"Was tut dieses Land mir an?"

Von Guylaine Tappaz · 04.06.2010
Irène Némirovskys Name war lange Zeit kaum bekannt - bis 2004 ihr unfertiges Werk "Suite Francaise" veröffentlicht und ein weltweiter Erfolg wurde. Seitdem wird die Schriftstellerin wiederentdeckt. Nun erscheint eine neue Biografie.
Denise Epstein: "Sie hat verstanden, dass sie verloren war. Beim Schreiben ihres Buches "Suite Francaise" dachte sie zumindest nicht an das, was sie voraussah: den Tod. Sie hat quasi bis zum letzten Tag geschrieben. Und wusste, es wird ein posthumer Roman."

Das Schreiben als einzig möglicher Fluchtort. Zurückgezogen in einem kleinen Dorf im besetzten Teil Frankreichs arbeitete die russisch-jüdische Irène Némirovsky bis 1942 an ihrem "Krieg und Frieden", wie sie selbst notiert. Ein großer Roman über die Massenflucht vor den Deutschen und die ersten Monate der Besatzung.

"Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Blutes und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert."

Zwölf Jahre zuvor feierte dieses Land noch Irène Némirovsky – als neuer Star in der französischen Literaturszene. In Kiew als Tochter eines reichen jüdischen Bankiers geboren, war sie vor der russischen Revolution nach Paris geflohen.

Ihr Erstling "David Golder" aus dem Jahr 1929 erzählt schonungslos die Geschichte eines ostjüdischen, gierigen Ölspekulanten im Westen, der im Zuge seines Ruins die Zuneigung seiner Freunde und Familie verliert. "Ein schönes Buch, das stinkt", urteilt ein Kritiker. Und das von einer 26-jährigen Frau verfasst – einer Russin noch dazu!

An Klischees über Juden mangelt es nicht in "David Golder". Einige – damals wie heute – sehen darin ein antisemitisches Buch, manche sprechen vom jüdischen Selbsthass. Zu Unrecht findet ihr Biograf, Olivier Philipponnat, der in seinem Buch den historischen Kontext und ihr Gesamtwerk heranzieht.

Olivier Philipponnat: "Gleich 1930 hat sie auf diese Beschuldigungen geantwortet: 'Ich schildere nur das, was ich kenne, und das ist nun einmal die jüdische Geschäftswelt'. Sie wollte aber nicht die Satire einer Glaubensgemeinschaft, sondern die der Finanzwelt machen. Ab Mitte der 30er-Jahre wird sie sehr wohl merken, dass das Thema schwierig zu behandeln war."

"Wenn es Hitler schon gegeben hätte, hätte ich 'David Golder' ganz bestimmt stark abgemildert und ihn nicht im selben Sinne geschrieben", bedauert später die unpolitische und ungläubige Autorin selbst. Dennoch: bis zum Schluss wird Némirovskys Werk zum größeren Teil von konservativen Verlagen und Zeitschriften veröffentlicht, die später zu antisemitischen Blättern verkamen.

Für die Biografen: ein wirtschaftlicher Zwang. Die Autorin ist in den 30er-Jahren nicht mehr so erfolgreich. Der Verdienst ihres Mannes reicht nicht, um den Lebensstandard der zweiköpfigen Familie zu halten.

Wie viele ihrer Protagonisten muss auch Némirovsky eine Staatenlose, eine Fremde, bleiben. Die Staatsbürgerschaft wird ihr verwehrt, ihr, die sich als französische Schriftstellerin bezeichnet. 1939 konvertiert sie samt Mann und beiden Töchtern zum Katholizismus.

Olivier Philipponnat: "Es handelt sich auf keinen Fall um eine Leugnung, da sie das Judentum nicht praktizierte. Wahrscheinlich brauchte sie in diesem Moment geistigen Trost. Das Einbürgerungsverfahren ist gescheitert. Die Lage in Europa mit dem Anschluss von 1918 spitzt sich zu. Es war auch ein Weg, sich und ihren vor der ansteigenden Gefahr zu schützen."

Als Irène Némirovsky von französischen Polizisten im Juli 1942 verhaftet wird, schreibt ihr Mann verzweifelt dem deutschen Botschafter: "Obwohl meine Frau jüdischer Rasse ist, spricht sie in ihren Büchern von den Juden ohne Zärtlichkeit." Sie stirbt einen Monat später in Auschwitz, er folgt wenig später.

Erst 2004 erscheint Némirovsky unfertiger Geschichtsroman "Suite Francaise" und wird zum Bestseller - weltweit. Die beiden Töchter, die den Krieg versteckt überlebt hatten, hatten den dicken Ordner wie ein Schatz aufbewahrt.

Denise Epstein: "Lange Zeit haben wir ihn nicht mal aufgemacht. Wir dachten, es sei ein Tagebuch. All das in eine Schublade zu verstauen, war aber auch eine Art, uns zu schützen, um weiterleben zu können. Erst als wir es einem Archiv anvertrauen wollten, dachte ich, ich muss erstmal wissen, was drin steckt."

Olivier Philipponnat: "'Suite Francaise' ist eine der genausten Betrachtungen der Niederträchtigkeit der Franzosen und einzelner Akte von Zivilcourage im Jahr 1940. Was für eine schöne Lehre konnte sie außerdem über Deutsche ziehen, obwohl sie sich bedroht wusste: Es waren unsere Feinde, aber es waren vor allem Menschen."

Den Biographen von Irène Némirovsky gelingt es in ihrem Buch, den einzigartigen Weg dieser großen und zu früh verstorbenen Erzählerin nachzuzeichnen - mit allen Widersprüchen ihrer Identität. Eine späte, aber verdiente Anerkennung.