Was uns fehlt

Von Alan Posener |
Die Deutschen, heißt es, seien ein Volk der Dichter und Denker. Jedenfalls denken sie gern über Wörter nach. Und streiten sich noch lieber darüber. Darüber macht sich schon Mephisto im „Faust“ lustig; und das wird sich wahrscheinlich erst ändern, wenn wir alle nur noch Englisch reden und zum Beispiel soziologisch einwandfrei statt von Leitkultur von der dominant culture reden.
Denn darum geht es wieder mal: um den Begriff „deutsche Leitkultur“, oder vielmehr nicht um den Begriff, sondern um die Worte. Denn wie Goethes Mephisto höhnte: „gerade wo Begriffe fehlen, stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein.“

Ob nun zur rechten Zeit oder nicht: Der Aufschrei in den Feuilletons blieb aus. Sind die Helden der politischen Korrektheit müde? Norbert Lammerts Begründung verdient Beachtung. Und Widerspruch. Deutschland brauche eine Verständigung über seine Leitkultur gerade, und ich zitiere „in schwierigen Zeiten wie heute, in denen nicht Wohlstandszuwächse verteilt, sondern Ansprüche eingesammelt werden müssen.“

Ach je. Die Unfähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Eliten in diesem Land, für hohe Wachstumsraten und niedrige Arbeitslosenzahlen wie etwa in Großbritannien oder den USA zu sorgen, soll mit einer Besinnung auf die Kulturnation beantwortet werden? Das ist der uralte Reflex deutscher Konservativer, auf Probleme in der Wirklichkeit Lösungen im Ideellen zu suchen.

Aber es ist ja nicht so, dass Deutschland stagniert, weil dem Volk die Kultur fehlt, sondern der politischen Klasse der Mut, mächtige Interessenverbände wie die Gewerkschaften, die Beamten, Behörden und Landespolitiker und das Kartell der Deutschland AG zu entmachten, um endlich auch in diesem Land eine echte Marktwirtschaft einzuführen. Stattdessen schimpft Müntefering lieber auf Heuschrecken, Lafontaine auf Fremdarbeiter, Clement auf Sozialabzocker, Gerhard Schröder auf Tony Blair. Und Lammert jammert der Leitkultur hinterher.

Dabei hat er ja recht: Wir brauchen eine „Große Erzählung“ darüber, wer wir sind und wohin wir wollen – nicht, um unser wirtschaftliches Versagen zu kompensieren, sondern, wie es Bassam Tibi und Friedrich Merz ursprünglich meinten, um die Herausforderungen eines Einwanderungslands zu bewältigen.

Amerika bietet den Einwanderern den amerikanischen Traum; und sie träumen ihn mit: Warum wohl fand Osama bin Laden in den Millionen Muslimen in Amerika keine Piloten für den 11. September? Warum musste er sie ausgerechnet in Hamburg suchen? Israel hat in kürzester Zeit über eine Million russische Einwanderer absorbieren können, weil es allen Juden den zionistischen Traum eines Lebens in selbstbestimmter Würde bietet. Großbritannien hat die Multikulturalität des Weltreichs umgewandelt in den Traum eines multikulturellen Treibhauses der Zukunft.

Was ist also der deutsche Traum? Was ist unsere Erzählung, und welches Kapitel dürfen die neuen deutschen Bürger schreiben? Denn darum geht es, dass die ganze deutsche Geschichte für uns alle da ist, die ganze deutsche Kultur und die Demokratie in vollem Umfang: als Angebot, aber auch als Verpflichtung. Das fordert auch der Mehrheitsgesellschaft etwas ab; immer wieder; ob es darum geht, dass eine Lehrerin ihrer Klasse muslimischer Schüler erklärt, warum wir die Zeit ab Christi Geburt zählen; oder darum, dass arabische Zuwanderer in Staatbürgerkursen erfahren, dass Deutschlands Verantwortung für den Staat Israel sie mit einschließt; oder darum, dass Politiker endlich dafür sorgen, dass nicht 90 Prozent der jungen Türken ohne Ausbildungsplatz bleiben.

Einfacher ist es, wie Grünen-Chefin Claudia Roth kürzlich in der FAZ, der Sache aus dem Weg zu gehen. Statt des „Begriffsunglücks Leitkultur“ schlug sie einen Begriff aus der, wie sie es formulierte, „angelsächsischen Diskussion“ vor: „overlapping consensus“ heißt das, oder neudeutsch „konsensuelle Schnittmenge“. Man legt also die Kulturen übereinander wie Wurstscheiben auf die Aufschnittplatte –eine Scheibe muslimische Frauenverachtung hier, eine Scheibe aufgeklärter Feminismus dort, ein Scheibchen Protestantismus da, hier ein Scheibchen Katholizismus und so weiter und so fort, und die „konsensuelle Schnittmenge“ ist das, was als Gemeinsames übrig bleibt. Denn, so Frau Roth weiter: „Dem Konsens liegen unendlich reichhaltige, zivile Perspektiven zugrunde, die für sich keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen können“. Oder anders: Es ist eh alles Wurscht.

Und kann es Frau Roth bleiben. Denn die Tochter aus privilegiertem Haus – Vater Zahnarzt, Mutter Lehrerin – hat die Leitkultur mit der Muttermilch eingesogen. Darum ist sie Chefin der Partei der Besserverdienenden und nicht Aysha aus Kreuzberg. Man kann über den Begriff Leitkultur streiten; ja muss es, wenn man ein echter deutscher Intellektueller sein will; aber besser als die wohlwollende Vernachlässigung, die tendenziell tödliche Toleranz einer Claudia Roth, wäre es allemal, wir würden uns – und die uns vor 50 Jahren aufgezwungene demokratische Leitkultur – endlich ernst nehmen.

Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der „Welt“, zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der „Welt am Sonntag“. Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die „Duographie“ Roosevelt-Stalin und den „Paare“-Band über John und Jacqueline Kennedy.