Was ist normal?

"Unsere Vorstellung von Normalität ist ideologisch verzerrt"

38:50 Minuten
Detail der gekreuzten Hände eines Demonstranten mit einer französischen Flagge und einer Flagge der Demonstration mit einer Darstellung einer Normalfamilie mit Vater, Mutter und zwei Kindern.
Normal ist: eine Familie bestehend aus Vater, Mutter und Kindern – zumindest für diesen Demonstranten. Aber: "Normalität verändert sich", sagt die Soziologin Paula-Irene Villa. © Hans Lucas / Xose Bouzas
Paula-Irene Villa Braslavsky im Gespräch mit Christian Rabhansl · 25.07.2021
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Wann wird es endlich wieder normal? Das fragen sich viele während der Coronakrise. Aber was ist eigentlich normal? Woran bemisst sich das? Warum ist uns Normalität so wichtig? Und wie könnte eine neue Normalität nach Corona aussehen?
Wann wird endlich wieder alles so wie früher, wann wird es wieder "normal"? So lautet eine bange Frage, die sich viele Menschen während der Coronapandemie immer wieder gestellt haben und immer noch stellen. Auch wenn Geschäfte, Restaurants, Kinos wieder geöffnet haben, Menschen sich wieder treffen dürfen: Angesichts steigender Infektionszahlen und stagnierender Impfquote ist die Pandemie keineswegs vorbei. Normal im Sinne von: Wie vor der Pandemie, wird unser Zusammenleben wohl auf absehbare Zeit nicht sein.

Was als normal gilt, gilt nicht unbedingt für die Mehrheit

Aber was heißt das überhaupt: normal? Woran bemisst sich für wen Normalität und warum haben wir ein so großes Bedürfnis danach? "Normalität verändert sich, Normalität ist prekär, also auch schnell zerstört; und Normalität hat auch eine Menge mit Ungleichheit und Herrschaft zu tun", sagt die Soziologin und Gender-Forscherin Paula-Irene Villa Braslavsky. Die Frage, was gesellschaftlich als normal gilt, ist für sie soziologischer Alltag.
Normalität sei mit den Methoden der empirischen Sozialforschung durchaus messbar: sowohl, was einzelne Menschen für normal halten, als auch, welche Einstellungen, Praktiken und Lebensmodelle im statistischen Sinne "normal" verteilt sind, was keineswegs übereinstimmen muss: "Das, was als normal gilt, muss gar nicht die Mehrheitserfahrung sein, muss gar nicht das sein, was für viele, alle oder die große Mehrheit gilt."

Auch statistische Normalität ist relativ

Und auch die statistische Feststellung von "Normalitäten" ist abhängig von zahlreichen Vorentscheidungen, etwa davon, wie man einzelne Gruppen oder Attribute definiert, sagt Villa Braslavsky. Sie nennt dafür das Beispiel der Homosexualität, die statistisch meist als Eigenschaft einer Minderheit gesehen wird. Folgt man hingegen der empirischen Sexualforschung, kommt man zu einem komplizierteren Bild, betont die Soziologin. Sie verweist auf den Sexualwissenschaftler Alfred Kinsey, der in den 1950er-Jahren feststellte, dass eine große Zahl erwachsener Männer, die sich selbst als heterosexuell bezeichneten, zugleich wiederkehrende homosexuelle Erfahrungen hatten.
"Empirisch gesehen gehört zur Normalität des erwachsenen, männlichen Heterosexuellen, das hat Kinsey gezeigt, ein wichtiger Anteil gleichgeschlechtlicher Sexualität und Praxis", unterstreicht Villa Braslavsky. Das sei ein Hinweis darauf, dass Kategorien wie Homosexualität keineswegs so eindeutig seien, wie wir glaubten – und ihre statistische Häufung stark davon abhänge, "wie wir untersuchen und wie wir öffentlich darüber sprechen".

