Wassersport

X und Y macht Ixylon

Junge Segler trainieren am 04.10.2013 auf dem Schweriner See bei Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) mit ihren Booten der Optimisten-Klasse. Die Boote sind nur 2,40 Meter lang und 1,20 Meter breit und die klassische Bootsklasse für Kinder und Jugendliche.
Die Jungen segeln meist zunächst mit "Optimisten" - viele ältere in Mecklenburg-Vorpommern dagegen bevorzugen die Ixylon-Boote © picture alliance / ZB / Jens Büttner
Von Alexa Hennings |
Eine große Gemeinschaft, der es vor allem um den Spaß und weniger um sportliche Höchstleistungen geht, das sind die Ixylon-Segler am Sternberger See in Mecklenburg. Die Bootsklasse aus dem ehemaligen Osten Deutschlands ist preiswert und leicht zu steuern. Und bei den Regatten fahren sogar Ex-Segelchampions mit.
Ein Wochenende am Sternberger See. Der sich vom Starnberger See nicht nur dadurch unterscheidet, dass er in Mecklenburg und nicht in Bayern liegt: Der Sternberger See ist bescheidener. Statt der imposanten Alpenkulisse erheben sich rings ums Ufer weniger spektakuläre Hügel, der See ist kleiner, flacher und die Boote hier sind bescheidener.
Auf dem Klubgelände des Sternberger Vereins geht es turbulent zu. Segler zwischen acht und fünfundsiebzig machen ihre Boote klar. Ein schlanker, grauhaariger Mann hat Mühe, alle herbeizurufen.
"So, liebe … kommt mal bisschen dichter, sonst bin ich ja schon heiser, bevor ich auf dem Wasser bin! Dann kann ich gar nicht mehr 'Raum' rufen!" (lacht)
Jochen Quandt, Segler und Bürgermeister, winkt auch die Letzten heran.
"So, liebe Sportsfreundinnen und Sportfreunde, ich möchte euch alle recht herzlich begrüßen hier heute in Sternberg anlässlich des 58. Sternberger Städte- und Vergleichskampfes. In der Ixylon-Klasse sind 24 Boote am Start, das ist, wenn man zurückblickt, eigentlich schon wieder die ganz gute Zahl."
"Sind noch nicht zufrieden, wir würden gern wieder mehr haben, aber sehr zufrieden sind wir mit der Entwicklung in der Optimisten-Klasse. Wer das verfolgt hat hier in Sternberg, es gab mal Zeiten, wo hier 100 und mehr Optimisten am Start waren. Das ist 20 und mehr Jahre her. Aber dann ist es so langsam eingeschlafen und wir freuen uns, gerade in der Optimisten-Klasse so langsam wieder in Gang zu kommen …"
Optimisten heißen die kleinen Nussschalen, mit denen die Anfänger segeln. Aufgeregt treten die Kinder von einem Bein aufs andere, nesteln während der Rede des Bürgermeisters an ihren Schwimmwesten und Neoprenanzügen. Sie haben Glück, dass heute nicht so viel Wind ist, da dürfen sie mit hinaus auf den See.
"Ich wünsch uns gemeinsam viel Spaß, viel Erfolg und dann ab aufs Wasser!"
Letzte Handgriffe an den Booten. Die Schnüre - Lieken genannt - werden geordnet, Sachen verstaut, Segel probeweise hochgezogen.
Segler: "Du, dein Sohn hat sein Boot verloren! Der läuft hier bloß mit dem Rolli umher" (Lachen)
Die Kinderboote haben das Omega-Zeichen für Optimist auf dem Segel, die größeren Boote ein X, das auf einem Y steht. X und Y macht Ixylon. 1969, als man noch Plaste sagte statt Plastik, wurde diese Bootsklasse in Ost-Berlin erfunden und bis 1997 auf der Yachtwerft Berlin gebaut.
