"Was zählt, ist Aktivität und Leistung"
Arbeit werde in immer stärkerem Maße zum Genuss, sagt Philosophin und Buchautorin Svenja Flaßpöhler. Auf der anderen Seite werde der Genuss durch den kapitalistischen Imperativ des Genießens und der Genuss im Dienste der Selbstoptimierung immer mehr zur Arbeit.
Ulrike Timm: Man arbeitet, um zu leben, sagt das Sprichwort. Was aber, wenn es sich dreht, wenn die Arbeit nicht mehr das halbe Leben ist, sondern das Ganze, wenn man lebt, um zu arbeiten, und die Grenzen von Arbeit und Freizeit so miteinander verfließen, dass sie unkenntlich werden? Das muss an sich gar nicht negativ sein: Nie ist der Mensch mehr bei sich, als wenn er ganz erfüllt und selbstvergessen etwas tut. Andererseits kann man mit zwangsneurotischer Betriebsamkeit dem Leben auch ganz schlicht davonlaufen. Die Philosophin und Buchautorin Svenja Flaßpöhler hat dieser tiefen Ambivalenz in ihrem neuen Buch nachgespürt, es heißt "Wir Genussarbeiter – Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft", und Svenja Flaßpöhler ist jetzt unser Gast. Schönen guten Tag!
Svenja Flaßpöhler: Ja, guten Tag!
Timm: Genussarbeiter ist ein schönes Wort, das der Verkäuferin an Kasse 7 aber wahrscheinlich nie über die Lippen käme. Wen meinen Sie mit "wir Genussarbeiter"?
Flaßpöhler: Also das "wir" muss man natürlich zunächst einmal spezifizieren: Es geht um die Mittelschicht beziehungsweise mit Einschränkungen natürlich auch noch um die Oberschicht, es geht um alle Menschen, die ehrgeizig sind, die sich in ihrer Arbeit verwirklichen wollen, ja, die Aufstiegschancen haben oder nutzen wollen, es geht eben tatsächlich um eine ganz spezifische Schicht der Gesellschaft, und der Begriff Genussarbeiter zeigt erst mal, dass es mir durchaus nicht nur um das Verhältnis von Arbeit und Freizeit geht, sondern wirklich um das Verhältnis von Arbeit und Genuss, das ist noch mal etwas anderes. Und meine Beobachtung ist, dass eben Arbeit in immer stärkerem Maße zum Genuss wird, also wir genießen die Arbeit in einem immer stärkeren Maße, wir können nicht mehr von ihr loslassen, wir bleiben am Schreibtisch kleben, obwohl wir eigentlich nicht mehr können, wir feilen, wir sind perfektionistisch und so weiter.
Und der Genuss, also das Genießen wird aber immer mehr zur Arbeit auf der anderen Seite, also ich denke da an den gesundheitsbewussten Leistungsträger, der erst mal nach Feierabend joggen geht, ich denke an das Schwitzen in der Sauna, ich denke aber auch an den kapitalistischen Imperativ des Genießens, dieses "Genieße!", was uns von überall her entgegenhallt, dieses, wir müssen shoppen gehen, wir müssen konsumieren. Also Konsum ist immer mehr gleichbedeutend auch mit Genuss oder Genuss mit Konsum, das heißt, nur wer konsumiert, kann auch genießen. Und das alles zusammen, also dieser Genuss im Dienste der Selbstoptimierung, der Gesundheit, aber auch der Genuss als konsumistischer Akt – das alles ist sehr, sehr anstrengend. Und mich interessiert dieses Zusammenrücken von Arbeit und Genuss.
Timm: Nun spart ja die moderne Technik Zeit und auch der, der viel arbeitet, hatte im Prinzip noch nie so viel freie mögliche Zeit wie heute, die er zum Genuss verwenden könnte. Warum mündet denn mehr Zeit immer in noch mehr Betriebsamkeit? Warum gehen die Leute nicht mehr joggen, weil sie Lust haben zu joggen, sondern weil sie meinen, dann wird ihr Körper auch noch perfekt?
