„Was ist Wahrheit in dieser Welt?“
Von Kindheit an sitzen die Menschen gefesselt in einer Höhle. Von den Gegenständen, die man ihnen zeigt, können sie nur die Schatten wahrnehmen, die das Höhlenfeuer an die Wand wirft. Diese Schatten halten sie zwangsläufig für die Dinge selbst. Mit dem berühmten „Höhlengleichnis“ hat Platon die Schwierigkeit umschrieben, Wahrheit zu erkennen.
Dass auch Künstler vor diesem Problem stehen, veranschaulicht die Ausstellung „Die Schatten der Bildhauer“ im Bremer Gerhard-Marcks-Haus. Dort sind 20 fotografische und 30 bildhauerische Arbeiten des in Braunschweig lehrenden Bildhauers Johannes Brus sehen.
Der eine hockt, der andere kniet. Gespannt, mit kindlicher Neugier betrachten zwei lebensgroße Figuren ihr Werk: eine fußballgroße goldfarbene Kugel. Frisch gegossen, zur Hälfte noch eingebettet in die umhüllende Gießform, deren Bruchstücke auf dem Boden verteilt liegen. „Zwei Bildhauer“ nennt der 64-jährige Johannes Brus seine Gipsskulptur aus dem Jahre 1992.
„Was ist Wirklichkeit, was ist nur Erscheinung in dieser Welt, was ist Wahrheit in dieser Welt?“
Jürgen Fitschen, der Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses.
„Wie sicher sind wir uns der Dinge, die wir in dieser Welt sehen – darauf spielt dieser Titel an, ‚Die Schatten der Bildhauer’, die Schatten der Erscheinung, die die Menschen, die in der Höhle Platons sitzen, eben so vor sich vorbeiziehen sehen.’“
1964 hatte Johannes Brus sein Bildhauerstudium an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf begonnen.
„Dann habe ich in dieser Klasse von Karl Bobek angefangen, Grundlehre, dass man modellieren lernte und Aufgaben gestellt kriegte, und es ging dann auch einige Semester um figürliche Skulptur, und dann kam nach einigen Semestern für mich die Frage auf: Welchen Sinn hat das überhaupt für mich?“
Die Zweifel des Studenten wurden vor allem von einem weiteren Düsseldorfer Hochschullehrer genährt, der das Verständnis von zeitgenössischer Bildhauerei grundlegend umstürzte: Joseph Beuys. Wer hatte Recht – der figurativ-gegenständlich arbeitende Bobek oder Beuys, der Schöpfer des „erweiterten Kunstbegriffs“ und der „sozialen Skulptur“? Johannes Brus war hin und her gerissen und wich auf die künstlerische Fotografie aus – ein damals neues Medium an den Kunsthochschulen.
„Ich wollte etwas ganz anderes machen, und so aus dieser Situation war Fotografie erst mal ein leichtes Medium. Man konnte spielerisch damit umgehen, und das hat mich dann wieder rein gebracht in die Kunst.“
In großformatigen Fotoarbeiten, Collagen vergleichbar, verfolgte Brus fortan seine Themen. Die Serie „Mit Franz Marc bei den Wilden“ etwa ist eine Hommage an die Indianer Nordamerikas. Auf den Bildern tauchen Krieger auf, Federn, Adler und Elstern, Äxte, auch mal ein blau übermaltes Pferd, das Symbol des Malers Franz Marc für Reinheit und Freiheit. Im Entwicklungsbad wurden dann die Bilder bearbeitet: Mutwillig beigebrachte Kleckse, Kratzer, Schrammen, Verwischungen und Überlagerungen erweisen die Fotos als Artefakte.
Der Umweg über die Fotografie und die Erfahrung, dass der Abzug keineswegs zwangsläufig eine dokumentarische Realität wiedergibt, führte Brus Mitte der 70er Jahre zur figürlichen, gegenständlichen Bildhauerei zurück.
„In der Fotografie kamen beispielsweise Motive vor, die ich dann ins Dreidimensionale übertragen hab. ‚Daraus ist das gekommen. War jetzt nicht ne programmatische Entscheidung für die figürliche Skulptur.’ Weil sich das aus meinen Bildvorstellungen, die über die Fotografie formuliert wurden, dann entwickelt hat.“
Johannes Brus überträgt seine Photoexperimente auf die Plastik: das Uneindeutige, Vorläufige, Prozesshafte steht im Vordergrund. Vom Motivkanon des 20. Jahrhunderts, von Kolbe, Lehmbruck und Marcks, hat sich Brus verabschiedet.
„Diese Konzentration auf die einzelne Figur – ‚Der Schreitende’, das ist doch schon wahnsinnig pathetisch als Titel. Oder ‚Die Sitzende’ – das kommt aus der Tradition, das wollte ich nicht mehr haben, das war nicht mein Thema.“
Brus bevorzugt Beton und Gips, wobei der Herstellungsprozess offen liegt: Schorfige Gussnähte, Spuren der Gusskanäle, Unebenheiten, selbst Abdrücke der Hände des Bildhauers sind zu sehen. Spannungsreich stellt Brus’ Tierplastiken und Abgüsse wuchtiger, ausgemusterter Maschinenteile paarweise einander gegenüber: ein abgeschlagener Elefantenkopf korrespondiert da mit einer Presse, ein Nashornschädel mit einer Zentrifuge. Die formale Ähnlichkeit ist verblüffend. Für zwei denkbar unterschiedliche Welten findet Johannes Brus bildmächtige Memento mori – die vom Strukturwandel hinweggefegte Altindustrie und die bedrohte Fauna.
