Was ist bloß mit den Kirchen los?

Von Uwe Bork |
Ausgerechnet die Kirchen. Ausgerechnet diese erklärten Sachwalter Gottes auf Erden geben im Moment ein Bild ab, als seien sie von sämtlichen guten Geistern verlassen worden. Wie anders könnte es sonst zu erklären sein, dass Deutschlands Katholiken wie Protestanten namentlich in den letzten Wochen von Skandalen förmlich verfolgt zu sein schienen.
Nicht nur, dass sich vor allem Priester und Patres dem Vorwurf ausgesetzt sahen, kindlichen Schützlingen sexuell Gewalt angetan zu haben, auch sonst musste kirchliches Personal selbst hoher und höchster Ränge sich und anderen mehrfach eingestehen, den erwarteten – und erwartbaren – hohen moralischen Standards nicht gerecht geworden zu sein. Sei es etwa, weil eine Bischöfin ausgerechnet in der Fastenzeit unter Alkoholeinfluss den Straßenverkehr gefährdete oder weil sich eine zum Diakonischen Werk der evangelischen Kirche gehörende Hilfsorganisation eine italienische Luxuslimousine als Dienstwagen gönnte. Und mit dem zu allem Überfluss auch noch durch eine Radarfalle bretterte.

Manchen wird es vielleicht überraschen, aber theologisch schafft das alles keinerlei Probleme. Da mag Robert Zollitsch, Freiburger Erzbischof und Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, die Taten pädophiler Seelsorger unmissverständlich verurteilen, als guter Christ muss er gleichzeitig davon ausgehen, dass selbst die von ihm eben noch verurteilten Sünder für ihre auf Erden nicht mehr wiedergutzumachenden Verbrechen auf göttliche Vergebung hoffen können. Umkehr und Reue natürlich vorausgesetzt.

Von vergleichsweise banalen Verkehrssünden oder der fatalen Vorliebe für viele Pferdestärken braucht man da erst gar nicht zu reden: Sie sind eher ein Fall für die irdische Gerichtsbarkeit als für das Jüngste Gericht.

Und dennoch: Den Kirchen in Deutschland ist durch das Fehlverhalten ihres Personals ein Schaden entstanden, dessen Größe sich kaum abschätzen lässt.

Am kleinsten dürfte er noch bei denjenigen ausgefallen sein, die in naiver oder böswilliger Einfalt seit je meinten, bei den Männern und Frauen der Kirchen handele es sich bestenfalls um heimtückische Heuchler und im schlimmsten Fall um die sattsam bekannten Opiumdealer der irregeleiteten Völker. In diesem Milieu ist das Weltbild intakt geblieben: Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden.

Nicht vom Kurs abweichen müssen auch jene Meinungsbildner, die mit dem Fleiß des Verräters nur deshalb an so hohen Podesten für Vorbilder jeglicher Art mauern, weil sich aus ihren Höhen zum Wohle von Auflage oder Quote so spektakulär stürzen lässt. Wer fällt oder fallengelassen wird, ist ihnen egal, solange der Fall nur genügend medialen Staub aufwirbelt.

Margot Käßmann hat das schmerzhaft zu spüren bekommen. Sie war aus den unterschiedlichsten Gründen fast zu einer fehlerfreien Heroine des Glaubens emporstilisiert worden, bei der – kirchendeutsch gesprochen – sündhafte Menschlichkeit kaum noch zu auszumachen war. Umso imposanter dann der plötzliche Sturz. Normale Menschen mögen stolpern, Helden fallen tief.

Margot Käßmann ist trotz ihres tiefen Falles dennoch sich selbst und ihren eigenen Maßstäben treu geblieben. Insofern hat sie zwar jetzt sicher alles Übermenschliche verloren, einiges an Menschlichkeit dafür aber ebenso sicher gewonnen.

Richtig schlimm sieht es bei dieser kurzen Schadensaufnahme – außer natürlich für die tatsächlichen Opfer der Verbrecher in kirchlichen Diensten – somit nur für diejenigen aus, die aus tiefer Überzeugung auf die Kirchen setzten und von ihnen Orientierung in einer Wirklichkeit ohne wirkliche Wegweiser erwarteten. Ihnen droht diese Orientierung nun abhandenzukommen. Auch sie haben ihre religiösen Autoritäten ja auf hohe Sockel gestellt, die einen Dialog auf Augenhöhe längst nicht mehr zuließen.

Vielleicht müssen diese eher traditionell Frommen etwas lernen, was die katholischen Bischöfe eine „Kultur des aufmerksamen Hinschauens“ genannt haben. Mündige Christen begleiten danach ihre Seelsorger – nein, nicht mit Misstrauen, aber mit solidarischer Aufmerksamkeit. Sie gehen davon aus, dass ein kirchliches Amt seinen Träger nicht automatisch zu einem besseren Menschen macht. Und zu einem unfehlbaren schon gleich gar nicht: Diese Eigenschaft beansprucht ja selbst der Papst nur in wenigen Glaubensfragen für sich.

Ausgerechnet die Kirchen von allen guten Geistern verlassen? Mag sein, aber vielleicht setzen diese guten Geister auch nur auf gute Menschen. Denn die brauchen beide Kirchen im Moment ganz besonders dringend. Die leeren Sockel muss man dann gar nicht neu besetzen ...


Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion „Religion, Kirche und Gesellschaft“ des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.