Danach übernahm eine Bitterfelder Firma den Bau der Ixylon-Jolle. Es ist die einzige ostdeutsche Bootsklasse, die die Wende überlebt hat. Ixylon-Fans wie Bärbel Claus kennen viele Gründe dafür. Die Mittvierzigerin mit dem blonden Zopf segelt mit ihrem Mann Stephan oft ganz vorn bei den Wettbewerben mit. Auch ihre jüngste Tochter ist heute mit ihrem Opti dabei. Dass ihre drei Kinder Segler geworden sind, ohne dass man sie zwingen musste, hat auch mit dem Ixylon zu tun, meint Bärbel Claus.
"Mit dem Boot kann man auch Wandersegeln machen. Wir sind früher ganz viel gewandert, über die Seenplatte und dann auch Rügen und diese Ecken. Weil es eben zwei Schwerter hat, hat es in der Mitte viel Platz und man kann drin schlafen mit einer Persenning.Und da kann man richtig Wandertouren machen.
Und heutzutage ist es einfach so: Es ist preiswert, man kann sich ein altes Boot kaufen, bisschen aufbauen und kann Regatta damit segeln. Es ist nicht hochgezüchtet das Boot. Richtige Regattaboote, wo ganz viele Strippen drin sind, damit kann man nicht Fahrtensegeln. Ich bin selbst mit den Kindern schon unterwegs gewesen, ist ein schönes Abenteuer für Kinder. Mit welchem Regattaschiff geht das sonst? 470er, da kann man keine Kinder mitnehmen, das ist Mord!"
Eine Bootsklasse für die Elterngeneration
Ein Mädchen mit einer wasserdichten Box kommt heran und hält sie Bärbel Claus unter die Nase.
"Das ist meine Jüngste. Hast du die Futterkiste gemacht? Mal gucken, was alles drin ist! Ein Brötchen reicht? - Tuten - Okay - Tuten - Machst dann dein Boot fertig? - Hab schon. - Kontrollieren, du bist der Segler!"
Bärbel Claus kommt aus Schwerin und trainiert dort selbst ehrenamtlich Kinder. Sie schaut sich um: Beim Ixylon ist eindeutig die Elterngeneration am Start. Ein, zwei Jugendcrews gibt es. Ihre älteste Tochter kann heute auch nicht teilnehmen, sie lernt für ihre Prüfungen im Studium.
"Das ist eigentlich so: Die Ixylon-Klasse, das ist noch so von früher. Wir sind nach den richtigen Regatta-Bootsklassen dann umgestiegen auf diese Ixylons, weil die meist in den Vereinen standen, die Boote. Und dann ist das ja alles so ein bisschen alles zusammen gebrochen. Das war ja die Wendezeit, und alle, die dann nachher aus dem Regattasport kamen, die mussten ja erst mal gucken, sich orientieren, sind meistens weggezogen, Auslandsjahr gemacht und weiß der Geier was. Dann ist ein Riesen-Loch entstanden.
Und erst vor vier, fünf Jahren, wo jetzt unsere Kinder merken: Mensch, das ist ein preiswertes Boot, da kann man schön segeln, und jetzt bildet sich wieder so eine Jugendgruppe. Aber erst mal war es ein großes Loch, weil alle mit sich selber zu tun hatten. Wie überall wahrscheinlich."
Die Ixylon-Klasse ist nicht nur ein Sammelbecken für ehemalige Welt- und Europameister und Teilnehmer von Olympischen Spielen, sondern vor allem auch ein Treff für jene Segler, die lieber segeln als viel Geld auszugeben. Wenngleich einige, die von rasanten Regattabooten auf ein Ixylon umsteigen, meinen, Bus zu fahren - sich jedoch damit trösten, dass dann in diesem Vergleich der weitaus weiter verbreitete Pirat - ebenfalls eine Familien- und Regattajolle - dann doch wohl der Rasentrecker sei.
Die meisten Boote, die in Ixylon-Regatten starten, sind mehr als 30, 40 Jahre alt - und halten immer noch. Beim Bau spielte damals weniger das Gewicht eine Rolle. Es sollte ja kein Rennboot sein, das möglichst leicht und damit dünnwandig sein muss.