Flaßpöhler: Das hat natürlich ganz klar was mit dem Leistungsimperativ unserer Gesellschaft zu tun, also das heißt, unsere Gesellschaft oder in unserer Gesellschaft zählt jemand nur etwas, der unablässig aktiv ist. Er muss aktiv sein, er muss Leistung bringen. Und die andere Seite des Menschseins, also das Lassen, sozusagen das Komplementäre des Tuns, das Lassen in all seinen unterschiedlichen Dimensionen kommt eigentlich gar nicht so richtig vor, also das Gelassensein, das Seinlassen, das Ablassen, das Weglassen. Das alles sind auch Dimensionen der Menschlichkeit, des Menschseins, die wir auch brauchen, um Arbeit auch im positiven Sinne genießen zu können. Also wir können Arbeit nur genießen, wenn wir loslassen können, wenn Arbeit ekstatisch ist und nicht exzessiv. Aber was wir gegenwärtig erleben ist ein exzessives Arbeitsverhalten, also ein zwanghaftes, kein lustvoll-ekstatisches, wo ich mich mal tagelang verausgabe und dann aber auch wieder gesund Abstand nehmen kann, sondern wir halten uns zwanghaft fest an der Arbeit, weil was zählt, ist Aktivität und Leistung.
Timm: Es fallen einem da ja unweigerlich ein paar Sprichworte ein, von "Carpe diem", nutze den Tag, bis zum kirchlichen "Ora et labora", bete und arbeite. Ist diese Haltung, die Sie beschreiben, gelebte protestantische Ethik?
Flaßpöhler: Na ja, ich würde ... Also es hat natürlich ganz zentral was einer protestantischen Ethik zu tun, aber eher im Sinne der Weberschen These, dass eben aus der protestantischen Ethik der Geist des Kapitalismus geboren wird.
Timm: Max Weber meinen Sie, den großen Soziologen.
Flaßpöhler: Max Weber, genau, der berühmte Soziologe. Also das heißt, der Geist des Kapitalismus geht wesentlich auf die protestantische Ethik zurück, verselbstständigt sich dann aber. Und was wir heute erleben, ist eigentlich eine, ja, eine Weiterentwicklung des Protestantismus oder ganz signifikante Verschiebung. Also zum Beispiel der protestantische Asket, der war natürlich fleißig, der musste ständig arbeiten, aber er musste für Gott arbeiten. Heute arbeiten wir nicht mehr für Gott, sondern wir verausgaben uns exzessiv in dem Sinne, dass wir übermäßig ehrgeizig sind, also wir leben Konkurrenz, wir wollen siegen, wir wollen gewinnen, wir wollen die Besten sein, wir wollen Anerkennung erfahren, wir wollen sozusagen selbst strahlen durch das, was wir tun. Wir arbeiten nicht mehr für eine höhere transzendente Instanz, sondern wir arbeiten für die eigene Erhöhung, für den eigenen Selbstwert.
Timm: Das ist logisch und gleichzeitig erstaunlich, wie Sie das begründen, denn wir leben ja in einer sehr religionsfernen Zeit, und eigentlich ist es doch erstaunlich, wenn man dann die Selbstperfektionierung – oder was man dafür hält – zum Religionsersatz und damit zum Götzen macht?
Flaßpöhler: Ja, aber ich glaube, so etwas passiert. Also es ist einfach wirklich die Verschiebung hin aufs Individuum, also das Individuum ist jetzt sozusagen sich selbst sein Götze, wenn man so will. Das heißt aber durchaus nicht, dass wir alle ganz wunderbar liebevoll mit uns umgehen und uns hegen und pflegen, sondern diese, ja, Selbstbezüglichkeit des Ich, diese narzisstische Erhöhung durch Konkurrenzkampf, durch den Ehrgeiz – man muss sich das Wort auch mal genau angucken, Ehrgeiz heißt Gier nach Ehre –, das ist die Sucht nach Ehre, die Sucht nach Anerkennung, die hat etwas zutiefst Selbstzerstörerisches, und das ist aber etwas, was kulturell gefordert ist. Dass wir uns so verhalten, liegt nicht am Einzelnen, weil der irgendwie so böse ist und so narzisstisch, sondern dieser Ehrgeiz ist das Prinzip der Konkurrenz- und Wettkampfgesellschaft, in der wir leben.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", Svenja Flaßpöhler hat die Genussarbeit in ihrer tiefen Ambivalenz beschrieben und untersucht, und bei dem Wort Ehrgeiz, das immer so schwer verbissen klingt, möchte ich trotzdem mal einhaken, denn Ehrgeiz ist ja auch eine ganz große und ganz natürliche Triebkraft – etwas besser können, froh und stolz über sich sein. Wie soll denn ein Leben seinen Sinn finden, wenn nicht in Produktivität?
