Krieg in der Ukraine

Was denken die Russen wirklich?

Ein russischer Soldat im Kriegsgebiet in der Ukraine
Die Gewalt nach außen gehe mit Repressionen und Gewalt nach innen einher, meint Tamina Kutscher. © picture alliance / dpa / TASS / Valentin Sprinchak
Gedanken von Tamina Kutscher · 09.08.2023
Trotz des Ukraine-Krieges erfreut sich Wladimir Putin in Russland großer Beliebtheit. Die sei sogar gestiegen, legen Umfragen nahe. Die Slawistin Tamina Kutscher warnt davor, sich auf solche Umfragen zu verlassen. Das spiele Moskau in die Hände.
Vor eineinhalb Jahren begann der russische Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Seitdem beschäftigt auch die deutsche Öffentlichkeit die Frage: Was denken die Russen? Sind sie für diesen Krieg?
Fragen Sie sich das auch? Dann finden Sie eine erste Antwort beim unabhängigen russischen Meinungsforschungszentrum Lewada: Demnach befürworten 70 bis 75 Prozent der Menschen in Russland den Krieg in der Ukraine.
Dacht ich’s mir doch, denken Sie jetzt vielleicht, der Russe an und für sich hält zu seinem Putin. Solche Meinungsumfragen sind umstritten, zumal in einem autoritären System wie dem russischen.
Nur in einem Punkt sind sich die Soziologen einig: Starke Zustimmung zum Krieg lässt sich kaum finden – genauso wenig wie starke Ablehnung. Was also denkt die breite Mehrheit?

Eine entpolitisierte und atomisierte Gesellschaft

Der russische Soziologe Grigori Judin sagt: „Die stärkste Emotion in Russland heute ist die Kränkung, der stärkste Affekt die Angst.“ Beides wird von der offiziellen Propaganda bedient. Sie nährt das Gefühl der Kränkung: „Der Westen bevormundet und bedroht uns, er blickt auf uns herab“ – und setzt dem Gefühl der Angst und der Vereinzelung das Identitäre entgegen: den besonderen russischen Weg, das Imperiale, den Krieg.
Vor allem aber hat der russische Staat mit seinen Bürgern eine Art unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag geschlossen: „Wir kümmern uns um Sicherheit und Stabilität – und ihr haltet euch im Gegenzug aus der Politik raus.“
Der Staat regelt und kontrolliert alles: Die Zivilgesellschaft wird kleingehalten, die liberale Demokratie auf ein Zerrbild, auf knallharten Neo-Liberalismus zurechtgestutzt.
Herauskommt eine Gesellschaft, die weiß: Hier ist sich jeder selbst der Nächste. Eine entpolitisierte und atomisierte Gesellschaft. In der der Einzelne das Gefühl hat: Die Politik, der Krieg – das findet irgendwo da draußen statt, weit weg von mir.
Dennoch gibt es einige Wenige, die protestieren. Manchmal allein auf der Straße, mit einem weißen Blatt Papier in der Hand. Mehr als 19.700 Menschen wurden bei solchen und anderen Anti-Kriegsprotesten festgenommen, allein seit dem 24. Februar 2022 – das teilt die russische Menschenrechtsorganisation OVD-Info mit. Die ist schon 2021 zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden, ihre Seite blockiert – und macht so gut es geht dennoch weiter, teilweise aus dem Exil heraus.
Jede Struktur, jede Opposition, die landesweite Proteste organisieren könnte, ist inzwischen zerschlagen, außer Landes getrieben, ihre Mitglieder und Führungsfiguren in Haft.
Die Gewalt nach außen geht mit Repressionen und Gewalt nach innen einher. Und was ist nun mit den 75 Prozent Zustimmung fragen Sie?

Mehrheit der Opportunisten

Eine Gruppe russischer Soziologinnen und Soziologen hat sich 2022 zusammengetan und versucht, das in langen Interviews genauer zu ergründen. Diese Interviews dauerten jeweils länger als eine Stunde. In solchen Tiefeninterviews lassen sich keine Zahlen ermitteln, aber Narrative und Argumente analysieren.
Swetlana Jerpylewa ist eine der beteiligten Soziologinnen. Sie kommt zu dem Schluss: „Statt einer „Position“ zum Krieg haben viele Menschen nur in sich widersprüchliche Ängste und Hoffnungen.“
Jerpylewa betont, die Wahrnehmung des Krieges sei instabil und flexibel. Sie könne sich je nach den Umständen in die eine oder andere Richtung verschieben.
75 Prozent klare Zustimmung scheint es demnach nicht zu geben. Sondern vor allem eine große Mehrheit, die weiß, welche Antworten man von ihr erwartet – aber nicht, wohin mit ihren Fragen, wohin mit ihrem vagen Unbehagen.
Das macht nichts besser und schon gar nichts gut. Aber wenn es das je werden soll, müssen wir genau hinschauen. Und nicht der offiziellen Alle-stehen-geschlossen-hinter-uns-Propaganda am Ende in die Hände spielen.

Tamina Kutscher ist freie Journalistin. Die Slawistin und Historikerin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Medien, Kultur und Gesellschaft in Russland, Mittel- und Osteuropa. Von 2016 bis 2023 war sie Chefredakteurin der Medien- und Wissenschaftsplattform „dekoder – Russland und Belarus entschlüsseln“, die in dieser Zeit mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. zwei Mal mit dem Grimme Online Award (2016 und 2021).

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