Was ist echt, was ist wirklich?

Nach über 20 Jahren erscheint in Deutschland endlich wieder ein Roman des französischen Außenseiterautors René Belletto. Sein neues Buch ist ein ebenso waghalsiges wie brillantes Gemisch aus Science Fiction, Thriller und Liebesroman.
Ende der 1980er Jahre erschien bei uns die aufregende und überragend erzählte Lyoner Trilogie von René Belletto, geboren 1945 in Lyon. Dann folgte der mysteriöse Thriller "Zyto", halb Science Fiction, halb Thomas Harris‘ "Schweigen der Lämmer". Freilich hatte Belletto Pech mit seinen Verlagen: Die Trilogie erschien unter hirnrissigen deutschen Titeln in der Rowohlt-Jugendreihe Panther, "Zyto" dann im blassen Argon-Verlag.

Nun also, kaum noch erwartet, ein neuer Belletto. Sein jetziger Verlag Matthes & Seitz glaubt es selbst nicht ganz: Bellettos Porträt in der Vorschau ist mindestens ein Vierteljahrhundert alt. Dabei hat sich seine Prosa (wie vermutlich sein Aussehen) bemerkenswert geändert. Früher zum Beispiel konnte er über zig Seiten hinweg mit romanischer Redseligkeit gekonnt plaudern, ohne dass irgendetwas Erwähnenswertes geschah. In diesem neuen Buch werden wir gleich mit den ersten Sätzen auf das Hauptthema gestoßen. Es geht um Geburt und Tod, es geht in allem, was hier geschieht - und das sind größtenteils haarsträubende Dinge -, um den existenziellen Zweifel, überhaupt da zu sein. "Etrela" - "da sein", heißt sogar eine nicht unwichtige Figur des Romans.

Luis Archer verliebt sich in die 20 Jahre jüngere Clara Nomen, die eines Tages verschwindet. Ihre Familiengeschichte wird erzählt, die Großeltern werden von Straßenräubern ermordet, sie selbst ist Waise, die Mutter stirbt noch im Wochenbett, der Vater ist unbekannt. Die lebenslustige Urgroßmutter, die sich um sie und ihren Bruder Michel kümmert, heiratet noch einmal, und zwar einen unter vielen Pseudonymen publizierenden SF-Autor. Luis Archer selbst ist Musiklehrer auf einer privaten Mädchenschule. Aus heiterem Himmel wird seine Lieblingsschülerin Cathy brutal ermordet. Der Roman ist gespickt mit offenbar sinnlosen Verbrechen.

"Gesetzlos" sind hier freilich nicht nur die diversen Begebenheiten und ihre Täter. Gesetzlos ist der ganze Roman an sich, seine Konstruktion, seine Dramaturgie, seine Gattung: Er ist Liebesgeschichte, Thriller, SF-Roman. Und eine große Untersuchung über Zufall und Schicksal. Belletto selbst hat in einem Gespräch gesagt, welche Motive ihn seit jeher faszinieren: "Angst, Bedrohung, Schuld, Erwartung eines schrecklichen Ereignisses, Identitätszweifel", sehr existenzielle Motive. Beeinflusst ist er auch weniger von klassischen Kriminalautoren, sondern von den Klassikern des 19. und 20. Jahrhunderts, er nennt "Poe, Gogol, Kafka, James, Dostojewski, Dickens, Thomas Mann".

Durch das rastlose, detailsüchtige Schreiben - der "Drang nach ständiger Bewegung, ständigen Ortswechseln", der Luis‘ Freund Maxime auszeichnet, prägt den ganzen Roman - will Luis die "Echtheit der Dinge" erahnen lassen (worauf auch die Übersetzerin in ihrem nach Deutungen suchenden Nachwort hinweist). Durch den ziemlich radikalen "Ortswechsel", der in der Mitte des Buchs stattfindet, scheint dann aber nicht nur die Echtheit, sondern, wie in einem Fantasy-Roman, die Wirklichkeit überhaupt fragwürdig zu werden.

Besprochen von Peter Urban-Halle

René Belletto: Gesetzlos
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer
Matthes & Seitz, Berlin 2013
444 Seiten, 22,90 Euro