Flaßpöhler: Ja, absolut. Es gibt einen sehr produktiven und sehr gesunden Ehrgeiz, und das ist wirklich der Ehrgeiz, der versucht, ja, genau, etwas besser zu machen, einen Mangel, einen subjektiv empfundenen Mangel zu veredeln. Das ist etwas sehr Schönes. Man kann das sehr schön bei Kindern beobachten, wie die spielen: Natürlich wollen die besser sein und die wollen auch besser sein für die Eltern, die wollen den Eltern etwas Schönes zeigen, und dieses Zeigen-Wollen ist etwas zutiefst Menschliches, und es ist die Lust auch, natürlich Anerkennung zu erfahren. Aber was das Kind von uns heute in unserer Gesellschaft unterscheidet, ist, dass das Kind sich sehr sicher sein kann: Es hat im wahrsten Sinne einen Spielraum, und den haben wir heute nicht.
Timm: Das heißt, die Kinder sind die Philosophen, und wenn man einem Dreijährigen zuguckt, der mit Bauklötzen spielt, dann sieht man alles, Selbstvergessenheit, Selbstbestimmung, Arbeit und Muße in einem?
Flaßpöhler: Ja, und Gelassenheit und Loslassenkönnen.
Timm: Frau Flaßpöhler, Ihr Buch ist kein Ratgeber, das wollen wir noch mal betonen, sondern es ist eher gestützt auf philosophische Denkweisen von Platon über Nietzsche bis zum großen Tucholsky – kein Philosoph, Literaturmensch, aber eigentlich doch ein Philosoph –, der spottete: Hauptsache, man hat eine Arbeit, wo man hingehen kann. Hat Sie das eigentlich erstaunt bei Ihrer Untersuchung, dass es sich eben nicht um ein wirklich neues Phänomen handelt, sondern sich durch die Zeiten eigentlich wenig verändert hat?
Flaßpöhler: Ja, ich glaube, es hat sich eben dann doch schon verändert. Natürlich haben sich die Philosophen, gerade die Philosophen immer schon mit dem Verhältnis von Arbeit und Genuss auseinandergesetzt, also das sind ja wirklich die beiden ganz grundlegenden Kategorien des Menschseins, Arbeit und Genuss, insofern verwundert es nicht, dass das immer schon auch Thema war. Trotzdem glaube ich, dass wir seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters und speziell in den letzten Jahrzehnten auch noch mal durch die Medialisierung der Arbeit doch noch mal ganz neue Entwicklungen beobachten können.
Timm: Aber wenn der große Aristoteles schon die Mitte im Menschen sucht, dann sind wir doch heute im Prinzip genau an derselben Stelle, nur ein bisschen lauter.
Flaßpöhler: Ja, das stimmt, wobei mir es auch immer darum geht in dem Buch, nicht zu sagen, wir müssen nur das rechte Maß finden, sondern mir geht es wirklich auch darum, zu versuchen, Unterscheidungen zu treffen: Was unterscheidet ekstatisches Arbeiten von exzessivem Arbeiten? Was unterscheidet gesunden Ehrgeiz oder glücksversprechenden Ehrgeiz von zwanghaftem Ehrgeiz? Oder was unterscheidet einen durchaus berechtigten Kampf um Anerkennung von Sucht nach Anerkennung? Mir geht es darum, wirklich Unterscheidungen zu treffen.
Timm: Können denn die Philosophen dabei helfen?
Flaßpöhler: Auf jeden Fall.
Timm: Inwiefern?
Flaßpöhler: Indem sie einfach versuchen oder indem ich in meinem Buch versuche, wirklich ganz genau herauszuarbeiten, wo die Unterscheidung zu treffen ist. Also man kann das zum Beispiel sehr schön klarmachen auch an Beispielen, am Beispiel der Liebe: Wann liebe ich leidenschaftlich? Wenn ich zurückgeliebt werde. Genauso in der Arbeit: Wann liebe ich zwanghaft? Wenn der andere mir die Liebe nicht zurückspiegelt, dann beiße ich mich fest, dann will ich den nicht loslassen, dann gucke ich immer, was der macht.
Timm: Also Arbeit ohne Echo?
Flaßpöhler: Genau. Genau dasselbe passiert ja gegenwärtig: Die Arbeitssucht ist nichts anderes als die Angst vor Verlust auch, und an solchen Beispielen, die wirklich jeder auch nachvollziehen kann, versuche ich, diese Unterschiede klarzumachen.