Normalität als populistischer Sehnsuchtsort

Dass wir trotz dieser komplizierten Wirklichkeit an einer klaren Bestimmung von Normalität und ihren Grenzen festhalten, liegt laut Villa Braslavsky unter anderem an den stark moralisch aufgeladenen Vorstellungen von Natur, die in modernen Gesellschaften verbreitet sind: "Wir haben die Idee: Von Natur aus gibt es zwei Geschlechter, die sind heterosexuell, sind zur Fortpflanzung so und so gemacht – und das ist wirklich eine Brille, die wir uns gesellschaftlich aufsetzen und durch die wir die Wirklichkeit ideologisch verzerrt wahrnehmen."
Soziologin Paula-Irene Villa
Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München.© privat
Ein Beispiel dafür, wie Normalitätsvorstellungen politisch instrumentalisiert werden können, sieht sie in der Selbstdarstellung populistischer, völkischer, nationalistischer Milieus und Parteien. So zieht etwa die AfD mit dem Slogan "Deutschland. Aber normal" in den Wahlkampf:
"Darin liegt die Behauptung: Wir sind das Volk, die Mehrheit, die einfachen Leute, der gesunde Menschenverstand. Und das wird dann behauptet gegen andere, die nicht normal sind, die anormal sind: die Eliten, die Lobby, die da oben, die Verrückten, die Schrillen, die Minderheiten. Und daraus lässt sich enormes politisches Mobilisierungspotenzial erzeugen."
Die politische Attraktivität von Normalitätsbehauptungen zeige sich aber auch darin, dass viele Parteien beanspruchten, die gesellschaftliche Mitte zu vertreten. Die Vorstellungen, worin diese Mitte und diese gesellschaftliche Normalität bestünden, könnten sehr unterschiedlich ausfallen. So oder so aber gelte, "dass Normalitätsbehauptungen und -begehren immer das politische Problem der Normalisierung mit sich bringen. Egal, in welche Richtung es geht: Es gibt immer einen Konformitätsdruck, einen Imperativ, gleich zu sein." Und wenn die Vielfalt selbst als Normalität gesetzt werde, gelte: "Alle müssen jetzt verschieden sein."

Zur Normalität gehört Verwundbarkeit

Gerade in der Coronakrise habe sich gezeigt, "dass es doch sehr darauf ankommt, wie Normen und Normalitäten begründet werden: Mit wessen Interessen sie einhergehen, wem sie helfen sollen, aus welchen Gründen bestimmte Normen gesetzt werden. Jetzt zum Beispiel: zu Hause bleiben, Masken tragen – und auch, welche Normalität damit angestrebt oder erwartet wird."
Nicht zuletzt seien in der Pandemie zwei unterschiedliche Vorstellungen von "ethischer Normalität" zutage getreten: "Ist es normal, dass wir unsere Freiheiten, unsere individuelle Maximierung von Lust einschränken zugunsten einer Allgemeinheit? Ist das legitim, durchsetzbar, erwartbar? Oder ist es nicht normal?"
Für Villa Braslavsky selbst lässt sich vor allem eine Lehre aus der Coronakrise ziehen: "dass zu unserer Normalität, gesellschaftlich wie individuell, immer eine eigene Verwundbarkeit gehört, eine physische, biologische, wie eine gesellschaftliche Verwundbarkeit. Wir sind darauf angewiesen, dass wir Zugang zu einem guten Gesundheitssystem haben, darauf, dass wir uns wechselseitig schützen, aufeinander aufpassen." Und das gelte nicht nur während einer Pandemie, sondern in allen Situationen.
Für die Zeit nach der Pandemie würde sie sich deshalb wünschen, "dass wir Care, Sorge, Pflege, Kümmern in den Mittelpunkt unserer Politik, Ökonomie und auch unserer individuellen Praxis stellen können und nicht nur Profit und Mehrwert."
Besonders optimistisch ist sie aber nicht – vielmehr hat sie den Eindruck, "dass sich für sehr viele Menschen das 'Zurück zur Normalität' mit einer gewissen Sorglosigkeit verbindet, als ob es keine Krankheiten gäbe, wir nicht aufeinander aufpassen müssten, als ob es keine Pflegekräfte gäbe, die permanent ausgebeutet werden; dass es sich verbindet mit der magisch anmutenden Idee: Es wird wieder alles, wie es nie war."
(ch)

Paula-Irene Villa & Sabine Hark: "Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart"
transcript Verlag, Bielefeld 2017
176 Seiten, 19,99 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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