"Wir kaufen meistens gebrauchte Wanderboote, die kriegt man für 1000, 2000 Euro. Dann macht man einmal neue Segel ran und neue Beschläge und steckt ungefähr 2000 Euro rein. und dann kann man segeln und Spaß haben. Das kann man in keiner anderen Bootsklasse! Und sie halten lange, und das ist doch das, was wir wollen. Nicht ständig neue Boote kaufen, sondern einfach nur segeln …"
Neben Bärbel Claus lässt gerade der älteste Regatta-Teilnehmer sein Boot ins Wasser. In kurzen Hosen, ganz ohne Neopren- und Funktionsbekleidung. Claus Crivitz aus Caputh bei Potsdam.
"Ich bin jetzt 75, habe erst mit 23 angefangen, ist ziemlich spät. Vorher bin ich Radrennen gefahren. War auch ne schöne Zeit. Aber Segeln ist besser, nicht so anstrengend!"
Beim Ixylon-Segeln haben auch mal Laien gegen ehemalige Profis eine Chance - der 75-Jährige aus Caputh ist der Beweis dafür. Dass die verschiedenen Lager sich necken, gehört dazu.
Segler: "Hobbysegler! - War auch mal deutscher Meister! - Konnte er aber nichts für!"
Crivitz: "Dreimal waren wir Vize, na ja, waren immer dabei so ein bisschen. Hat Spaß gemacht bis jetzt immer. - Wir müssen!"
Ein Boot weiter ordnet Jürgen Brietzke die Lieken an seinem Boot. Der ehemalige Europameister in der 470er-Klasse hat einst in Sternberg das Segeln gelernt. Bei den Deutschen Meisterschaften im Ixylon-Segeln vor Warnemünde wurde er im vergangenen Jahr Vierter. Beim Wettkampf heute gilt es für ihn und die anderen Punkte zu sammeln, um sich auch in diesem Jahr zur deutschen Meisterschaft zu qualifizieren.
"Ist ein schönes Boot, macht Spaß damit zu fahren, ist altersgerecht, genau für uns richtig! Vor allem, das Schöne daran ist, man kann nicht stolpern, sich nicht so den Kopf stoßen, man muss sich nicht so bücken.
Aber es macht natürlich auch Spaß, bei ein bisschen mehr Wind damit zu fahren. Dann wird es schon wieder sportlich! Dann wird es schon anstrengend. Vor allem, die gesamte Klasse, das ist wie eine große Familie. Das ist ein Kollektiv, das sich gegenseitig unterstützt. Ist einfach schön, mit dieser Gruppe zu segeln."
Das Kollektiv - der Name sagt es schon - ist ein vorwiegend ostdeutsches geblieben. Es mag auch ein, zwei Ixylons auf dem Starnberger See in Bayern geben, es segeln einige in Österreich, Polen und den Niederlanden. Und der Klassenobmann kommt aus Hannover - das schon. Aber meist bleibt man unter sich, bei Wettkämpfen allemal. Und "unter sich“ bedeutet: Ex-Segelprofis unter sich, reaktiviert durch die "altersgerechtere“ Bootsklasse Ixylon.
"Das ist eine ostdeutsche Domäne geblieben. Es wurde kurz vor der Wende versucht, durch die Yachtwerft diese Boote neu zu entwickeln. Da hatten wir mal zwei Testboote, eins davon hatte der Olympiasieger Jochen Schünemann. Der sagte aber: Ich bin zu schwer dafür, Jürgen, das musst du machen!
Kurzerhand haben wir dann die Sache übernommen und das Boot sehr, sehr erfolgreich gefahren. Aber es ist dann eingeschlafen, und vor ein paar Jahren wieder zu neuen Leben erwacht. Und so bin ich dem Segelsport jetzt wieder treu geworden, treu geblieben und es macht einfach Spaß. Aber es ist tatsächlich mehr ein ostdeutsches Produkt und im Westen nicht so sehr verbreitet."