Timm: Frau Flaßpöhler, war denn die Arbeit an diesem Buch Genussarbeit oder manchmal auch Maloche und hektische Betriebsamkeit?
Flaßpöhler: Ich würde sagen, es war Genussarbeit in ihrer ganzen Ambivalenz.
Timm: Schönes Schlusswort. Vielen Dank an Svenja Flaßpöhler, ihr Buch "Wir Genussarbeiter – Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft" ist neu erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt, und wir wollen auch in der Debatte mit Ihnen diskutieren um 15.50 Uhr, wie Sie es halten mit der Arbeit – ob Sie arbeiten, um zu leben, oder leben, um zu arbeiten. Mehr dazu dann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Svenja Flaßpöhler: Ja, guten Tag!
Timm: Genussarbeiter ist ein schönes Wort, das der Verkäuferin an Kasse 7 aber wahrscheinlich nie über die Lippen käme. Wen meinen Sie mit "wir Genussarbeiter"?
Flaßpöhler: Also das "wir" muss man natürlich zunächst einmal spezifizieren: Es geht um die Mittelschicht beziehungsweise mit Einschränkungen natürlich auch noch um die Oberschicht, es geht um alle Menschen, die ehrgeizig sind, die sich in ihrer Arbeit verwirklichen wollen, ja, die Aufstiegschancen haben oder nutzen wollen, es geht eben tatsächlich um eine ganz spezifische Schicht der Gesellschaft, und der Begriff Genussarbeiter zeigt erst mal, dass es mir durchaus nicht nur um das Verhältnis von Arbeit und Freizeit geht, sondern wirklich um das Verhältnis von Arbeit und Genuss, das ist noch mal etwas anderes. Und meine Beobachtung ist, dass eben Arbeit in immer stärkerem Maße zum Genuss wird, also wir genießen die Arbeit in einem immer stärkeren Maße, wir können nicht mehr von ihr loslassen, wir bleiben am Schreibtisch kleben, obwohl wir eigentlich nicht mehr können, wir feilen, wir sind perfektionistisch und so weiter.
Und der Genuss, also das Genießen wird aber immer mehr zur Arbeit auf der anderen Seite, also ich denke da an den gesundheitsbewussten Leistungsträger, der erst mal nach Feierabend joggen geht, ich denke an das Schwitzen in der Sauna, ich denke aber auch an den kapitalistischen Imperativ des Genießens, dieses "Genieße!", was uns von überall her entgegenhallt, dieses, wir müssen shoppen gehen, wir müssen konsumieren. Also Konsum ist immer mehr gleichbedeutend auch mit Genuss oder Genuss mit Konsum, das heißt, nur wer konsumiert, kann auch genießen. Und das alles zusammen, also dieser Genuss im Dienste der Selbstoptimierung, der Gesundheit, aber auch der Genuss als konsumistischer Akt – das alles ist sehr, sehr anstrengend. Und mich interessiert dieses Zusammenrücken von Arbeit und Genuss.
Timm: Nun spart ja die moderne Technik Zeit und auch der, der viel arbeitet, hatte im Prinzip noch nie so viel freie mögliche Zeit wie heute, die er zum Genuss verwenden könnte. Warum mündet denn mehr Zeit immer in noch mehr Betriebsamkeit? Warum gehen die Leute nicht mehr joggen, weil sie Lust haben zu joggen, sondern weil sie meinen, dann wird ihr Körper auch noch perfekt?
Flaßpöhler: Das hat natürlich ganz klar was mit dem Leistungsimperativ unserer Gesellschaft zu tun, also das heißt, unsere Gesellschaft oder in unserer Gesellschaft zählt jemand nur etwas, der unablässig aktiv ist. Er muss aktiv sein, er muss Leistung bringen. Und die andere Seite des Menschseins, also das Lassen, sozusagen das Komplementäre des Tuns, das Lassen in all seinen unterschiedlichen Dimensionen kommt eigentlich gar nicht so richtig vor, also das Gelassensein, das Seinlassen, das Ablassen, das Weglassen. Das alles sind auch Dimensionen der Menschlichkeit, des Menschseins, die wir auch brauchen, um Arbeit auch im positiven Sinne genießen zu können. Also wir können Arbeit nur genießen, wenn wir loslassen können, wenn Arbeit ekstatisch ist und nicht exzessiv. Aber was wir gegenwärtig erleben ist ein exzessives Arbeitsverhalten, also ein zwanghaftes, kein lustvoll-ekstatisches, wo ich mich mal tagelang verausgabe und dann aber auch wieder gesund Abstand nehmen kann, sondern wir halten uns zwanghaft fest an der Arbeit, weil was zählt, ist Aktivität und Leistung.
