Was ist der Kern der Bildung?

Von Tilman Krause |
Bei den Stichwörtern Bildung und Kultur denken viele Zeitgenossen immer noch in erster Linie an Frankreich. Und gerade die Franzosen haben für diese beiden Güter ein sehr schönes Sprichwort. Es lautet: "Kultur und Bildung: das ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat."
Mit anderen Worten: Es bildet gewissermaßen den Fonds eines Menschen, die Grundlage seiner geistig-moralischen Existenz. Und das ist eben der ganz große Unterschied dazu, wie die Dinge heutzutage bei uns Deutschen liegen. Unablässig werden Kultur und Bildung beschworen. Wir haben einen Staatsminister für Kultur. Die Politik veranstaltet Bildungsgipfel und ruft das Bildungsjahr aus, ja manchmal hat man das Gefühl, sie vergötzt die Bildung geradezu zum Mantra, das gegen alle Probleme und Gefahren, die uns drohen, in Anschlag gebracht wird. Und doch hat jeder von uns das Gefühl, es geht mit der Bildung und auch mit der Kultur ganz fürchterlich bergab. Wie kann das sein? Wo doch offenbar die Menschen guten Willens sind, Bildung und Kultur hochhalten und sie, das nicht zuletzt, auch pausenlos im Munde führen. Aber das ist es gerade: Die Tatsache, dass wir unablässig Bildung und Kultur beschwören, ist das sicherste Zeichen dafür, dass wir sie nicht haben. Die Kultursoziologie hat dafür den Begriff "Kompensationsphänomen" gefunden. Solche Phänomene begleiten die Geschichte der Moderne seit dem 19. Jahrhundert. Als sich im späten 19. Jahrhundert eine machtvolle religiöse Erneuerung vollzog, war dies das sicherste Zeichen dafür, dass sich das Christentum auf dem Rückzug befand. Und als sich um die Mitte des 19. Jahrhundert der literarische Realismus etablierte, konnte man daran ablesen, dass mehr und mehr Menschen ein Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abhanden kam. Nun also Bildung und Kultur: Es geht rasend bergab mit ihnen, deshalb redet jeder davon. Das wäre also die Diagnose. Aber gibt es auch eine Therapie?

Eines kann man jedenfalls mit Sicherheit sagen: Schaden tut der ganze Bohei nicht. Wenn wir jetzt seit zehn Jahren einen Staatsminister für Kultur haben, ist das nicht verkehrt, auch wenn es das allgemeine Kulturniveau unserer Gesellschaft mitnichten gehoben hat. Wenn die Bundeskanzlerin sich für die Bildung stark macht, kann damit gleichfalls kein Unheil angerichtet werden. Sichtbare Früchte trägt ihre Initiative allerdings nicht. Aber es ist schon mal nicht schlecht, dass auch die Politik sich, unabhängig von parteilicher Zugehörigkeit, dazu bekennt, dass man Kultur und Bildung schützen muss. Doch wie kann man sie nun wirklich befördern?

Von außen gar nicht. Je mehr das Reden von Kultur und Bildung Teil des großen medialen Rauschens wird, das uns alle umfängt, desto sicherer verflüchtigen sie sich. Nur der Einzelne kann ganz in Ruhe und ganz für sich die Grundlage für Kultur und Bildung legen. Beginnen muss das früh. Wenn Kultur und Bildung wirklich das sein sollen, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, dann sind sie etwas, für das man in der Kindheit empfänglich gemacht werden muss. Das einem vorgelebt werden muss, von den Erwachsenen. Kultur und Bildung haben viel mit Selbstverständlichkeit zu tun, mit fraglosen Übereinkünften, die sich so sehr von selbst verstehen, dass man nicht dauernd darüber reden muss. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Eltern und großen Geschwister zum Buch greifen und uns zeigen, wie sie sich lesend wohlfühlen, entspannen, angeregt sind und von dieser Anregung erzählen: das ist es, was uns selbst zum Lesen erzieht und uns beim Lesen bleiben lässt, solange wir leben. Entscheidend ist wie bei allen wichtigen Dingen der menschlichen Existenz die Kontinuität. Das aufgeregte Hin und Her, das sporadische Aufhorchen und "Hineinschnuppern", die Bezugnahme auf dieses oder jenes einmalige Event: all das ist zutiefst kultur- und bildungsfeindlich. Natürlich gibt es auch auf dem Feld von Bildung und Kultur das herausragende Ereignis, auf das man sich freut und das man als etwas Besonderes genießt. Aber entscheidend ist doch vor allem, dass wir etwas regelmäßig tun. Für Kultur und Bildung gilt, was noch jede Diätik für die körperliche Gesundheit empfiehlt, von den alten Griechen bis heute: Sie muss Teil der Sorge um uns selbst werden. Jeder Mensch, der achtsam mit sich und seinen Ressourcen umgeht, wird selber wissen, woran es bei ihm hapert und was er kulturell und bildungsmäßig auszubauen hat. Je mehr er dabei das mediale Rauschen ausblendet, um in sich selbst hineinzuhorchen, desto förderlicher wird das seiner Bildung und Kultur sein. Nach innen geht der Weg. Nur wer in sich selbst zu Hause ist, kann sich dann auch gefahrlos der Flut von Reizen wieder aussetzen, denn er wird wissen, welche davon für ihn ganz persönlich bekömmlich sind – und welche nicht.

Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dort 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten ‚Literaturpapst’ der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die FAZ (1990-1994) und den Tagesspiegel (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der WELT.