Die "Altersstrukturlöcher“ stopfen
Jürgen Brietzkes Vorschotmann Clemens Kraus kommt aus Hoyerswerda, wo in ehemaligen Tagebaugebieten fast unbemerkt vom Rest des Landes eine sehr große Seenlandschaft entstanden ist, von der selbst ein Mecklenburger wie Volker Schoen begeistert ist. Der Sternberger wurde gemeinsam mit Andreas Schickel 2012 Deutscher Meister und 2013 Vizemeister. Er zieht gerade ein nagelneues Segel auf.
"Unser Boot ist Baujahr '76, eines der ältesten mit. Selbst damit kann man vorne segeln, das ist das Schöne an der Klasse. Gut, den Aufbau, das haben wir alles mal erneuert, ist aber auch schon zehn Jahre her. Und wir verkaufen dann die Segel nach ein, zwei Jahren an die Jugend weiter, das ist dann für die nicht so teuer und sie können da noch locker gut mit segeln.
Und so lebt die Klasse eben auch. Dass die, die ein bisschen mehr haben, das dann auch weitergeben nach unten. So halten wir alle zusammen auf der Art. So versuchen wir die Altersstrukturlöcher zu stopfen, mehr ist es ja nicht!"
Die "Altersstrukturlöcher“ werden beim heutigen Wettkampf von einem Studenten-Team gestopft: Die Geschwister Carolin und Gregor Zachäus aus Plau am See.
"Wir sind beide in der Schulzeit gesegelt, aber Einmann-Boot. Und dadurch, dass unsere Eltern auch Ixylon segeln, sind wir dann auch dazu gekommen und haben das so langsam ein bisschen geübt. Und irgendwie sich mehr oder weniger selbst beigebracht.
Man kommt natürlich nicht dazu, wenn man von der Bootsklasse noch nie so richtig was gehört hat. Und wenn es eine Ost-Bootsklasse ist - wie das bei uns ist, unsere Eltern segeln das und es wird weiter gegeben. Du kommst nicht von allein auf die Idee: Oh ja, jetzt Segel ich mal Ixylon! Weil das ja auch nicht so eine Prestige-Bootsklasse ist, von der hört man ja jetzt nicht so viel."
Für "selbst beigebracht“ haben es die Geschwister schon ganz gut raus. Eigentlich hatten sie sich schon fast damit abgefunden, dem Feld der ehemaligen Profi-Segler immer nur hinterherzufahren.
"Witzigerweise sind wir gutes Mittelfeld. Aber unsere letzte Regatta haben wir glücklicherweise gewonnen!"
Trotz Doktorarbeit in Berlin und Studium in Rostock treffen sich Gregor und Carolin oft an den Wochenenden, um zu üben und fit zu sein für die Regatten. Die beiden schätzen vor allem, dass es beim Ixylon-Segeln familiär und nicht allzu verbissen zugeht.
Carolin: "Na klar, abends ist natürlich immer großes Zusammensitzen. Es ist halt so: Auf dem See will man gewinnen, aber es ist nicht so ein ganz schlimmer Kampf, als wenn man andere Bootsklassen segelt, die - nicht so gut angesehen, will ich nicht sagen, aber die weiter verbreitet sind."
Gregor: "Das eine würdest du ohne das andere auch nicht machen. Wenn abends nicht so Entspannung wäre, dann würde man sich den Stress nicht machen. Aber anders herum genau so: Wenn nicht das Sportliche wäre am Tag, würdest du wahrscheinlich auch nicht durch die Provinz reisen! - Nee, um mich hier abends hinzusetzen, wahrscheinlich auch nicht."
Nicht mehr lange Zeit bis zum Start. Volker Schoen beobachtet die Jüngsten, die mit viel Eifer und Hilfe der Eltern ihre Boote zu Wasser bringen.
"Da muss man auch reingeboren sein. Du kannst zum Beispiel nicht ein Kind, deinen eigenen Sohn hier reinpressen. Das funktioniert dann nicht. Viele Leute, viele Kinder, die scheitern einfach nur daran, weil es am Geld fehlt.