Timm: Es fallen einem da ja unweigerlich ein paar Sprichworte ein, von "Carpe diem", nutze den Tag, bis zum kirchlichen "Ora et labora", bete und arbeite. Ist diese Haltung, die Sie beschreiben, gelebte protestantische Ethik?
Flaßpöhler: Na ja, ich würde ... Also es hat natürlich ganz zentral was einer protestantischen Ethik zu tun, aber eher im Sinne der Weberschen These, dass eben aus der protestantischen Ethik der Geist des Kapitalismus geboren wird.
Timm: Max Weber meinen Sie, den großen Soziologen.
Flaßpöhler: Max Weber, genau, der berühmte Soziologe. Also das heißt, der Geist des Kapitalismus geht wesentlich auf die protestantische Ethik zurück, verselbstständigt sich dann aber. Und was wir heute erleben, ist eigentlich eine, ja, eine Weiterentwicklung des Protestantismus oder ganz signifikante Verschiebung. Also zum Beispiel der protestantische Asket, der war natürlich fleißig, der musste ständig arbeiten, aber er musste für Gott arbeiten. Heute arbeiten wir nicht mehr für Gott, sondern wir verausgaben uns exzessiv in dem Sinne, dass wir übermäßig ehrgeizig sind, also wir leben Konkurrenz, wir wollen siegen, wir wollen gewinnen, wir wollen die Besten sein, wir wollen Anerkennung erfahren, wir wollen sozusagen selbst strahlen durch das, was wir tun. Wir arbeiten nicht mehr für eine höhere transzendente Instanz, sondern wir arbeiten für die eigene Erhöhung, für den eigenen Selbstwert.
Timm: Das ist logisch und gleichzeitig erstaunlich, wie Sie das begründen, denn wir leben ja in einer sehr religionsfernen Zeit, und eigentlich ist es doch erstaunlich, wenn man dann die Selbstperfektionierung – oder was man dafür hält – zum Religionsersatz und damit zum Götzen macht?
Flaßpöhler: Ja, aber ich glaube, so etwas passiert. Also es ist einfach wirklich die Verschiebung hin aufs Individuum, also das Individuum ist jetzt sozusagen sich selbst sein Götze, wenn man so will. Das heißt aber durchaus nicht, dass wir alle ganz wunderbar liebevoll mit uns umgehen und uns hegen und pflegen, sondern diese, ja, Selbstbezüglichkeit des Ich, diese narzisstische Erhöhung durch Konkurrenzkampf, durch den Ehrgeiz – man muss sich das Wort auch mal genau angucken, Ehrgeiz heißt Gier nach Ehre –, das ist die Sucht nach Ehre, die Sucht nach Anerkennung, die hat etwas zutiefst Selbstzerstörerisches, und das ist aber etwas, was kulturell gefordert ist. Dass wir uns so verhalten, liegt nicht am Einzelnen, weil der irgendwie so böse ist und so narzisstisch, sondern dieser Ehrgeiz ist das Prinzip der Konkurrenz- und Wettkampfgesellschaft, in der wir leben.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", Svenja Flaßpöhler hat die Genussarbeit in ihrer tiefen Ambivalenz beschrieben und untersucht, und bei dem Wort Ehrgeiz, das immer so schwer verbissen klingt, möchte ich trotzdem mal einhaken, denn Ehrgeiz ist ja auch eine ganz große und ganz natürliche Triebkraft – etwas besser können, froh und stolz über sich sein. Wie soll denn ein Leben seinen Sinn finden, wenn nicht in Produktivität?
Flaßpöhler: Ja, absolut. Es gibt einen sehr produktiven und sehr gesunden Ehrgeiz, und das ist wirklich der Ehrgeiz, der versucht, ja, genau, etwas besser zu machen, einen Mangel, einen subjektiv empfundenen Mangel zu veredeln. Das ist etwas sehr Schönes. Man kann das sehr schön bei Kindern beobachten, wie die spielen: Natürlich wollen die besser sein und die wollen auch besser sein für die Eltern, die wollen den Eltern etwas Schönes zeigen, und dieses Zeigen-Wollen ist etwas zutiefst Menschliches, und es ist die Lust auch, natürlich Anerkennung zu erfahren. Aber was das Kind von uns heute in unserer Gesellschaft unterscheidet, ist, dass das Kind sich sehr sicher sein kann: Es hat im wahrsten Sinne einen Spielraum, und den haben wir heute nicht.
