Was uns der Dekalog noch zu sagen hat

Von Barbara Dobrick · 12.02.2011
Wie relevant können die Zehn Gebote für uns noch sein? "Spiegel"-Journalist Mathias Schreiber versieht seine Studie über den Dekalog mit dem Untertitel "Eine Ethik für heute". Alltagstaugliche Schlussfolgerungen hat das Buch jedoch kaum zu bieten.
Zunächst preist Mathias Schreiber die Zehn Gebote als "ethische Unabhängigkeitserklärung des Menschen". Der Autor argumentiert mit Kant, Gott anzuerkennen als Grund und Ursache allen Seins, relativiere jede weltliche Macht und sei deshalb Voraussetzung für unsere morali-sche Unabhängigkeit. Sie werde begründet durch das erste Gebot, in dem es heißt: "Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir."

Dann beschäftigt sich der Autor mit den Zehn Geboten im Einzelnen, interpretiert sie auf knapp 50 Seiten als grundlegend auch aus heutiger Sicht. Dabei wird er gelegentlich etwas polemisch:

Das sechste Gebot fordert die Menschen auf, (…) nicht (…) vor einem Zeitgeist zu resignie-ren, der die Ehescheidung fast schon so behandelt, als sei man versehentlich mal an den falschen Urlaubsort gereist und korrigiere dies nun.

Mathias Schreiber benutzt solche Zuspitzungen vermutlich, weil er seine Leserschaft un-bedingt überzeugen will, aber genau weiß, dass die Frage nach Gott vor allem eine Glaubens-sache ist und keine schlüssiger Argumente. Schreibers Thesen sind jedoch an die Existenz Gottes gebunden.

Ohne diesen Gott verlieren die Zehn Gebote ihre dialogische Tiefendimension, ihre absolute Verbindlichkeit. Als Gebote einer von Gott unabhängig gedachten, gesellschaftsaktiven, praktischen Vernunft wären sie jedermann zumutbar und insofern auch verbindlich – dies aber nicht unbedingt und über jeden Zweifel erhaben.

Genau darum aber geht es Mathias Schreiber: Um die Zweifellosigkeit, um die Unbedingtheit der Zehn Gebote und um die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dieses Anliegen verfolgt Schreiber auf durchaus lehrreiche Weise.

Er durchstreift die Geschichte des abendländischen Philosophierens über Moral von den alten Griechen und Römern bis heute. Kulturhistorisch ist das interessant, und es regt an, sich selbst zu formulieren. Aber dafür lässt Schreiber schließlich doch nur wenig Raum, denn sein Ziel hat er von Anfang an fest im Blick: Die Relevanz und Tauglichkeit der Zehn Gebote für "Eine Ethik für heute" unter Beweis zu stellen. Er hat sich entschieden, die Zehn Gebote als uni-versal und gottgegeben anzusehen.

Dabei ist weniger die Universalität ein Problem als die Gottgegebenheit. Sie setzt einen Glauben voraus, der längst fragwürdig geworden ist, und mehr als das: Die Gottesvor-stellungen selbst sind zu einem riesigen Problem geworden, denn sie sind eben oft ganz anders, als Schreiber es sich wünscht. Deshalb überrascht es, wie vehement er die vielfältigen Bemühungen abwertet, eine tragfähige universale Ethik unter Einbeziehung aller Religionen und auch jenseits des Religiösen zu vertreten.

Schreiber argumentiert zwar beredt, aber auf längst bekannte und rückwärtsgewandte Weise. Das verursacht ein schales Gefühl. Schließlich wird daraus Verdruss. Denn plötzlich geht es dem Autor nicht nur um die Unbedingtheit einer gottgegebenen Moral, sondern um deren kulturelle und politische Bedeutung:

Nur der Bezug zum Absoluten gibt den Forderungen des Dekalogs das Unausweichliche, Erhabene, auch ästhetisch Umwerfende. Diese Dimension müssen sich die Gläubigen Europas – egal welcher der monotheistischen Religionen – emotional und intellektuell wieder zu-muten, wenn sie bei der Gestaltung der kulturellen Zukunft noch ein ernstes Wort mitreden wollen.

Dass wir eine neue Entschiedenheit brauchen, mit der wir unsere aus Christentum und Auf-klärung erwachsenen Werte vertreten, dem dürften viele zustimmen. Ob uns dabei wirklich Gott und die Zehn Gebote als fragloser Maßstab dienen können, ist allerdings sehr die Frage – nach der Lektüre von Mathias Schreibers Buch vermutlich mehr noch als zuvor. Denn Schrei-ber wartet auch mit einer These auf, die einen vor allem eines lehrt: das Fürchten.

Unter den verbissenen Wahrheitsmonopolisten dieser Erde hat Toleranz nur eine Chance: nämlich dann, wenn sie endlich erkennen, dass die Wahrheit des feindlichen Bruders oder Vetters letztlich die eigene ist. Wenn sie den Kopf frei machen für die Erkenntnis, dass in der Moderne des 21. Jahrhunderts religionspolitisch nur noch ein Gegensatz relevant ist: der Ge-gensatz zwischen den agnostischen Relativierern einerseits und den Verfechtern des Glaubens an das Absolute im Geheimnis der Existenz andererseits.

Ergo: Eine Neuauflage des Kampfes "Gläubig versus Ungläubig". Selbst wenn man dieses Schluss-Crescendo beiseite lässt, dürfte die Lektüre viele nur ratlos machen. Selbst dann, wenn man dem Autor in seine Gottgläubigkeit folgen kann, bleibt er sehr abstrakt. Lebens-praktische, alltagstaugliche Schlussfolgerungen für "Eine Ethik für heute" bietet er jedenfalls nicht an.

Mathias Schreiber: Die Zehn Gebote. Eine Ethik für heute
DVA, 286 Seiten, 19,99 Euro