Ich weiß nicht, wie viele kleine Talente untergehen, weil sich das die Eltern nicht leisten können mit dem Reisen und dem ganzen Kram. Wenn die Mutter arbeitslos ist und zuhause sitzt: Wie soll das gehen? Und sie soll dann nach Bayern fahren mit den kleinen Optimisten, wie soll das alles funktionieren? Das kann nur ein starker Verein kompensieren, sonst geht das nicht. Und dann noch vereinzelt vielleicht Elternteile."
Die Regatta beginnt. Am Ende wird der Sternberger Volker Schoen mit seinem Vorschoter Andreas Schickel gesiegt und die Geschwister Zachäus für eine Überraschung gesorgt haben: Die jüngsten Ixylon-Segler kommen vor Ex-Europameister Brietzke ins Ziel und belegen nach dem Seglerehepaar Claus den 3. Platz. Deren jüngste Tochter - jene, die nur ein einziges Brötchen in ihre 'Futterkiste' gepackt hatte - lässt alle anderen Opti-Segler hinter sich.
Das Ende der Segelkarriere mit dem Ende der DDR
Ein ganz normaler Wochentag in Sternberg. Die Regatta ist nun schon Geschichte. Wenige Meter neben dem Segelklub ist der Sternberger Fischereihof. Die alten Fischerboote liegen fest vertäut im Schuppen, draußen weht der Wind doppelt so heftig wie am Regattatag.
Kaum einer, der hier einen Fisch kauft ahnt, dass er mit Fischer Jörg Rettig einen ehemaligen Segelchampion vor sich hat: Juniorenweltmeister im 420er, WM-Vierter und Zweiter der Kieler Woche im Flying Dutchman. Schon sein Vater hatte die Fischerei in Sternberg. Nach Sportkarriere, Studium und zwei Berufsausbildungen lernte Jörg Rettig dann noch den Beruf des Fischers dazu.
Seine ersten Segelerfahrungen machte er als Sechsjähriger auf dem See, auf dem er heute fischt. Damals gab es in Sternberg ein sogenanntes Trainingszentrum. Als er 14 Jahre alt war, ging Jörg Rettig zur Sportschule nach Schwerin und segelte dort für den Schweriner Sportklub. Der Lauf der Dinge: Sternberg gab beständig seine besten Segler ab.
"Das war ja ganz normal damals, das war ja der Sinn dieser Sichtungsgeschichte, dass die besten Leute an die Sportklubs delegiert wurden. Das war auch keine Trauer, das war für diejenigen eine Auszeichnung, delegiert zu werden. Und das waren aus Sternberg eine ganze Menge, vor mir schon und nach mir, die nach Schwerin gegangen sind."
Obwohl er auf dem Höhepunkt seiner Erfolge war, kam mit dem Ende der DDR auch das Ende der Segelkarriere für den Sternberger. Und so wie ihm ging es vielen ostdeutschen Seglern.
"Die DDR wurde ja aufgelöst. Wir waren dann noch im bundesdeutschen Kader. Dann war wirklich klar, dann standen die Vorzeichen anders. Dass die Familie ernährt werden muss, das stand im Vordergrund und der Sport war dann in der 2. Reihe. Das hat man nachher gemerkt, das funktioniert eben nicht, wenn man international olympisch segeln will, das kann man nicht mehr bedienen, wenn man den Beruf an erste Stelle stellt. Dann war es nachher auch vorbei."
Wenn Jörg Rettig mit seinem Fischerboot auf dem See ist und die Kinder beim Segelklub in ihren kleinen Optis üben sieht, freut er sich. Doch er weiß auch, dass wohl kaum ein Kind aus seiner Stadt heute im Segelsport so weit kommen wird wie er und viele seiner Sportkameraden, die einst in dem selben kleinen Segelklub angefangen hatten.
"Wir haben ja im DDR-Sport, viel, viel Unterstützung gekriegt. Wo man sagen muss, die Jugendlichen, die das jetzt machen, wenn da die Eltern nicht die Mittel haben - ich sage jetzt nicht in den kleinen Vereinen, aber im Leistungssportbereich -, wenn sie nicht die Mittel haben, das zu unterstützen, auch perspektivisch zu unterstützen, dann haben die nicht die Möglichkeiten, die damals da waren.