Timm: Das heißt, die Kinder sind die Philosophen, und wenn man einem Dreijährigen zuguckt, der mit Bauklötzen spielt, dann sieht man alles, Selbstvergessenheit, Selbstbestimmung, Arbeit und Muße in einem?
Flaßpöhler: Ja, und Gelassenheit und Loslassenkönnen.
Timm: Frau Flaßpöhler, Ihr Buch ist kein Ratgeber, das wollen wir noch mal betonen, sondern es ist eher gestützt auf philosophische Denkweisen von Platon über Nietzsche bis zum großen Tucholsky – kein Philosoph, Literaturmensch, aber eigentlich doch ein Philosoph –, der spottete: Hauptsache, man hat eine Arbeit, wo man hingehen kann. Hat Sie das eigentlich erstaunt bei Ihrer Untersuchung, dass es sich eben nicht um ein wirklich neues Phänomen handelt, sondern sich durch die Zeiten eigentlich wenig verändert hat?
Flaßpöhler: Ja, ich glaube, es hat sich eben dann doch schon verändert. Natürlich haben sich die Philosophen, gerade die Philosophen immer schon mit dem Verhältnis von Arbeit und Genuss auseinandergesetzt, also das sind ja wirklich die beiden ganz grundlegenden Kategorien des Menschseins, Arbeit und Genuss, insofern verwundert es nicht, dass das immer schon auch Thema war. Trotzdem glaube ich, dass wir seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters und speziell in den letzten Jahrzehnten auch noch mal durch die Medialisierung der Arbeit doch noch mal ganz neue Entwicklungen beobachten können.
Timm: Aber wenn der große Aristoteles schon die Mitte im Menschen sucht, dann sind wir doch heute im Prinzip genau an derselben Stelle, nur ein bisschen lauter.
Flaßpöhler: Ja, das stimmt, wobei mir es auch immer darum geht in dem Buch, nicht zu sagen, wir müssen nur das rechte Maß finden, sondern mir geht es wirklich auch darum, zu versuchen, Unterscheidungen zu treffen: Was unterscheidet ekstatisches Arbeiten von exzessivem Arbeiten? Was unterscheidet gesunden Ehrgeiz oder glücksversprechenden Ehrgeiz von zwanghaftem Ehrgeiz? Oder was unterscheidet einen durchaus berechtigten Kampf um Anerkennung von Sucht nach Anerkennung? Mir geht es darum, wirklich Unterscheidungen zu treffen.
Timm: Können denn die Philosophen dabei helfen?
Flaßpöhler: Auf jeden Fall.
Timm: Inwiefern?
Flaßpöhler: Indem sie einfach versuchen oder indem ich in meinem Buch versuche, wirklich ganz genau herauszuarbeiten, wo die Unterscheidung zu treffen ist. Also man kann das zum Beispiel sehr schön klarmachen auch an Beispielen, am Beispiel der Liebe: Wann liebe ich leidenschaftlich? Wenn ich zurückgeliebt werde. Genauso in der Arbeit: Wann liebe ich zwanghaft? Wenn der andere mir die Liebe nicht zurückspiegelt, dann beiße ich mich fest, dann will ich den nicht loslassen, dann gucke ich immer, was der macht.
Timm: Also Arbeit ohne Echo?
Flaßpöhler: Genau. Genau dasselbe passiert ja gegenwärtig: Die Arbeitssucht ist nichts anderes als die Angst vor Verlust auch, und an solchen Beispielen, die wirklich jeder auch nachvollziehen kann, versuche ich, diese Unterschiede klarzumachen.
Timm: Frau Flaßpöhler, war denn die Arbeit an diesem Buch Genussarbeit oder manchmal auch Maloche und hektische Betriebsamkeit?
Flaßpöhler: Ich würde sagen, es war Genussarbeit in ihrer ganzen Ambivalenz.
Timm: Schönes Schlusswort. Vielen Dank an Svenja Flaßpöhler, ihr Buch "Wir Genussarbeiter – Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft" ist neu erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt, und wir wollen auch in der Debatte mit Ihnen diskutieren um 15.50 Uhr, wie Sie es halten mit der Arbeit – ob Sie arbeiten, um zu leben, oder leben, um zu arbeiten. Mehr dazu dann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.