizieren. Im Grunde braucht man dafür nur einen Projektor. Die Städte würden wieder lebendig werden und es würde sehr wenig kosten.

Onlineplattform als Kulturvermittler

Die Live-Auftritte sollen wie zurzeit schon die Videos fürs Publikum kostenlos sein. Das ist momentan möglich, weil Itamar Kubovy und sein Team kostenlos arbeiten und die Künstler für ihre Videos kein Geld verlangen. Doch das wird nicht auf Dauer so sein.
Itamar Kubovy, der sehr von seinem Projekt überzeugt ist, hofft auf Sponsoren und Spendengelder. Er stellt sich Decameron Row als großes Online-Kulturzentrum vor – eine Plattform, die Künstler, Kuratoren und Kulturinteressenten aller Art zusammenbringt.
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