Sicher war immer der Leistungsgedanke da, und wenn die Leistung nicht da war, ging es auf Dauer natürlich nicht weiter. Aber selbst das würde heute nicht reichen. Heute ist letztendlich immer das Geld das Vorzeichen. Wir kennen das ja, wie wir damals unterwegs waren, hat man sich ja viel mit Sportlern aus der Bundesrepublik unterhalten. Die waren vorwiegend von Beruf Sohn.
Aber ich sehe das heute auch so, das würde nicht anders gehen. Wenn man jeden Tag trainieren muss und will, das beste Material braucht, um vorne mitzusegeln, das finanziert einem kaum einer von außen."
Jörg Rettig hat heute schon seine Runde auf dem See mit dem Fischerboot hinter sich. Der Wind hat noch mal aufgefrischt. 16 Uhr. Im benachbarten Segelklub steht Jochen Quandt in wetterfester Jacke am Ufer. Er wartet auf die Kinder, die er trainiert.
"Eigentlich haben sie ja gesagt, der Wind sollte ein bisschen abnehmen. Sollte abflauen. Das ist ´ne gute fünf. Zwei sind heute da. Die anderen haben sich schon verdünnisiert heute … Wind …"
Drei, vier andere Kinder trudeln dann doch noch ein. Ein Trainer fährt mit einem älteren Jungen aufs Wasser. Die Achtjährigen aus der jüngsten Gruppe stehen am Rand und staunen.
Quandt: "Guck mal, wie das geht! Alles beherrschbar."
Kind: "Die sind ja älter!"
Quandt: "Wenn man älter ist - ja, ja, ihr werdet ja auch mal so alt! Oh là là …"
Trockenübungen für die Kleinen
Bis dahin sind bei so einem Wetter für die Jüngsten Trockenübungen angesagt. Die Kinder rollen ein extra für solche Übungen präpariertes Boot aus dem Schuppen und üben darin auf der Wiese, wie man bei solchem Wind möglichst schnell wendet.
"Setz dich mal hier oben rauf Frieda. Zieh mal ran. Richtig dicht ziehen. Genau. Malte, guck zu hier! So Frieda, jetzt machen wir ne Wende. Einleiten, genau. Zack, und rum hier, und wechseln. Zack, zack. Gut so. Und rüber wechseln! Gut so. Bei viel Wind muss das ein bisschen schneller gehen, bei weniger Wind haben wir mehr Zeit. Machen wir gleich noch mal, dann ist Malte dran"
So fing es vor mehr als 50 Jahren auch an bei Jochen Quandt mit dem Segeln auf dem Sternberger See. Das erste Boot hieß Küken, erinnert er sich, ein Boot, das nach dem Krieg oft selbst gebaut wurde, eine Kreuzung aus Ruder-und Segelboot. Ixylon segelt er seit 35 Jahren, damals wurden die ersten Boote dieser Klasse im Verein angeschafft. Jochen Quandt wurde damit mehrfacher DDR-Meister und trainierte ehrenamtlich die Kinder in Sternberg.
Das Rathaus von Sternberg (Mecklenburg-Vorpommern), aufgenommen am 19.06.2014.
Bürgermeister Quandt hat im Sternberger Rathaus durchgesetzt, dass es beim Kinder- und Jugendsport keine Kürzungen gibt.© picture alliance / ZB / Jens Büttner
"Bis 1991 oder 1990 habe ich das ja relativ intensiv gemacht, den Regattasport. Dann wurde ich Bürgermeister hier in Sternberg, das war dann zeitlich nicht mehr zu vereinbaren. Dann habe ich das Regattasegeln auswärts aufgegeben. Ja, und dann habe ich bis 2008 hier in Sternberg Ixylon natürlich weiter gesegelt, beim Städtevergleichskampf mit wechselnden Vorschotleuten.