Johannes Brus’ raue, gleichwohl hoch reflektierte Arbeiten, die in Bremen erstmals in einer größeren Überblicksschau gewürdigt werden, lassen beispielhaft erkennen, welche Möglichkeiten in der einst verfemten Figürlichkeit stecken. Hereinspaziert in Platons Höhle!
Service: Die Ausstellung „Die Schatten der Bildhauer“ ist noch bis zum 12. November im Bremer Gerhard-Marcks-Haus zu sehen.
Der eine hockt, der andere kniet. Gespannt, mit kindlicher Neugier betrachten zwei lebensgroße Figuren ihr Werk: eine fußballgroße goldfarbene Kugel. Frisch gegossen, zur Hälfte noch eingebettet in die umhüllende Gießform, deren Bruchstücke auf dem Boden verteilt liegen. „Zwei Bildhauer“ nennt der 64-jährige Johannes Brus seine Gipsskulptur aus dem Jahre 1992.
„Was ist Wirklichkeit, was ist nur Erscheinung in dieser Welt, was ist Wahrheit in dieser Welt?“
Jürgen Fitschen, der Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses.
„Wie sicher sind wir uns der Dinge, die wir in dieser Welt sehen – darauf spielt dieser Titel an, ‚Die Schatten der Bildhauer’, die Schatten der Erscheinung, die die Menschen, die in der Höhle Platons sitzen, eben so vor sich vorbeiziehen sehen.’“
1964 hatte Johannes Brus sein Bildhauerstudium an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf begonnen.
„Dann habe ich in dieser Klasse von Karl Bobek angefangen, Grundlehre, dass man modellieren lernte und Aufgaben gestellt kriegte, und es ging dann auch einige Semester um figürliche Skulptur, und dann kam nach einigen Semestern für mich die Frage auf: Welchen Sinn hat das überhaupt für mich?“
Die Zweifel des Studenten wurden vor allem von einem weiteren Düsseldorfer Hochschullehrer genährt, der das Verständnis von zeitgenössischer Bildhauerei grundlegend umstürzte: Joseph Beuys. Wer hatte Recht – der figurativ-gegenständlich arbeitende Bobek oder Beuys, der Schöpfer des „erweiterten Kunstbegriffs“ und der „sozialen Skulptur“? Johannes Brus war hin und her gerissen und wich auf die künstlerische Fotografie aus – ein damals neues Medium an den Kunsthochschulen.
„Ich wollte etwas ganz anderes machen, und so aus dieser Situation war Fotografie erst mal ein leichtes Medium. Man konnte spielerisch damit umgehen, und das hat mich dann wieder rein gebracht in die Kunst.“
In großformatigen Fotoarbeiten, Collagen vergleichbar, verfolgte Brus fortan seine Themen. Die Serie „Mit Franz Marc bei den Wilden“ etwa ist eine Hommage an die Indianer Nordamerikas. Auf den Bildern tauchen Krieger auf, Federn, Adler und Elstern, Äxte, auch mal ein blau übermaltes Pferd, das Symbol des Malers Franz Marc für Reinheit und Freiheit. Im Entwicklungsbad wurden dann die Bilder bearbeitet: Mutwillig beigebrachte Kleckse, Kratzer, Schrammen, Verwischungen und Überlagerungen erweisen die Fotos als Artefakte.
Der Umweg über die Fotografie und die Erfahrung, dass der Abzug keineswegs zwangsläufig eine dokumentarische Realität wiedergibt, führte Brus Mitte der 70er Jahre zur figürlichen, gegenständlichen Bildhauerei zurück.
„In der Fotografie kamen beispielsweise Motive vor, die ich dann ins Dreidimensionale übertragen hab. ‚Daraus ist das gekommen. War jetzt nicht ne programmatische Entscheidung für die figürliche Skulptur.’ Weil sich das aus meinen Bildvorstellungen, die über die Fotografie formuliert wurden, dann entwickelt hat.“
Johannes Brus überträgt seine Photoexperimente auf die Plastik: das Uneindeutige, Vorläufige, Prozesshafte steht im Vordergrund. Vom Motivkanon des 20. Jahrhunderts, von Kolbe, Lehmbruck und Marcks, hat sich Brus verabschiedet.
„Diese Konzentration auf die einzelne Figur – ‚Der Schreitende’, das ist doch schon wahnsinnig pathetisch als Titel. Oder ‚Die Sitzende’ – das kommt aus der Tradition, das wollte ich nicht mehr haben, das war nicht mein Thema.“
Brus bevorzugt Beton und Gips, wobei der Herstellungsprozess offen liegt: Schorfige Gussnähte, Spuren der Gusskanäle, Unebenheiten, selbst Abdrücke der Hände des Bildhauers sind zu sehen. Spannungsreich stellt Brus’ Tierplastiken und Abgüsse wuchtiger, ausgemusterter Maschinenteile paarweise einander gegenüber: ein abgeschlagener Elefantenkopf korrespondiert da mit einer Presse, ein Nashornschädel mit einer Zentrifuge. Die formale Ähnlichkeit ist verblüffend. Für zwei denkbar unterschiedliche Welten findet Johannes Brus bildmächtige Memento mori – die vom Strukturwandel hinweggefegte Altindustrie und die bedrohte Fauna.
Johannes Brus’ raue, gleichwohl hoch reflektierte Arbeiten, die in Bremen erstmals in einer größeren Überblicksschau gewürdigt werden, lassen beispielhaft erkennen, welche Möglichkeiten in der einst verfemten Figürlichkeit stecken. Hereinspaziert in Platons Höhle!
Service: Die Ausstellung „Die Schatten der Bildhauer“ ist noch bis zum 12. November im Bremer Gerhard-Marcks-Haus zu sehen.