Was Kinder stark macht

10.03.2009
Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann macht in "Halt mich fest, dann werd ich stark" deutlich, was Kinder brauchen. Liebe und Anerkennung sind für ihn in der Erziehung das Entscheidende.
Wolfgang Bergmann schaudert es bei vielem, was heute über Kindererziehung gedacht wird. Nicht nur, dass es wieder sehr in Mode ist, auf äußere Disziplin zu pochen. Auch das Lernen der Kinder wird zunehmend normiert. Kindergärten sollen darauf achten, dass kognitive Kompetenzen trainiert werden, und festhalten, was jedes Kind erreicht hat.

Bergmann hält dem einen ganz anderen Ansatz entgegen: Eine gute frühe Bindung des Kindes an seine Mutter, dann auch an seinen Vater und an andere wohlwollende Menschen in seiner Umgebung ist die einzig sichere Basis, von der aus ein Kind die Welt erkunden kann. Sie ist auch die beste Basis des Lernens.

Bälle werden gerollt und erforscht, Bauklötze aufgetürmt und umgeworfen, wenn Mutter oder Vater den Kindern die Sicherheit geben, dass sie dies ohne Angst tun können. Gehorsamserziehung im Sinne von Kontrolle und Lenkung hingegen erschüttere das Vertrauen und schädige dadurch die Entwicklung der Intelligenz. Der Titel des Buches "Halt mich fest” meint daher nicht: Setze mir Grenzen oder gar umklammere mich. Sondern gibt mir seelischen Halt, indem du für mich da bist, mich anerkennst und mir Sicherheit gibst, damit ich auf dieser Grundlage in die Welt gehen kann.

Bergmann kennt die moderne Entwicklungspsychologie, das große Gebiet der Bindungsforschung, und er kennt als Kinderpsychotherapeut die Schicksale von Kindern und Jugendlichen, deren Leben aufgrund mangelhafter Bindungen entgleist. Doch das wissenschaftliche Wissen bildet in diesem Buch nur den Hintergrund. Anschaulich und sinnlich nachvollziehbar schildert er die Entwicklung der Babys in den ersten Lebensjahren, und er besitzt eine große Gabe, das seelische Erleben des Kindes in Worte zu fassen.

Gelungene Entwicklung ist für Bergmann die Geschichte einer gelungenen Liebesbeziehung, vor allem der Liebe zwischen Mutter und Kind. Denn im Lächeln der Mutter kommt das Kind in der Welt an, in ihrem traurigen Blick fällt es in die Leere. Babys, so Bergmann, sind darauf angewiesen, dass andere Freude an ihnen haben und dass sie bei anderen Freude auslösen. Nur im Spiegel des anderen entsteht ihr inneres Bild von ihnen selbst. Fehlt ihnen Anerkennung von außen, kann es zur Ablehnung des eigenen Selbst kommen, des eigenen Körpers, Basis für Essstörungen oder Selbstverletzungen bei Jugendlichen später.

Da Mütter die Kinder auf die Welt bringen und stillen, sind sie die erste und wichtigste Bindungsperson. Kommt Bergmann auf die Väter zu sprechen, unterläuft ihm allerdings eine eigenartige Stereotypisierung: Als wären sie tollpatschig, umständlich oder langsamer in der Wahrnehmung ihrer Kinder.

Bergmann schildert die Babys als körperlich-sinnlich lernende Wesen - so kommen sie in der Psychologie meist nicht vor. Wenn zum Beispiel ein Kind mit seiner Mutter am Fenster steht und einen Vogel beobachtet und dann den Flügelschlag mit den eigenen Armen nachzuahmen beginnt, lernt es, was ein Vogel ist. Was ein Ball ist, lernt es anhand verschiedener Spiele mit verschiedenen Bällen mit Mutter oder Vater. Und das wird gelernt, weil es im gemeinsamen Spiel Freude an der eigenen Handlung hatte.

Wie Bergmann diese und andere Entwicklungen schildert, lässt die Kinder vor den Augen des Lesers lebendig werden. Die Liebe, die er als Grundlage der Entwicklung ansieht, schimmert durch seine Schilderungen hindurch. Das Beruhigende daran: Wer diese Liebe hat, hat meist auch die Intuition für eine richtige Erziehung. Er braucht keine Ratgeber.

Daher gibt Bergmann auch keine Ratschläge. Vielmehr versucht er, die Neugier auf die Kinder zu wecken: "So lange wir staunen, machen wir in der Erziehung eh das allermeiste richtig”. Dann motivieren wir auch die Kinder zur Neugier auf die Welt. Nebenbei berichtet Bergmann entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse wie dasjenige, dass Kinder, die im frühen Alter weniger gezielt bestimmte Kompetenzen üben, später kreativer sind als diejenigen, die gezielt üben.

Im zweiten Teil des Buches schildert Wolfgang Bergmann, welche Typen unsicherer Bindung die Bindungsforschung herausgefunden hat und wie sich unsichere Bindung später auswirken kann. Zum Beispiel berichtet er Fallgeschichten von Kindern, die adoptiert wurden und nie das Gefühl gewannen, dass Beziehungen zu Menschen verlässlich sein können oder dass auch die materielle Welt von Dauer sein kann. Allerdings nennt er auch Gegenbeispiele, wo unter guten Bedingungen eine frühe Verletzung eine besondere Feinfühligkeit des Kindes anregen kann.

Bergmann ist ein Anwalt der Kinder, kein Agitator. Doch man kann sein Buch als ein Plädoyer dafür lesen, dass die Gesellschaft in ihrer Familienpolitik endlich einmal in erster Linie an die Kinder denkt, an das, was sie mehr als alles andere brauchen: eine verlässliche, sichere emotionale Bindung zu ihren Eltern.

Vorgestellt von Ulfried Geuter

Wolfgang Bergmann: Halt mich fest, dann werd ich stark. Wie Kinder fühlen und lernen
Pattloch Verlag, München 2008
224 Seiten, 14,95 Euro
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