In den letzten Jahren dann mit meinem jüngsten Sohn Jens. Und der hat dann irgendwann mal gesagt: Vadder, das ist schön, mit dir zu segeln, aber wir könnten noch ein bisschen mehr machen und seitdem segle ich wieder intensiver und nehme auch an Deutschen Meisterschaften teil. Früher habe ich ihn zum Segeln - nicht getrieben, in Anführungsstrichen! -, aber nun treibt er mich wieder!
So, halt mal gerade und häng dich mal ein Stück weiter raus nach hinten. Noch ein Stück weiter, so dass du auf den Oberschenkeln sitzt. Ja, so. Als wenn du bei mir im Pflaumenbaum hängst …"
Inzwischen wird schon Enkelin Frieda von Großvater Jochen trainiert.
"So Malte, jetzt bist du dran, dann Merle, komm … - Ich schaff das nicht! - Doch du schaffst das, komm mal ich halt dich von hinten ! … Ganz entspannt! - Das tut weh!"
Weil Jochen Quandt nicht nur Segler, sondern auch Bürgermeister ist, hat er seine kleine Stadt trotz knapper Kassen so eingerichtet, dass alle Kinder, die es wollen, Sport treiben können.
"Das ist eine freiwillige Aufgabe. Aber bisher halte ich - und halten wir gemeinsam - die Hand drauf, wenn es um Kinder- und Jugendsport geht. Da streichen wir nicht. Gut, dass die Erwachsenen mal vielleicht einen Euro weniger bekommen, ist okay. Aber beim Kinder- und Jugendsport glaube ich, wär’s nicht gut."
Im vergangenen Jahr geriet das mecklenburgische Städtchen Sternberg einmal in die Schlagzeilen: Plötzlich hing eine Hakenkreuzfahne auf dem Kirchturm.
"Wer das war, weiß man nicht so hundertprozentig. Man hat zwar seinerzeit Täter dingfest gemacht, konnte es ihnen aber nicht direkt nachweisen. Die waren aus dem Nordwestkreis. Ich will damit aber nicht sagen, dass wir kein Problem damit haben. Wir hatten jetzt in der letzten Wahlperiode einen Stadtvertreter aus der NPD bei uns, der ist jetzt glücklicherweise raus. Es wäre albern und töricht zu leugnen, dass nicht ein gewisses Wählerpotential und damit auch rechtes Gedankengut hier wäre."
Jochen Quandt, der Bürgermeister, braucht nicht lange zu grübeln, wenn es darum geht, wie man vorbeugen könnte. Als alter Segler glaubt er an die Kraft, die vom gemeinsamen Sporttreiben ausgeht. An das Stück Heimat, das einem der Sport geben kann.
"Ich gehe immer davon aus: Die Umwelt formt den Menschen. Zumindest kann man darüber Einfluss nehmen. Und deswegen ist für uns als Stadt wichtig, die Kinder- und Jugendarbeit zu unterstützen. Dass eben alle Kinder - egal, ob nun Vater und Mutter viel Geld verdienen oder Hartz-IV-Empfänger sind, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, hier Sport zu machen, ob nun Segeln oder Fußball oder Handball oder Leichtathletik. Deshalb unterstützen wir das."
Und so stellt sich ein Bürgermeister mit stets übervollem Terminkalender einmal in der Woche hin und hütet einen Sack Flöhe. Irgendwann werden es Frieda und Merle, Malte und Johannes begriffen haben, wie das geht mit der Wende bei viel Wind. Und sich hinaus aufs Wasser trauen, auch wenn es ein bisschen stürmisch ist. Bis sie irgendwann einmal aufs Ixylon umsteigen können, werden sie sich noch viele Beulen holen. Und hoffentlich trotzdem durchhalten. Auch wenn man bei der Wende einmal den Großbaum vor den Kopf kriegt, wenn man sich nicht schnell genug duckt.
"Oh, oh - einer heult - Kopf runter! Nicht so schlimm, nicht so schlimm! Nicht heulen, nicht heulen. Komm her, kühl mal ein bisschen …- Gleich weitermachen. - Danach bin ich aber wieder dran! - Klar!"